Protocol of the Session on March 6, 2002

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Durch die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung am 9. März 1952 haben die Bürgerinnen und Bürger der Nachkriegsländer Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern dem noch namenlosen Südweststaat das demokratische Herz eingepflanzt. Und sie haben der Politik den Auftrag erteilt, die Arbeit an der gemeinsamen Zukunft zum Verbindenden zwischen den Landesteilen zu machen. Unsere Legitimation als Landtag von Baden-Württemberg und unsere fortwährende Aufgabe fußen also auf dieser Wahl am 9. März 1952. Das soll die heutige Festsitzung ins Bewusstsein rufen. Deshalb ist es ein wichtiges Signal, dass das hohe Haus heute Vormittag auch auf der Empore ein volles Haus ist, in dem sich ein hochkarätiges Auditorium eingefunden hat.

Ich heiße Sie alle, meine Damen und Herren, auf das Herzlichste im Landtag von Baden-Württemberg willkommen und bitte zugleich um Verständnis, dass ich nur wenige ausdrücklich begrüßen kann.

Obwohl es protokollarisch nicht ganz richtig ist, möchte ich beginnen bei Frau Dr. Emmy Diemer-Nicolaus. Sie verkörpert, was wir heute feiern. Denn sie hat von 1950 bis 1957 als Abgeordnete im Landtag von Württemberg-Baden, in der Verfassunggebenden Landesversammlung und im Landtag von Baden-Württemberg an den politischen und gesellschaftlichen Fundamenten unseres Gemeinwesens persönlich mitgebaut. Ich freue mich sehr, dass Frau Diemer-Nicolaus unsere Feierstunde durch ihre Anwesenheit bereichert.

(Lebhafter Beifall)

Nicht weniger freue ich mich, dass Frau Magda Maier, die Tochter des ersten baden-württembergischen Ministerpräsidenten Reinhold Maier, zu unseren Gästen zählt.

Den größeren geschichtlichen Zusammenhang den Wechsel der Staatsformen und die Identitätsstränge, die

unabhängig davon erhalten und spürbar bleiben repräsentiert Friedrich Herzog von Württemberg, dem mein herzlicher Willkommensgruß gilt.

Ausdrücklich begrüßen möchte ich weiter meine Amtsvorgänger Dr. Lothar Gaa, Erich Schneider und Dr. Fritz Hopmeier, drei Politiker, die sich als Hüter des legislativen Spielraums der Länder im föderalen Miteinander verstanden haben.

Stellvertretend für die so zahlreich anwesenden ehemaligen Abgeordneten heiße ich die früheren Fraktionsvorsitzenden Ulrich Lang und Fritz Kuhn willkommen und stellvertretend für die ehemaligen Mitglieder der Landesregierung Herrn Dr. Gerhard Weiser und Herrn Dr. Hans-Otto Schwarz.

Als wichtige Geste empfinde ich, dass der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg als Verfassungsorgan durch seinen Vizepräsidenten Georgii vertreten ist.

Herzlich begrüße ich Herrn Erzbischof Dr. Saier und Herrn Landesbischof Dr. Maier sowie die Repräsentanten des Rechnungshofs Baden-Württemberg, der Regierungspräsidien und des Südwestrundfunks.

Es freut mich sehr, dass viele Angehörige des Konsularischen Korps dem feierlichen Anlass beiwohnen.

Schließlich begrüße ich Herrn Oberbürgermeister Dr. Schuster von der Landeshauptstadt Stuttgart sowie Frau Oberbürgermeisterin Russ-Scherer von der früheren Hauptstadt Tübingen und mit ihnen die Repräsentanten der kommunalen Landesverbände.

Meine Damen und Herren, mit der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung am 9. März 1952 waren die Vorbehalte gegen die staatliche Neugliederung natürlich noch nicht vom Tisch. Aber sie konnten nun durch eine gedeihliche Entwicklung des deutschen Südwestens faktisch widerlegt werden. Und das geschah auch.

Die Landespolitik achtete sensibel darauf, dass sie alle Landesteile ausgewogen erreichte, ohne die regionalen Kulturen und Profile zu nivellieren oder gar zu zerstören. Die Fusion ist gerade aus diesem Grund nach meiner Einschätzung gut gelungen. Deshalb können wir heute allen Akteuren des langen, harten Kampfes um den Südweststaat in gleicher Weise Hochachtung zollen den mutigen, weitsichtigen Protagonisten der Vereinigung ebenso wie den leidenschaftlich ihren Überzeugungen folgenden Gegnern:

Erster Teil

über die 21. Sitzung vom 6. März 2002

Beginn: 11:05 Uhr

(Präsident Straub)

Reinhold Maier, Gebhard Müller und Fritz Ulrich ebenso wie Leo Wohleb oder Franz Gurk.

Diese Namen lassen Geschichte plastisch werden. Sie sollen aber nicht relativieren. Baden-Württemberg ist ein Werk vieler, insbesondere jener 121 Männer und Frauen, die am 9. März 1952 in die Verfassunggebende Landesversammlung gewählt wurden und die nach dem Inkrafttreten der Verfassung den ersten Landtag von Baden-Württemberg bildeten. Ihnen gelang nicht zuletzt eines: eine positive Vorstellung von der Gestaltungskraft des Länderparlamentarismus zu prägen.

Die vorbildlose Aufgabe, aus drei eins zu machen, gab dem parlamentarischen Tun besondere Relevanz: zunächst beim Klären der staatspolitischen und weltanschaulichen Grundsatzfragen und später bei der notwendigen Rechtsvereinheitlichung, mit der vielfach strukturelle Entscheidungen verbunden waren: im Polizeirecht ebenso wie bei der Kommunalverfassung und beim Landesverwaltungsgesetz.

Hinzu kam der kraftvolle Diskurs, der beide Seiten weiterbrachte und dessen Wortgewalt und Passion sich eindrucksvoll abhoben vom bescheidenen, ja fast primitiven Provisorium, in dem man damals tagte.

Wir Heutigen schauen mit Respekt und etwas heimlichem Neid auf das, was unsere ersten Kolleginnen und Kollegen leisten konnten. Zwar haben wir das Grundgesetz auf unserer Seite, genauer: die so genannte Ewigkeitsgarantie. Sie gewährleistet eigenständige Länder und damit insbesondere auch Länderparlamente mit allen Funktionen, die ein Parlament ausmachen. Zudem verbrieft der vor sieben Jahren in unsere Landesverfassung eingefügte Artikel 34 a die Beteiligung des Landtags an allen Vorhaben der EU, die für das Land von herausragender politischer Bedeutung sind.

Aber das an Jubiläen so gern demonstrierte Gefühl, man lebe in der besten aller Welten, kann sich bei uns nicht so recht einstellen. Im Gegenteil: Wir spüren besonders deutlich, dass die schleichende Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen auf den Bund unseren Gestaltungsspielraum deutlich einschränkt und dass die scheinbar unersättliche Bereitschaft der EU, unter Hinweis auf den Gemeinsamen Markt und den Euro Fragen an sich zu ziehen und detaillierte Regelungen zu erlassen, unsere Möglichkeiten und damit unsere Bedeutung weiter schwinden lässt. Auf der anderen Seite wissen wir: Mit Beschwörungen ist hier nichts auszurichten.

Der 50. Geburtstag des Landes ist daher eine gute Gelegenheit, die Realitäts- und Zukunftstauglichkeit unseres Selbstverständnisses zu hinterfragen: Wer, wenn nicht wir, sollte die argumentativen Waffen schmieden, mit denen für eine Reform des Föderalismus gefochten werden muss? Wer, wenn nicht wir, sollte zum Meinungsmacher für einen Länderparlamentarismus werden, der wieder über mehr Möglichkeiten verfügt? Und wer, wenn nicht wir, sollte bei der angelaufenen europäischen Verfassungsdebatte in unserem Sinne Argumente liefern und das Klima beeinflussen?

Wir müssen zum Beispiel konkret darstellen, wie die Autonomie der Länder zu vergrößern ist, wie die Aufgaben, die Ausgaben und die Einnahmen entflochten werden können,

wie mehr Wettbewerb und mehr Subsidiarität entstehen sollen.

Kurz gesagt: Allen Institutionen ist es zuträglich, wenn sie von Zeit zu Zeit ihr Tun infrage stellen und das gilt auch für uns. Denn nur durch eigenen Wandel kann man sich im Wandel behaupten.

Setzen wir die richtigen Schwerpunkte? Verzetteln wir uns in technischen Details? Arbeiten wir genügend gemeinsame Standpunkte heraus, die wir dann auch geschlossen und mit breiter Brust vertreten? Ordnen wir das gemeinsame Interesse am Erhalt der Gestaltungsmöglichkeiten des Landtags zu schnell der Parteiräson unter? Diese Fragen sind notwendig. Denn eines wird niemand bestreiten: Die intellektuelle und mediale Wirkkraft unseres Anliegens muss von uns selbst ausgehen.

Schon deshalb ist es gewiss kein Fehler, die Ansichten eines neutralen, aber wahrlich nicht standpunktlosen Geistes zu kennen. Ich freue mich deshalb außerordentlich, dass wir einen der renommiertesten deutschen Journalisten als Festredner gewinnen konnten. Ich spreche von Ihnen, Herr Professor Robert Leicht, und heiße Sie auf das Herzlichste im Landtag von Baden-Württemberg willkommen.

(Lebhafter Beifall)

Sie, Herr Professor Leicht, sind prädestiniert, die Festansprache zu halten; denn Sie entstammen einer bekannten Stuttgarter Unternehmerfamilie, haben aber den hanseatischen Geist Ihrer Wahlheimat Hamburg verinnerlicht, und Ihr Name ist ein Synonym für die nüchterne, weitläufige, aber der Humanität verpflichtete Liberalität, die Gerd Bucerius jener Wochenzeitung verschrieben hat, für die Sie seit 15 Jahren in leitender Position tätig sind. Zudem sind Sie Kolumnist einer großen Berliner Tageszeitung, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie im Ehrenamt Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Uns erwartet also keine Innenansicht, sondern eine Draufsicht, und zwar eine Draufsicht, die uns durchaus auch mit uns selbst konfrontieren soll.

Dazu überlasse ich Ihnen, Herr Professor Leicht, nunmehr gern und gespannt das Wort.

(Starker Beifall)

Festvortrag

Zwischen Geschichte und Reißbrett Über die Zukunft der deutschen Länder

Professor Robert Leicht: Herr Präsident, sehr verehrte Abgeordnete des Landtags, Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Mitglieder des Kabinetts, meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihr freundliches Willkommen in der alten Heimat. Dass ich in Hamburg lebe, hat natürlich auch damit zu tun, dass meine Frau Hamburgerin ist.

Hinterher sieht alles immer ganz einfach aus selbst im Südweststaat. Ein halbes Jahrhundert danach ist gut festen: 50 Jahre Baden-Württemberg. Aber, um ein Diktum aus

(Professor Robert Leicht)

dem Fußballsport, der in diesem Hause lange prominent vertreten war,

(Heiterkeit)

abgewandelt zu zitieren: Hinterher ist immer auch vorher! Just in den Tagen, in denen das Land Baden-Württemberg seines Herkommens gedenkt, sucht Europa erneut nach seiner Zukunft. Und da sieht alles schon ganz schön schwierig aus. Die Rolle, die das Land Baden-Württemberg in seiner aufs Ganze gesehen noch kurzen Geschichte spielte, wird in diesen Wochen ausführlich gerühmt und gefeiert werden und das zu Recht. Ich kann und darf mich da eigentlich nur in die Reihe der Gratulanten einreihen.

Aber wie geht es weiter? Welche Rolle soll das Land, welche Rolle können die deutschen Länder in einem besser verfassten Europa überhaupt spielen? Ist unser Föderalismus zukunftsfähig, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Es ist eigentlich wirklich nicht sehr viel, was nun ausgerechnet mich berechtigte, heute als Gast zu Ihnen zu sprechen, obwohl der Herr Präsident überaus schmeichelhafte Bemerkungen zu meiner Person gemacht hat. Immerhin könnte ich auf die in diesen Tagen bundesweit auf vielen Lokomotiven gestellte Frage „Nett hier! Aber waren Sie schon einmal in Baden-Württemberg?“ aufrichtig und nachhaltig mit Ja antworten. Dies ist, wie ich finde, übrigens eine ungemein hübsche, witzige Werbung für das Land. Aber während ich sehnsüchtig auf zugigen, vernieselten norddeutschen Bahnsteigen stehe, denke ich mir zuweilen: Rein rhythmisch, rein poetisch läuft der Fragesatz nicht ganz rund. Aber „Waren Sie schon einmal in Schwaben?“ ginge ja nicht. „Waren Sie schon einmal in Sachsen?“ oder ganz unpoetisch, aber scheinaktuell „... in Preußen?“ liefe irgendwie glatter, poetisch gesehen.

Aber Geschichte verläuft eben nicht glatt. Der Doppelname, gekoppelt durch einen Bindestrich, verweist hinterrücks, „hälinge“ gewissermaßen, auf ein Problem, und sei es ein überwundenes. Friedrich Hölderlin und Johann Peter Hebel der eine wird auf ewig ein Württemberger, der andere ein Badener bleiben, wie sich schon aus der Geschichte von selber versteht. Aber als was für einen Landsmann könnten wir Hermann Lenz, den großen Zeitgenossen von hier, benennen, der so oft gleich gegenüber in der „Kiste“ keine Schleichwerbung gesessen haben soll? Und dabei konnte der auch noch Hochdeutsch!

Also, die Antwort auf die Frage „Waren Sie schon einmal...?“ lautet zu Recht und zunächst: Ja! Aber ein klein wenig mehr dürfte ich meiner fadenscheinigen Legitimation schon noch unterlegen: Ich bin nämlich gewissermaßen ein frühes regionales und übrigens auch konfessionelles Integrationsprodukt des Südweststaates: Ich wurde lutherisch getauft noch mit dem Wasser des Nesenbachs, nicht etwa des Bodensees im Land Württemberg-Baden, auf den Fildern. Eingeschult wurde ich im Land Württemberg-Hohenzollern in einer echten Zwergschule, übrigens in einer katholischen Konfessionsschule. Die Experten erinnern sich noch, wie heikel dieser Punkt später bei der Landesgründung war. Übrigens ich habe das noch einmal nachgeschaut : Vorne auf meinem Zeugnisheft der Volksschule prangt immer noch mit der Inschrift „Furchtlos und treu“ das Wörtlein treu mit einem „w“ geschrieben das von

zwei württembergischen Hirschen gehaltene Landeswappen.

Wir meine Eltern, die Kinder wohnten damals auf einer württembergischen Staatsdomäne auf der rauen Alb, hart an der Grenze zu den Zollern. Das Nachbardorf Ittenhausen war württembergisch, Inneringen gehörte schon zu Hohenzollern. Wir standen seinerzeit unter dem Regiment des legendären württembergischen Landrats Karl Anton Maier von Saulgau, der, wie schon die Wahl seiner beiden Vornamen Karl Anton zeigt, natürlich als ein zollernscher Preuße zur Welt gekommen war.

Übrigens: Wenn ich dann über Dürwaldstetten hinaus das war mein Schulort am Polizeiposten von Friedingen vorbei nach dem anfänglich katholischen dann zum entlegenen evangelischen Religionsunterricht stapfen musste, grüßte ich nebst dem Polizeibeamten unbewusst zugleich den österreichischen Doppeladler, der damals als Erinnerung an die vormals vorderösterreichische Exklave immer noch über seiner Tür hing. Später dann um die Sache abzurunden die gesamte Gymnasial- und Internatszeit in den Schlössern und unter der Schirmherrschaft des Markgrafen Berthold von Baden. Dort auch die Konfirmation, allerdings durch einen Pfarrer der Badischen Landeskirche lieber Bischof Maier, ich bitte um Nachsicht der Union von 1821.