Übrigens: Wenn ich dann über Dürwaldstetten hinaus das war mein Schulort am Polizeiposten von Friedingen vorbei nach dem anfänglich katholischen dann zum entlegenen evangelischen Religionsunterricht stapfen musste, grüßte ich nebst dem Polizeibeamten unbewusst zugleich den österreichischen Doppeladler, der damals als Erinnerung an die vormals vorderösterreichische Exklave immer noch über seiner Tür hing. Später dann um die Sache abzurunden die gesamte Gymnasial- und Internatszeit in den Schlössern und unter der Schirmherrschaft des Markgrafen Berthold von Baden. Dort auch die Konfirmation, allerdings durch einen Pfarrer der Badischen Landeskirche lieber Bischof Maier, ich bitte um Nachsicht der Union von 1821.
Dieser in den geschichtlichen Fragen des Landes zu einer gewissen Un- oder Überparteilichkeit anregende Bildungsprozess, soweit er in diesem Lande verlief, wurde dann noch abgerundet durch den Führerschein im Landkreis Calw und den Kaufmannsgehilfenbrief von der Industrieund Handelskammer Rottweil bevor es mich endgültig ins Exil verschlug, aus dem ich heute als Ihr Gast zu Ihnen sprechen darf.
Dies sind alles natürlich nur völlig subjektive, kleine, unbedeutende persönliche Reminiszenzen. Sie lassen aber gleichwohl wie in einem ganz ordinären Glassplitter die Spektralfarben eines historischen Problems aufblitzen. Darüber hinaus werden Sie von mir keinen exakten historischen Rückblick erwarten, zumal es mir damit immer wieder so geht wie dem britischen Lord Palmerston mit der nicht weniger komplizierten Schleswig-Holstein-Frage: Drei Leute, sagte Palmerston, hätten das Problem verstanden. Aber einer davon sei inzwischen gestorben, der andere darüber verrückt geworden, und er, der Dritte, habe alles wieder vergessen.
Ich kann Ihnen also allenfalls ein sehr subjektiv gefärbtes Resümee zur Landesgeschichte bieten, dann aber vor allem einen kleinen Ausblick auf die Zukunft der Länder in Ihrem Jubiläumsjahr und, wie gesagt, am Beginn einer neuen europäischen Anstrengung. Alle diese eher rhapsodischen Anmerkungen sollen unter dem Titel Zwischen Geschichte und Reißbrett stehen.
Zwischen Geschichte und Reißbrett, meine Damen und Herren: Das gilt ja schon für die Vorgeschichte der beiden Länder Württemberg und Baden, die vor 50 Jahren vereinigt wurden. Das Land ist, wie überall, voller Geschichte. Aber die Geschichte der beiden Länder als Staaten ist ja, zumindest aus der longue durée betrachtet, eher von kurzer
Dauer gewesen. Mit Napoleon fing alles erst richtig an. Und selbst die Sonderexistenz der beiden Hohenzollern Sigmaringen und Hechingen verdankt sich einer dynastischen Nebenliaison zu dem Korsen. Und so, wie diese beiden Staaten damals an einem französischen Reißbrett konzipiert wurden, kann man die Voraussetzungen des Südweststaates nach dem Zweiten Weltkrieg kaum verstehen ohne einen erneuten Rückblick auf französische, aber auch auf amerikanische Reißbretter. Dem deutschen Südweststaat geht es darin kaum anders als der gesamten deutschen Nation. Wer wollte da von organischem Wachstum sprechen, wo sich doch so vieles den gewaltsamen Ein- und Übergriffen verdankt, einmal im 19. Jahrhundert auf deutsches Gebiet, ein anderes Mal im 20. Jahrhundert von Deutschland ausgehend auf Europa? Am einen Ende der historischen Strecke der Vorgeschichte Baden-Württembergs stand Napoleons Aufbruch zum Imperialismus, am anderen Ende der Vorgeschichte der Zusammenbruch des Imperialismus eines Adolf Hitler.
Die Geschichte, so heißt es, wird immer von Siegern geschrieben. Das Eigentümliche an der Geschichte BadenWürttembergs ist aber das Paradox, dass sie schließlich von den Verlierern geschrieben und zu einem Ende gebracht wurde, in dem die Gegensätze um mit unserem Landsmann Hegel zu sprechen aufgehoben sind.
Auch darin gleicht die Geschichte dieses Landes nun wiederum der Geschichte der ganzen Nation: Der deutsche Nationalstaat entstand aus siegreichen Kriegen. Aber zu seiner geschichtlichen und nun doch wohl dauerhaften Ruhe kam er erst in der Folge einer selbst verschuldeten epochalen Niederlage, ja einer Katastrophe historischen Ausmaßes. Und so ist das Resultat im Land wie im Bund eine eigentümliche Mischung aus historischem Herkommen und willkürlicher Reißbrettarbeit, um nicht zu sagen Abrissarbeit von Krieg und Frieden, aus Kontinuität und Bruch, aus der Heimatverbundenheit der Menschen und der Rationalität der Staatsbildung in einem: aus Tradition und Moderne.
Welche Kraft aber siegt im Zweifel: Geschichte oder Reißbrett? Im Südwesten das Reißbrett. Aber solche Siege sind, wie das historische Beispiel zeigt, offenbar nicht einfach zu erringen. Und mitunter musste man corriger la fortune! etwas nachhelfen, um die Geschichte zu überspielen. An einer Stelle und in einer Nacht musste man in diesem Prozess sogar ein noch gar nicht recht installiertes Bundesverfassungsgericht holterdiepolter personell besetzen, um den Casus über die nächste Schwelle zu bringen und zu retten.
Ich möchte nun, meine Damen und Herren, wahrlich keine historischen Wunden aufreißen, aber ich denke doch zugleich, dass ich aus der vorhin geschilderten herangewachsenen Überparteilichkeit in den ethnischen Fragen des Landes sagen darf, dass man 50 Jahre danach doch endlich zugeben kann: Bei der Auszählungsregelung für die Volksabstimmung am 9. Dezember 1951 ist das Volk der Badener insgesamt doch ein wenig wie heißt das? ausgebremst worden. Das Reißbrett siegte halt über die Geschichte. Und dass es schließlich bis zum 7. Juni 1970 dauerte, bis diese Wunde in einer letzten Volksabstimmung geheilt werden konnte, war gewiss kein Ruhmesblatt in der Geschichte der plebiszitären Demokratie. Hatte doch der damalige Minis
terpräsident Hans Karl Filbinger unmittelbar vor der Abstimmung von 1970 sogar noch gedroht, er werde, falls diese falsch ausgehe, zehn Jahre lang die Gerichte mit Prozessen beschäftigen! Als mildernden Umstand wollen wir freilich die Tatsache gelten lassen, dass er selber Badener war und ist.
Vielleicht hatte sein württembergischer Vorgänger Kurt Georg Kiesinger dann doch die Weisheit auf seiner Seite gehabt freilich auch nur nachträglich , als er seinerzeit, nach der ersten Volksabstimmung, meinte, vielleicht hätte man die Badener doch zusammen abstimmen und auszählen lassen sollen; dann wären die Emotionen im Volksabstimmungskampf nicht so sehr aufgewühlt worden, und möglicherweise wäre doch eine eigene badische Mehrheit für den Südweststaat zusammengekommen. Aber wie das so ist, meine Damen und Herren: Großmut kommt eben nach dem Fall.
Wie dem auch sei: Die Gründung des Südweststaats ist das bisher einzige gelungene Beispiel einer Länderneugliederung. Sie wurde ermöglicht durch die Umwälzungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht einmal die Umwälzung der Wiedervereinigung hat es bisher möglich gemacht, wenigstens die Länder Berlin und Brandenburg zusammenzuführen, obwohl dies ja gar keine richtige Neugliederung, sondern wirklich eine Wiedervereinigung wäre und obwohl auch für diesen Fall im Einigungsvertrag ähnlich wie im Falle des Südweststaates in Artikel 118 des Grundgesetzes eine die Prozedur erleichternde Ausnahmeregelung von Artikel 29 getroffen worden ist.
Übrigens: Das irgendwann dann vielleicht doch um die Bundeshauptstadt entstehende Bundesland wäre dann wirklich nicht Preußen zu nennen, denn einem solchen wiedervereinigten Brandenburg gehörte ja genau das Territorium, von dem der Namen Preußen übernommen worden war, gewiss nicht an. Und dass dann etwa ein solches so genanntes Preußen jemals Ansprüche auf seine vormaligen Gebiete im Südwesten erheben würde, wollen wir ja nun wirklich nicht hoffen.
Wir sehen also: Ohne vorausgegangene geschichtliche Umwälzung kommt in Deutschland eine Neugliederung der Länder offenbar nicht zustande, und manchmal nicht einmal danach. Das Reißbrett alleine tut es offenbar auch nicht.
Die dicken Folianten, in denen die vielen Studien und Vorschläge zu einer Neugliederung seit Jahren vor sich hin verstauben, möchte ich jetzt nicht vor Ihnen aufblättern, übrigens auch nicht die Leitartikel, die wir Journalisten darüber geschrieben haben, meistens in den sommerlichen, an Themen armen Wochen. Dabei war übrigens der Begriff Länderneugliederung eigentlich immer falsch gewesen; denn nach dem Artikel 29 des Grundgesetzes ginge es ja um eine Neugliederung des Bundesgebiets.
Fragen wir uns also, ob Baden-Württemberg nicht nur, was ganz außer Zweifel steht, ein einzigartiges Musterland ist, sondern auch ein einzigartiger Musterfall für die Neugliederung des Bundesgebiets, freilich sozusagen ein Muster ohne weiter reichenden Wert, da wir ja geschichtliche Ka
tastrophen wie zwischen 1933 und 1945 und historische Umwälzungen wie nach 1989 hoffentlich nicht mehr zu gewärtigen haben.
Lassen Sie mich aber, bevor ich in die Zukunft und auf die künftige Rolle der Länder blicke, noch einige ganz kurze, gewiss willkürlich ausgewählte Anmerkungen zu Ihrem Land machen, zu Baden-Württemberg in seinem bezeichnenden Amalgam aus Brüchen und Kontinuität, aus Tradition und Moderne. Diese Vieldeutigkeit und Vielseitigkeit setzt sich ja fort bis in die politische Kultur hierzulande, soweit sie sich dem Auswärtigen richtig mitteilt. Schon das süddeutsche Kommunalwahlrecht, vor allem die Direktwahl der Bürgermeister, sichert einerseits eine traditionelle Bodenständigkeit und wirkt doch gerade darin in der großförmigen Massen- und Parteiendemokratie ausgesprochen modern. Und es ist ja auch nach und nach in anderen Bundesländern zum Vorbild geworden. Während wir überall über die Dominanz der abgehobenen Parteipolitik klagen, wirkt das berühmte Panaschieren und Kumulieren der Entpersonalisierung, jedenfalls der Kommunalpolitik, ein gutes Stück weit entgegen. Das muss man zwar dem Rest der Republik jedes Mal neu erklären wie jetzt nach der bayerischen Kommunalwahl, aber auch diese Ausdrucksmöglichkeiten des Wählers könnten unter dem Stichwort Bodenhaftung der Demokratie ein Muster von großem Wert sein.
Meine Damen und Herren, Sie werden es mir aber nachsehen, wenn ich ein Gleiches vom hiesigen Landeswahlrecht nicht so ohne Weiteres sagen kann.
Vielleicht habe ich es auch noch nicht richtig verstanden; aber ob ich den Modus der Zweitauszählung der Stimmen als gerecht und transparent bezeichnen kann, möchte ich, jedenfalls bis auf weitere Belehrungen, noch bezweifeln. Ob da nicht das Reißbrett beim Entwurf doch ein wenig gewackelt hat?
Jedenfalls siedelt die politische Kultur dieses Landes, wie mir scheint, noch eher als die im Norden der Republik in der Nähe der responsive democracy, also einer reaktiven, auf Strömungen reagierenden Demokratie mit Bodenhaftung und Flexibilität, mit Tradition und Moderne zugleich. Vielleicht hatte ja diese Reaktivität über lange Jahre auch mit der noch nicht gefestigten politischen Landmasse im Südwesten zu tun; aber vielleicht droht dieselbe ja auch sich zu festigen, zu verfestigen, zu erstarren, wie so manches vormals Vulkanische im deutschen Südwesten.
Dieses Reagieren auf Veränderungen im politischen Grundwasser hat und nun mache ich, meine Damen und Herren, eine sehr riskante Bemerkung, die Sie bitte nicht missverstehen wollen übrigens auch zu dem paradoxen Ergebnis geführt, dass es der baden-württembergische Landtag war, in dem zwei neu entstandene, freilich völlig gegensätzliche politische Strömungen der Bundesrepublik früher als anderswo, wenn überhaupt, mit Abgeordneten in Erscheinung getreten sind, sowohl bedauerlicherweise die NPD und später die Republikaner als auch aufs Ganze gesehen doch bereichernd die Grünen. Es spricht für die Reife der Bürger dieses Landes, dass die reaktionären Kräfte wieder hinausgewählt worden sind, ohne dass es da
zu eines besonders umständlichen Parteienverbots bedurft hätte. Und was nun im Gegensatz dazu speziell die badenwürttembergischen Grünen betrifft, so sind sie doch selbst ein Amalgam aus Tradition und Moderne wie das Land im Ganzen.
Der Landtag, der ja im ersten vollständigen Neubau eines Parlaments in der deutschen Nachkriegszeit tagt einem Gehäuse von, wie ich trotz Ihrer Ermüdung in der Intimität der Räume finde, immer noch wohltuender Modernität; das erste Mal übrigens betrat ich dieses Gebäude als Jüngling beim Trauerdefilee für den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, und übermorgen wird ja die Gedenkstätte in seinem vormaligen Wohnhaus eröffnet , habe sich, so schrieb es Theodor Eschenburg einst, rechtlich in der Verfassung eine stärkere Position geschaffen, als sie die Parlamente in einer Reihe von anderen deutschen Ländern haben. Er hat auch in der politischen Wirklichkeit diese Stellung behauptet. Ich frage mich, ob das früher noch etwas wahrer war, früher, als hierzulande Viel- oder Allparteienregierungen oder große Koalitionen gebildet wurden ganz, als ob diese grabenübergreifenden Regierungsbildungen damals, neben der reinen Arithmetik der Stimmen, auch der Notwendigkeit der Integration des jungen, von seiner Gründung her noch aufgewühlten Landes geschuldet gewesen wären. Ob unterdessen die Normalisierung hin zu klaren parlamentarischen Frontenbildungen an dieser Selbstbehauptung des Landtags gegenüber der Regierung nicht doch etwas verändert hat, das können Sie alle viel besser beurteilen als ich, ein nur wieder einmal hereingeschmecktes Landeskind.
Genug des Rückblicks! Zum Ausblick also: Wie steht es um die Zukunft der Länder und die Zukunft des Föderalismus? Und dies, wie gesagt, in einem historischen Augenblick, in dem sich ein europäischer Verfassungskonvent an das Reißbrett für ein zukünftiges Europa setzt, ein Reißbrett, an dem ja in der Person des Herrn Ministerpräsidenten auch ein Vertreter Ihres Landes Platz genommen hat für alle Bundesländer.
Theodor Eschenburg hatte schon sehr früh ein, wie er sagte, Schwinden der politischen Substanz der Länder diagnostiziert, das so fährt er fort gleich nach Errichtung der Bundesrepublik einsetzte. Für die Frühgeschichte der zweiten Republik konnte dies schon deshalb gelten, weil ja die Wiedergründung der deutschen Länder, mit der Ausnahme Baden-Württembergs, der Gründung der westdeutschen Bundesrepublik vorausgegangen war und weil sich das vermeintliche Provisorium dann sehr schnell als tatkräftiger und haltbarer erwies, als es erwartet oder zugegeben worden war. Aber wie wäre es nun mit der politischen Substanz der Länder für den Fall bestellt, dass sich über diese Bundesrepublik und über alle anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union tatsächlich einmal ein zumindest quasi-staatlich verfasstes Dach schöbe?
Auf diese Frage lautet die Antwort sehr oft sie kommt mir vor wie das Pfeifen eines Kindes im Walde : Dann würden die Länder umso wichtiger; eher würden die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren als die Regionen und die Länder. Offen gestanden: Bevor ich das glaubte, müsste unser deutscher Föderalismus gründlichst reformiert werden.
Aber ist eine solche substanzielle Reform überhaupt möglich? Hat nicht die Geschichte endgültig über das Reißbrett gesiegt? Wir haben ja gesehen, dass die gegenwärtige Gliederung des Bundesgebiets, wie man es in diesem Fall nicht nur umgangssprachlich, sondern wörtlich zutreffend sagt, bombenfest steht, und wir haben gesehen, dass höchstens historische Umwälzungen daran etwas ändern können, siehe Baden-Württemberg oder auch nicht, siehe Berlin und Brandenburg: jedenfalls vorerst nicht.
Für Änderungen auf diesem Gebiet bedarf es also offenbar, wie die Ökonomen sagen, eines externen Schocks. Von der Geschichte zum Reißbrett! Aber woher sollten solche Schocks noch kommen, zumal da wir sie doch gar nicht wollen? Oder das ist nun die entscheidende Frage hätten wir die Kraft, aufgrund sozusagen interner, selbst gewählter Schocks, aufgrund eigener Einsichten und selbst bestimmter Herausforderungen politisch zu handeln, also vom Reißbrett zur Geschichte hin? Ich möchte hier dem Missverständnis wehren, dass Reform des Föderalismus in erster Linie oder überhaupt nur mit Länderneugliederung zu tun habe. Ich halte im Gegenteil sogar dafür, dass eine Neugliederung keinesfalls der Anfang, sondern allenfalls eine Folge einer echten Reform wäre. Wie hätte die auszusehen? Ich möchte Ihnen dazu einige Überlegungen vortragen, von denen Sie als Praktiker sofort sagen werden und zu Recht sagen können, sie seien völlig utopisch, typisch Reißbrett ohne Geschichte. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir eine solche wegweisende Planskizze brauchen, wenn der deutsche Föderalismus am Ende nicht so versteinern soll wie der Vulkan am Hohentwiel.
Die deutschen Länder haben das ist nicht zu bestreiten an originären Funktionen verloren oder an politischer Substanz, wie Eschenburg es sagte, und zwar an Ort und Stelle, also eigentlich auf ihrem ureigenen Boden. Sie haben sich dafür mit einer immer stärkeren Einschaltung in die Politik des Bundes entschädigt, sehr zu ihrem eigenen Schaden, wie ich finde. Je mehr übrigens die Landesregierungen und in Wirklichkeit, bei aller Verehrung, oft doch nur die Ministerpräsidenten in der Bundespolitik mitmischen, desto stärker verlieren die Landtage an eigener Bedeutung. Es hat also längst eine Verschiebung von einem originären Föderalismus hin zu einem Föderalzentralismus stattgefunden und eine Verschiebung von der Länderlegislative zu Länderexekutiven.
Natürlich spielt dabei die zentralstaatlich organisierte Parteipolitik eine große und fast schon absurde Rolle. Wir brauchen ja in diesen Tagen gar nicht lange in den Zeitungen nachzulesen, bis wir auf Beispiele stoßen. Inzwischen hat sich nämlich der Bundesrat durch eine Vielzahl der Über-Kreuz-Koalitionen in den 16 Landesregierungen und durch die vielen, vielen Bundesratsklauseln in den Koalitionsvereinbarungen weithin selber neutralisiert. Im Bundesrat geht es fast gar nicht mehr darum, ob irgendeine Mehrheit zustande kommt, sondern darum, wie groß die kleinste Minderheit ist, denn der Rest muss ja schweigen. Das kann man doch nicht ernst nehmen.
Das ist aber nur der trivialste Teil des Prozesses, den Fritz W. Scharpf schon lange auf den Begriff der Politikverflechtung gebracht hat. Diese Politikverflechtung hat über ungezählte einzelne, wieder einmal ökonomisch ausge
drückt, kurzfristig vorteilhafte Trade-offs Beispiel: Gemeinschaftsaufgaben dazu geführt, dass das ganze System zum Nachteil aller und des Ganzen unüberschaubar geworden ist. Politische Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind eben nicht mehr eindeutig konturiert, und selbst Wahlen in Bundesländern dienen eigentlich nicht mehr unbedingt dem Schicksal des Bundeslandes. Wenn ich einmal als Student länger im Saarland geblieben wäre oder in Niedersachsen gewohnt hätte, hätte es mich schon frustriert, dass ich bei einem Wahlgang nicht über die Landespolitik in diesen beiden Ländern entscheide, sondern darüber, wer von den beiden Häuptlingen Kanzlerkandidat wird. Das ist eigentlich nicht mehr sehr sinnvoll. Um es ganz unverblümt auszudrücken: Wir brauchen eine Rückkehr zu der Lebensregel Wer zahlt, schafft an!, und die ist allerdings sofort zu ergänzen durch eine zweite: Wer anschafft, zahlt aber auch!
Vonnöten wäre also eine gründliche Entflechtung des Zusammen- und Ineinanderwirkens von Bund und Ländern, in die dann natürlich auch die kommunale Ebene einzubeziehen wäre.
Übrigens wo sitzt Frau Schavan? : Da wir uns auf einer Festversammlung befinden, unterdrücke ich alle Anmerkungen zu jenem kryptokonstitutionellen Kryptozentralismus des kleinsten gemeinsamen Nenners, der sich im System der Kultusministerkonferenz etabliert hat.
Wer nun allerdings für eine solche Entflechtung zugunsten der originären Kraft und Zuständigkeit der jeweiligen Gebietskörperschaft plädiert, der muss sich Rechenschaft ablegen über den eigentlichen Sinn des Föderalismus und muss ihn gegebenenfalls modern interpretieren, und das heißt eben, ganz ursprünglich.
Die Gliederung des Bundes in Länder, so sagt es das Grundgesetz, soll zunächst die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge zur Geltung bringen und also der regionalen Geschichte den Vorzug geben vor dem zentralstaatlichen Reißbrett. So weit versteht sich die Sache von selbst. Sodann aber dient der föderative Staatsaufbau der Teilung und Kontrolle staatlicher Macht, und auch das ist uns längst selbstverständlich geworden.
Was aber ist nun mit den übrigen Kriterien der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit, des sozialen Gefüges und der ominösen Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse? Hier, meine Damen und Herren, wäre nun deutlicher zu unterscheiden zwischen dem Weg und dem Ziel. Und hier wäre das eigentlich moderne Funktionsprinzip des Föderalismus neu zu entdecken.
Der Föderalismus dient eben nicht nur der Bändigung und Kontrolle der Macht, sondern zugleich auch recht verstanden der Stimulierung und, wenn man das so sagen darf, der Enthemmung von Politik, und zwar durch den Wettbewerb um die jeweils bessere Lösung. Der Föderalismus ist unter modernen, unter Reißbrettgesichtspunkten nur in genau dem Maße gerechtfertigt, wie er diesen Wettbewerb freisetzt, statt ihn zu behindern. Ein wettbewerbs
hemmender Föderalismus bringt sich selber und das ganze Land nach und nach um Lebenskraft und politische Kreativität.