Auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution wirkt die Geschichte in den Menschen nach. Es gibt weiterhin Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern; zwischen Ost- und West-Berlin. In den Eliten der Gesellschaft sind Ostdeutsche noch immer stark unterrepräsentiert und die Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer ungleich.
Der massive Wegbruch von Arbeitsplätzen und der Industrie vor Ort führte bei manchen Ostdeutschen zu einem Transformations- und Einheitsschock. Dabei ist der wirtschaftliche Aufschwung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nicht zu übersehen. So wies etwa die Hauptstadtregion mit Berlin und Brandenburg auch 2023 ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum auf. Viele Prozesse haben jedoch zu lange gedauert. So wurden die Renten erst nach 34 Jahren angeglichen. An einer gemeinsamen Identität, Ost und West, muss nach wie vor weiter gearbeitet werden.
Wir stehen heute vor neuen Herausforderungen. In Deutschland erleben wir mit Sorge das Erstarken von populistischen und extremen Kräften. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ gingen die Menschen im Herbst 1989 in der ganzen DDR auf die Straßen. Heute wird der Slogan der Friedlichen Revolution von jenen Menschen missbraucht, die die Errungenschaften der damaligen Revolution begraben wollen. Populistische Parteien bedienen sich aktiv eines ostdeutschen Opfernarrativs und entwürdigen somit die hart erkämpften Freiheiten.
Aus den Erfahrungen der Teilung folgt die Aufgabe, uns auch für die Menschen einzusetzen, die in anderen Ländern politisch verfolgt werden. Denn so wie die Menschen in der DDR mit der Gefahr für ihr Leben auf die Straße gegangen sind, um für eine bessere Zukunft zu demonstrieren, so hat das auch heute Vorbildcharakter für all jene, die unterdrückt werden und um ihre Freiheit kämpfen.
Berlin als Bundeshauptstadt hat eine besondere Stellung in der Geschichte der Friedlichen Revolution und im
nachfolgenden Prozess der Wiedervereinigung. Auch wenn Berliner Mauer und Todesstreifen nicht mehr das Stadtbild prägen und vielen jungen und neuen Berlinern die Unterschiede zu damals nicht mehr sofort auffallen, ist die Stadt noch immer von der Teilung gezeichnet. Die Spuren der Spaltung sind tief in der Infrastruktur, in den Lebensgeschichten und Erfahrungen der Menschen verankert.
Es ist wichtig, dass diese Geschichten und Erfahrungen nicht vergessen werden. Der Austausch und die Aufarbeitung über die Zeit der Teilung und Wiedervereinigung müssen aktiv gefördert werden, damit die Stadt weiterhin als Ort der Erinnerung und des Zusammenwachsens wahrgenommen wird. Hierdurch entwickelt sich Berlin und wird weiter zu einem Ganzen.
Die Stadt Berlin verfügt über zahlreiche Gedenkstätten, die an die DDR, die Bürgerbewegungen und den Prozess der Wiedervereinigung erinnern. Die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, das ehemalige Gefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen, das ehemalige Polizeigefängnis in der Keibelstraße oder auch der wachsende Campus für Demokratie mit dem zu errichtenden Forum Opposition und Widerstand in Lichtenberg sind wichtige Orte, die die Geschichte von Diktatur, Widerstand und Wiedervereinigung lebendig halten. Hier finden Reflexion und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt, und die politische Bildung von zukünftigen Generationen wird gefördert.
Wir fordern daher den Senat auf, diese Arbeit weiterhin zu unterstützen und fortzusetzen. Die gemeinsame Erinnerung auch an künftige Jubiläen wichtiger Daten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung unserer Stadt muss ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur und der Demokratieförderung bleiben.
Berlin ist die Stadt der Freiheit. Doch gerade heute muss uns allen klar sein, dass Demokratie und Freiheit bedroht sind und jeden Tag verteidigt werden müssen.