Die Anhörungen haben eines deutlich gezeigt, meine Damen und Herren: Das Bildungswesen in Baden-Württemberg hat einen riesigen Reformbedarf. Auch die Regierungserklärung von heute Morgen hat dies bestätigt. Auch PISA-E 2003 bestätigt diesen großen Reformstau. Zwar konnten die einzelnen Bundesländer bemerkenswerte Fortschritte erzielen, aber Baden-Württemberg hat in Mathematik keinen Kompetenzzuwachs erreicht und im Lesen, im Textverständnis, lediglich sieben Punkte zugelegt. International gesehen sind die Leistungen noch immer zu schlecht.
Noch gravierender aber ist, dass – gemessen an internationalen Maßstäben – der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Kompetenzerwerb und Bildungsbeteiligung in Baden-Württemberg extrem hoch ist.
Im Vergleich von PISA 2000 zu PISA 2003 ist diese Schere nämlich auseinander gegangen und nicht zusammen.
Alle unsere Lösungsvorschläge haben Sie in selbstherrlicher Art weggeredet. Inzwischen müssen Sie aber erkennen, dass Sie auf dem Holzweg sind. Sie müssen sich korrigieren, und doch vollführen Sie wieder einen verbalen Eiertanz.
PISA 2003 hat gezeigt, dass schwächere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund der gezielten und möglichst frühzeitigen Unterstützung beim Erwerb der deutschen Sprache bedürfen. Als besonders beunruhigend muss die Tatsache gelten, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, im Durchschnitt über die niedrigsten Kompetenzen verfügen. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist aber die grundlegende Voraussetzung für die erfolgreiche Teilhabe am Unterricht. Da sind wir uns ja einig. Sie ist aber auch Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben.
Deswegen geht es hier um eine ganz zentrale Frage der sozialen Gerechtigkeit. Zu groß ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die am Ende der Pflichtschulzeit in den untersuchten Kompetenzbereichen schwache Leistungen aufweisen. In Baden-Württemberg – ich wiederhole dies, weil es so wichtig ist, darauf hinzuweisen – können knapp ein Viertel der 15-Jährigen nicht richtig lesen oder das Gelesene verstehen. Das ist im Grunde genommen ein Armutszeugnis für Ihre Politik.
(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Für alle Leh- rer! Was ist denn das für eine Berufsauffassung? – Abg. Döpper CDU: Sind Sie auch Lehrer?)
Das ist die Tatsache. Frau Berroth, mit der Schuldzuweisung an die Lehrer machen Sie es sich hier zu einfach.
Deshalb müssen wir in den kommenden Jahren die Kinder frühzeitig individuell fördern. Wir brauchen die flächendeckende qualifizierte Sprachförderung vom ersten Kindergartenjahr an, und die Erzieherinnen müssen in der Lage sein,
diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Deshalb ist neben der verbesserten Ausbildung vor allem auch die qualifizierte Fortbildung von entscheidender Bedeutung.
Erfolgreiche PISA-Länder, meine Damen und Herren, investieren mehr Geld in die Elementarbildung. Es sind tat
sächlich gut angelegte Investitionen, und es sind eben keine Kosten, sondern Investitionen, um die es hier geht. Meine Kollegin Frau Wonnay wird nachher noch auf die wichtigen Reformschritte im frühkindlichen Bereich eingehen.
dass der größte Lernzuwachs in den ersten Lebensjahren stattfindet. Daraus abgeleitet ist die Aussage zu verstehen: Kleine Kinder brauchen kleine Gruppen und die besten Pädagogen.
Wir brauchen Kindertageseinrichtungen und Bildungseinrichtungen mit einem eigenständigen Bildungsauftrag, der nicht auf die Zubringerfunktion zur Grundschule reduziert wird. Sinnvolles Lernen funktioniert nicht, wenn Grundschullehrkräfte in wenigen Wochenstunden den unter Sechsjährigen Wissen vermitteln sollen.
Ich sage nochmals: Es ist sinnvoller, die Bedingungen in den Kindergärten zu verbessern und die Kleinsten im Land in kleineren Gruppen durch gut qualifizierte Erzieherinnen gezielt zu fördern, als spät zu reparieren. Dazu brauchen wir mehr Geld, und hierzu haben wir für den Nachtrag entsprechende Haushaltsanträge vorbereitet.
Jetzt werden die Ewiggestrigen, die es wohl immer noch gibt, sagen, dass ja die Familie die Aufgabe habe, die Kinder zu fördern. Natürlich haben die Familien die Aufgabe, zu erziehen. Das ist doch gar keine Frage. Aber was ist mit den Familien, die das nicht leisten können? Davon gibt es leider noch eine ganze Menge. Eine verantwortliche gesellschaftliche Bildungspolitik darf kein Kind zurücklassen.
Für die Ökonomen füge ich hinzu: Wir können es uns auch gar nicht mehr leisten, Kinder zurückzulassen. Wir können es uns nicht mehr leisten, Kinder nicht optimal zu fördern. Wollen wir künftig bei PISA und anderen internationalen Vergleichen besser abschneiden, dann müssen wir die schulische und vor allem die Unterrichtsarbeit deutlich verbessern. Auch das haben zahlreiche Experten von dieser Stelle aus immer wieder gesagt.
Erfolgreiche PISA-Länder haben längere gemeinsame Lernzeiten, weil sie wissen, dass Lernen eben Zeit braucht und Kinder Zeit zum Lernen brauchen, dass Kinder auch voneinander lernen. In Finnland und in Kanada konnte der Schulausschuss – also einige von Ihnen selber – diese Tatsache in eindrucksvoller Weise studieren. Neuerdings verweist zu meinem großen Erstaunen sogar Herr Rau auf Finnland. Nur verlässt ihn der Mut, wenn es um die notwendigen Konsequenzen geht. Das ist der entscheidende Punkt.
Hierzulande wurde bislang jeder Zusammenhang zwischen besseren Lernbedingungen und der Schulstruktur geradezu besessen abgelehnt, obwohl die IGLU-Studie eindeutig belegt, dass das Lernen in der baden-württembergischen „Gesamtschule“ – hier meine ich jetzt die Grundschule, Herr Ministerpräsident – erfolgreich ist.
Die einzige Gesamtschule, die wir in Baden-Württemberg haben, ist die Grundschule, und dort findet erfolgreiches Lernen statt. Die Frage ist doch: Warum soll das alles nach der vierten Klasse nicht mehr gelten, was vorher so erfolgreich war?
Deswegen muss es gelingen, in heterogenen Lerngruppen zu arbeiten. Denn nur dort – das hat sich gezeigt – sind wir Spitze.
Ich sage: Unsere Kinder sind nicht dümmer als finnische Kinder. Unsere Kinder können das Gleiche leisten. Nur – und das ist der entscheidende Punkt –: Die Bildungspolitik in diesem Land stimmt nicht. Deswegen sind sie nicht in der Lage, diese Leistungen zu erbringen.
(Beifall bei der SPD und der Abg. Renate Rastätter GRÜNE – Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/ DVP)
Sie ignorieren den Zusammenhang zwischen Unterrichtsqualität und Schulstruktur, Herr Röhm. Sie gehören auch zu denen, Herr Oberstudiendirektor, die dies ignorieren.
Wie soll das Prinzip der individuellen Förderung gelingen, wenn Kinder immer wieder zu hören bekommen – und das ist etwas, was ihnen sicherlich immer wieder passiert –: „Du bist an der falschen Schule“? So etwas würden Kinder in anderen Ländern nie hören: „Mein Unterricht stimmt, aber du bist an der falschen Schule!“
(Abg. Röhm CDU: Nein, das hören sie bei uns nicht! Das haben wir noch nie gesagt! – Abg. Hei- derose Berroth FDP/DVP: Das sagen Lehrer, keine Politiker!)
Frau Berroth, es liegt daran, dass wir eine Struktur haben, die es leicht macht, zu sagen: „Du gehörst nicht an diese Schule, sondern du gehörst an jene Schule. Dort bist du besser aufgehoben!“
In anderen Ländern würden die Lehrer sagen: „Wie können wir dir helfen?“, weil sie gar nicht die Möglichkeit haben, Kinder in eine andere Schulart abzuschieben. Das ist der entscheidende Punkt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Abg. Heide- rose Berroth FDP/DVP: Entschuldigung, das sind doch erwachsene und fähige Leute! – Abg. Döpper CDU: Das ist nicht besonders überzeugend, was Sie da sagen!)
Das stark gegliederte baden-württembergische Schulsystem lässt Durchlässigkeit nur in begrenztem Rahmen zu, und dies führt meistens nach unten. Lesen Sie einmal – das empfehle ich Ihnen – in den Anhörungsprotokollen, was Pädagogen oder der Landeselternbeirat dazu sagen.
Im Übrigen wird dieser Ausleseprozess verschärft durch die Situation, die Sie jetzt mit dem Konzept der G-8-Schule angerichtet haben. Wir müssen feststellen – und das ist keine Erfindung des Landeselternbeirats –, dass die Kinder inzwischen 45 Stunden in der Woche arbeiten. Ich meine, dass das nicht mehr zu verantworten ist.