Protocol of the Session on November 15, 2001

Wir brauchen einheitliche Mindeststandards im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts – das sage ich als Sozialdemokrat –,

(Beifall bei der SPD)

weil es nicht sein kann, dass Europa auf eine Funktion des Marktliberalismus reduziert wird, bei dem man dann im Wechsel gegenseitiger Ausbeutungskonkurrenz die Sozialstandards nach unten zieht. Das darf nicht sein, sondern wir brauchen einheitliche soziale Mindeststandards. Wir brauchen auch eine Vereinheitlichung des Steuersystems.

Dies alles bedeutet, dass wir sehr rasche Fortschritte im Zusammenwachsen mindestens des Kernbereichs der Europäischen Union zu einem Bundesstaat machen müssen. Wenn uns das gelingt, dann werden wir den Herausforderungen der Welt in den kommenden Jahren gerecht werden können. Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir zurückgeworfen in die Phase nationalstaatlichen Handelns. Dann werden wir öfter diesen Trübsinn erleben, dass sich beispielsweise der Herr Berlusconi in einer großen außenpolitischen Krise selber nach London einlädt und dann andere auch noch versuchen, irgendein Flugzeug zu bekommen, um einmal die Negativereignisse der letzten Tage und Wochen zu schildern. Das kann es nicht sein. Europa kann, wenn wir einen europäischen Bundesstaat wirklich wollen und vorantreiben, unserer Bevölkerung gerade in der Welt, in der wir heute leben, ein hohes Maß an Sicherheit geben. Wenn uns das nicht gelingt, dann, glaube ich, erleben wir Rückschritte, die uns im Ausmaß der Gefährdung vielleicht noch gar nicht richtig bewusst sind.

In der Tat geht es bei diesem Prozess um zweierlei – wie gesagt, vielleicht habe ich das bei Ihnen erahnt, lieber Kollege –: Es geht darum, dass wir dann eine europäische Verfassung brauchen. Wir haben jetzt in einem ersten Schritt – den haben wir vorangetrieben – eine Grundrechtscharta bekommen. Wir brauchen jetzt eine echte europäische Verfassung, und diese Verfassung – das sage ich hier – kann nicht ausschließlich das Werk von Regierungen in Europa und von Regierungskonferenzen sein,

(Beifall des Abg. Theurer FDP/DVP)

sondern zu einer Verfassung gehört eine verfassunggebende Versammlung. Ob die dann Konvent oder sonst wie

heißt, ist egal. An dieser verfassunggebenden Versammlung müssen die Parlamente beteiligt sein, und wir müssten das äußerste Interesse haben, dass auch die Länder, die Regionen an dieser verfassunggebenden Versammlung beteiligt sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden die Landesregierung daran messen, ob sie ganz energisch darauf Wert legt.

Da mache ich Ihnen jetzt das Angebot, von dem ich gesprochen habe. Nicht nur wir, sondern auch viele sozialdemokratisch geführte Landesregierungen denken so. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen denkt so. Wenn Sie das Interesse des Landes bei einem solchen europäischen Verfassungsprozess wahren wollen, dann müssen Sie wenigstens in diesem Bereich über Ihre Parteischatten springen. Mit dem Südschienenmodell bekommen Sie das nicht auf die Reihe; das ist eine hoffnungslose Minderheit.

Ich lade Sie ein und fordere Sie auf, in dieser Frage den Konsens auch mit den sozialdemokratisch geführten Ländern zu suchen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, dass es richtig wäre, dass die großen Aufgaben, die von den Nationalstaaten offenkundig nicht mehr gelöst werden können, auf die europäische Ebene übertragen werden und dort aus einer Hand und mit Mehrheitsentscheidungen und mit einem echten Parlament – der deutsche Außenminister hat ein Zweikammersystem vorgeschlagen, das finde ich im Prinzip richtig – gelöst werden und dass bei den kleinen Aufgaben in der Tat Kompetenzen zurückkommen, auch auf die Länder, die ja nach dem Verständnis in Europa dann Regionen darstellen. Das ist ein Weg, den wir gemeinsam gehen können. Aber er kann nur dann gegangen werden, wenn wir da kein parteipolitisches Hickhack machen, sondern wenn die Anhänger des Föderalismus in Deutschland bei einem solchen Verfassungsprozess zusammenarbeiten. Dieses Angebot mache ich Ihnen ausdrücklich. Da werden Sie auch bei uns Verbündete finden, wenn Sie sich aus Ihren parteipolitischen Festungen lösen.

Es würde Sinn machen, diese Verfassung in Europa mit einem Verfassungsreformprozess in Deutschland zu begleiten: Abbau der Mischfinanzierungen, Abbau des Kompetenzwirrwarrs, eigene, klar abgegrenzte Zuständigkeiten.

(Abg. Hauk CDU: Damit können wir in Deutsch- land beginnen! – Gegenruf des Abg. Fischer SPD: Das sagt er doch eben!)

Ich sage, dieser Prozess ist eine Chance, damit zu beginnen. Aber dann muss man es auch energisch machen und nicht nebenher.

Heute haben wir die Situation: Alle machen alles. Brüssel macht im Zweifel alles und nichts. Der Bund macht alles, die Länder machen alles. Es entsteht ein riesiger Wirrwarr an Mischfinanzierungen. Das hat ja den schönen Vorteil, dass man, wenn es nicht geklappt hat, dann immer noch – da sind wir ja alle sehr geübt, Sie und wir auch – sagen kann: Die waren es, oder die waren es, oder die waren es. Das schafft Staatsverdrossenheit. Wir brauchen wieder Klarheit darüber: Wofür sind die Länder zuständig? Wofür sind die Kommunen zuständig? Haben sie ihre eigenen Fi

nanzierungsquellen? Wofür ist der Nationalstaat zuständig, und wofür ist Europa zuständig? Das muss horizontal klar abgegrenzt sein. Heute ist das nicht so.

Das Elend, das ich auch beklage, ist, dass die Kommission mittlerweile bis in die Frage, wie Straßenbahnen betrieben werden sollen, hineinregiert. Das ist ein Elend. Das ist die Konsequenz davon, dass man der europäischen Ebene nicht die Entscheidungskompetenzen gegeben hat, die sie eigentlich in den großen Fragen bräuchte, und nun suchen die sich ihre Wirkungsmöglichkeit bei den Wasserwerken und bei der SSB AG und was weiß ich, wo. Das muss beendet werden. Aber das kann nur über einen Verfassungsprozess beendet werden.

Bei uns wird Kollege Wichmann im zweiten Teil auch etwas zu dem Thema Forschungsvorhaben sagen. Aber, wie gesagt: Begreifen wir es als Chance, uns aktiv in einen solchen Verfassungsprozess einzuschalten. Da gilt das Angebot, das wir Ihnen gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Hauk CDU)

Das Wort erhält Herr Abg. Theurer.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Begeisterte junge Menschen haben nach dem Krieg in den Fünfzigerjahren die Schlagbäume weggerissen und damit die Grundlage für das Zusammenwachsen Westeuropas geschaffen. Vor nunmehr etwas über zehn Jahren hat die Freiheitsrevolution das kommunistische Joch in Osteuropa abgeschüttelt, meine Damen und Herren. Es ist jetzt unsere Aufgabe, diesen mittel- und osteuropäischen Ländern den Weg in die Europäische Union zu ebnen, meine Damen und Herren. Ich denke, wir können von diesen jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa einiges an Reformschwung und an Bereitschaft zu Veränderungen lernen und aufnehmen. Denn es ist ja völlig richtig, Herr Kollege Maurer, dass man über eine europäische Verfassung sprechen muss. Sie haben hier angedeutet, dass Sie bereit wären, bestimmte Dinge neu zu regeln, zum Beispiel die Kompetenzen der Ebenen neu zu regeln. Wir hätten uns zum Beispiel gewünscht, dass bei der Neufassung des Länderfinanzausgleichs ganz klar der Wettbewerb eingeführt wird und dass es einen Wettbewerbsföderalismus gibt, meine Damen und Herren. Dazu müssen wir uns durchringen.

Allerdings, meine Damen und Herren, war auch klar, dass die SPD und die SPD-geführten Bundesländer nicht in die Richtung gearbeitet und gedacht haben, die wir als Liberale immer gefordert haben. Insofern, denke ich, muss Ihr Angebot doch kritisch überprüft werden. Es muss doch überlegt werden: Was wollen Sie tatsächlich, meine Damen und Herren? Denn hier gibt es doch die Auseinandersetzung. In einem Europa der 20, meine Damen und Herren, wird es Ungleichgewichte und Unterschiede geben. Wir als FDP/ DVP, wir als Liberale sehen diese Unterschiede eher als Ansporn. Wir stützen uns auf den Wettbewerb und sind dazu bereit, dass die europäischen Länder, dass die Länder in der Bundesrepublik und dass die Regionen miteinander in den Wettbewerb um die besseren Systeme und um die besseren Ideen eintreten. Wir wollen eben gerade nicht,

dass alles vergemeinschaftet wird. Wir wollen gerade nicht, dass alles gleichgemacht wird. Ich denke, hier sind schon Unterschiede erkennbar, obwohl Sie ja durchaus versuchen, die hohen Standards der Bundesrepublik Deutschland über alles hinwegzustülpen. Damit verhindern Sie gerade den Wettbewerb, der als Ausgleichsmechanismus die Unterschiede und Ungleichgewichte in Europa austarieren würde, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Die großen politischen Herausforderungen unserer Zeit – ich denke, in diesem Punkt besteht durchaus Einigkeit – können nicht allein auf der Ebene der Nationalstaaten gelöst werden. Stichworte sind hier: äußere und innere Sicherheit, ethnische Konflikte, Umwelt- und Klimaschutz, um nur einige zu nennen.

Die Europäische Union als Gemeinschaft freier, demokratischer Staaten ist im weltweiten Vergleich eine Insel der Stabilität und des Wohlstands, meine Damen und Herren. Doch nur gemeinsam können diese hoch entwickelten Staaten Europas wirklich eine maßgebliche Rolle in der Weltinnenpolitik der Gegenwart und der Zukunft spielen. Die beiden zentralen europäischen Bereiche sind die Erweiterung und die Vertiefung, also die Gewährleistung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.

An der politischen, vor allem wirtschaftspolitischen Notwendigkeit der Osterweiterung besteht kein Zweifel. Diese Erweiterung ist die beste Zukunftsinvestition für Deutschland. Sie bietet die Garantie für eine dauerhafte Sicherung von Frieden, Stabilität und Wohlstand. Ja, meine Damen und Herren, sie bedeutet die historische Chance für Deutschland, zum ersten Mal nur noch von Freunden umgeben zu sein, die auf die gemeinsamen Grundwerte Demokratie, freiheitlicher Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte verpflichtet sind.

Mit der Osterweiterung entsteht ein Binnenmarkt mit 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern, und die Marktwirtschaft setzt sich in ganz Europa durch.

Die FDP/DVP setzt sich nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland für die dringend notwendige Rückbesinnung auf die Ordnungsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft ein, nein, sie will, dass dieses Erfolgskonzept der sozialen Marktwirtschaft, das in der Bundesrepublik leider verkümmert ist, meine Damen und Herren, in ganz Europa wirksam wird.

Die wirtschaftliche Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU bringt für die deutsche Wirtschaft als Haupthandelspartner besondere Chancenpotenziale. Dies gilt in besonderem Maße für unser Land Baden-Württemberg. Schon in den vergangenen zehn Jahren hat sich der Export des Landes nach Mittel- und Osteuropa mehr als verdreifacht. Tschechien ist der größte Handelspartner von Baden-Württemberg, gefolgt von Polen, Ungarn und Russland. In diese vier Staaten gehen inzwischen 75 % der Exporte unseres Bundeslandes, und der Handel mit den Beitrittskandidaten in Mittel- und Osteuropa übersteigt bereits heute das Handelsvolumen mit den USA.

Meine Damen und Herren, wir gehen davon aus, dass der Investitionsbedarf gerade in den Ländern in Mittel- und Osteuropa doch erheblich ist. Dies ist eine Chance für die baden-württembergische Wirtschaft, die über modernste und umweltverträgliche Industrieausrüstungen sowie Verfahrensprozesse verfügt und diese Produkte in diese Länder exportieren kann.

Meine Damen und Herren, die FDP/DVP spricht sich dafür aus, dass diese Osterweiterung zügig durchgesetzt wird. Wir sehen auch und gerade in der Öffnung der Grenzen in einem einheitlichen Binnenmarkt eine große Chance, nicht nur für den Austausch von Waren, sondern auch für den Austausch von Menschen. Gerade unser Land braucht qualifizierte Zuwanderer.

(Beifall der Abg. Dr. Noll FDP/DVP und Stickel- berger SPD)

Genau dies kann im Zuge der Osterweiterung problemlos ermöglicht werden: den Fachkräftemangel in unseren Zukunftsbranchen mit zu überwinden. Natürlich kann es in sensiblen Wirtschaftsbereichen wie in der Bauwirtschaft und im Bauhandwerk zu partiellen Schwierigkeiten kommen. Durch entsprechende Übergangsfristen bei der Freizügigkeit können diese allerdings aufgefangen werden.

Mit der EU-Erweiterung wird sich der Transitverkehr in den kommenden Jahren verdoppeln. Deshalb wird es in Deutschland unbedingt erforderlich sein, ein Sonderinvestitionsprogramm Transitverkehr für Straße, Schiene und den Luftverkehr zu entwickeln. Baden-Württemberg als Transitland eines wiedervereinigten Europas braucht dringend den Ausbau leistungsfähiger Ost-West-Achsen bei allen Verkehrssystemen.

Mit der Osterweiterung eng verbunden ist die Frage, wie ein erweitertes Europa politisch handlungsfähig bleibt. Bei der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 wurden die nötigsten Reformen erreicht, um die Osterweiterung gerade so zu gewährleisten. Der Anspruch dieses Gipfels allerdings, eine umfassende Reform der EU-Institutionen in die Wege zu leiten, um diese für ein erweitertes Europa handlungsfähig zu machen, wurde klar verfehlt.

Meine Damen und Herren, die FDP/DVP setzt sich für eine europäische Verfassung ein. Diese muss unter breiter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger entstehen. Moderne Kommunikationstechniken eröffnen neue Möglichkeiten der Teilhabe des Bürgers, eröffnen Chancen der politischen Mitwirkung breiter Bevölkerungskreise, und wir schlagen vor, dass diese für die Verfassungsdiskussion auf europäischer Ebene genutzt werden.

Es gilt in dieser Verfassungsdiskussion, das Verhältnis der Nationalstaaten zu den europäischen Institutionen im Sinne einer klaren und sinnvollen Kompetenzabgrenzung neu zu regeln. Dabei sind wir auch der Auffassung, dass Verantwortung von oben nach unten delegiert werden soll, dass die Kirche im Dorf bleiben muss, dass Dinge, die vor Ort geregelt werden können, auch vor Ort geregelt werden, meine Damen und Herren. Der vorgelegte Europabericht der Landesregierung zeigt, dass es durchaus eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, um in der praktischen Euro

papolitik etliches zu bewegen. Dieses Mosaikbild zeigt, dass Baden-Württemberg, ein klassisches Grenzland, in der Tat ein Land ist, das aktiv zum Zusammenwachsen Europas beiträgt.

Gerade in einer Zeit, in der sich bei der amtierenden Bundesregierung der Blickwinkel verstärkt von der deutschfranzösischen Zusammenarbeit weg entwickelt, kommt uns als direktem Nachbarn zu unseren französischen Freunden eine besondere Bedeutung zu, diese Freundschaft weiter zu pflegen und in die Zukunft hinein zu entwickeln.

(Beifall der Abg. Dr. Noll und Heiderose Berroth FDP/DVP)

Wir sollten alles tun – das erhoffen wir uns, und hier nehmen wir unsere Kultusministerin, Frau Schavan, in die Pflicht –, dass in unseren Schulen das Erlernen der französischen Sprache nicht immer weiter zurückgeht,

(Abg. Dr. Salomon GRÜNE: In Stuttgart!)

sondern weiter zentraler Bestandteil unserer Bildungspolitik, unseres Beitrags zur deutsch-französischen Freundschaft bleibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Wir regen im Zusammenhang mit der Osterweiterung außerdem an, dass das Land Baden-Württemberg im Bundesrat eine Initiative zur Einrichtung eines deutsch-polnischen Jugendwerks ergreift. Denn wir sind der Auffassung, dass das deutsch-französische Jugendwerk einen erheblichen Beitrag zur Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland geleistet hat.

Baden-Württemberg ist stolz darauf, zu den „Vier Motoren“ Europas zu gehören. Diese „Vier Motoren“ gehören zu den wirtschaftsstärksten Regionen in Europa, und ihre Kontakte sind – vor allem im Wirtschafts- und Wissenschaftsbereich – stark ausgeprägt. Die Zusammenarbeit in diesem Bereich ist vorbildlich, und wir wollen sie auf Osteuropa ausdehnen. Deshalb schlage ich vor, im Sinne eines „Vier plus zwei“ aus vier Motoren sechs zu machen und zwei innovative, entwicklungsfähige, interessante Regionen in Mittel- und Osteuropa in das Konzept der „Vier Motoren“ Europas zu integrieren.

(Zuruf des Abg. Bebber SPD)

Außerdem sehen wir Möglichkeiten, den Kontakt zu den Erweiterungskandidaten auch auf parlamentarischer Ebene auszubauen, und schlagen vor, diesen Austausch nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch auf der Ebene der Parlamente in Zukunft zu verstärken.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.