In der Opposition hatte die CDU den Mut zur Wahrheit. Im damaligen Antrag hieß es, und ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten:
Es ist höchste Zeit, dass im öffentlichen Interesse eine obligatorische, medizinische Altersfeststellung festgeschrieben wird. Die CDU macht es nicht. Zu diesem Zweck fordern wir den Senat auf, nicht nur auf Landesebene aktiv zu werden, sondern eine Bundesratsinitiative anzustoßen. Wissenschaftliche Falschangaben zum Alter müssen zum Ausschluss von den Leistungen der Jugendhilfe führen. Beim Stellen eines Asylantrags hat ein Betrug dessen endgültige Ablehnung zur Folge.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der AfD-Fraktion, eine verpflichtende medizinische Altersfeststellung für minderjährige Geflüchtete ohne ausreichende Identitätsdokumente einzuführen. Als CDUFraktion lehnen wir diesen Antrag ab. Ich werde das sehr sachlich begründen und auf Ihre Argumentation, Herr Dr. Bronson, eingehen.
Erstens, die Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erfolgt bereits durch bewährte Verfahren, wie sie im § 42, Absätze 1 und 2 des Sozialgesetzbuches VIII verankert sind. Wenn keine Ausweisdokumente vorgelegt werden, wird die Altersprüfung zunächst im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durchgeführt. Hierzu wird ein interdisziplinäres Team eingesetzt, bestehend aus Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen des Landesjugendamtes sowie Psychologinnen und Psychologen eines freien Trägers der Jugendhilfe. Diese Fachleute führen eine umfassende und strukturierte Einschätzung durch, um das Alter der geflüchteten Person zu bestimmen. In Zweifelsfällen wird eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung vorgesehen, allerdings nicht als obligatorische, sondern als gezielt eingesetzt Maßnahme.
Zweitens, Sie haben über das medizinische Altersgutachten als präzise und belastbare Methode gesprochen, was in der Realität leider nicht zutrifft.
Selbst durch ein medizinisches Altersgutachten lässt sich das exakte Alter nach aktuellem wissenschaftlichen Stand nicht feststellen. Das Gutachten kann nur das sogenannte
„höchste Mindestalter“ ermitteln, das nicht immer die tatsächliche Volljährigkeit des Betroffenen anzeigt. Eine Fehlertoleranz von 1 bis 2 Jahren macht das Verfahren gerade bei Personen um die Volljährigkeitsgrenze nicht zuverlässig.
Drittens, ein medizinisches Altersgutachten ist für die öffentliche Verwaltung mit erheblichen Kosten verbunden. Diese Untersuchung sollte daher nur dann eingesetzt werden, wenn andere Prüfverfahren zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt haben. Nur, wenn nach zweiter Inaugenscheinnahme weiterhin erhebliche Zweifel bestehen, wird ein medizinisches Altersgutachten eingeleitet. Diese Stufenregelung stellt sicher, dass nur in tatsächlichen Zweifelsfällen ein teures, aber auch ungenaues medizinisches Verfahren zur Anwendung kommt.
Viertens, der Antrag der AfD fordert pauschal und ohne Rücksicht auf individuelle Situationen eine verpflichtende Anwendung eines medizinischen Verfahrens. Dies widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das zentrale Grundlage unseres Rechtsstaates ist. Unsere Verfahren zur Altersfeststellung stellen den Schutz der Persönlichkeitsrechte sicher und greifen nur bei hinreichendem Anlass auf medizinische Methoden zurück. Eine verpflichtende Anwendung, wie sie die AfD fordert, kriminalisiert pauschal junge Geflüchtete und unterstellt Ihnen auch Falschangaben.
Wir als CDU lehnen Ihren Antrag entschieden ab. Es ist unwirtschaftlich, ungenau und unverhältnismäßig. – Vielen Dank!
Sehr geehrter Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin von der CDU hat Ihnen ja, glaube ich, sehr gut erklärt, wie die Rechtslage gerade ist. Wenn Sie die jungen Leute loswerden wollen, sie insbesondere aus der Jugendhilfe heraus haben wollen, dann müssten Sie eigentlich im Bundestag entsprechende Anträge stellen, denn da wird das SGB VIII verhandelt. Wenn Sie da ein bisschen geguckt hätten, wüssten Sie, dass 2016 gerade die Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen komplett neu geregelt wurde. In § 42 a bis f gibt es eine intensive Beschäftigung mit allem – vom Clearing über die Verteilung der sogenannten UMA bis hin zum § 42 f zur Altersfeststellung. Dort wurden Entscheidungen, die das Land Berlin zum Handeln zwingen und auch den Rahmen vorgeben, festgelegt. Das hat
Wenn Sie die jungen Leute aus der Jugendhilfe heraushaben wollen – und ich weiß auch nicht, was Sie gerade für eine Debatte führen; im Grunde genommen geht es um die Inobhutnahme und nicht um Asylrechtliches und andere Sachen –, werden Sie sie natürlich auch nicht so einfach los, weil es den § 41 gibt, mit dem junge Volljährige Hilfen beantragen können. Selbstverständlich können unbegleitete Minderjährige – oder dann auch nicht mehr Minderjährige, junge Erwachsene – diese Hilfen in Anspruch nehmen, und sie machen das auch. Dazu werden wir Ihnen natürlich auch raten, denn es ist natürlich auch der beste Weg, sie gut zu integrieren, wenn man sie entsprechend unterstützt. An der Stelle ist das Jugendhilfesystem genau das richtige für sie. – Deswegen ist dieser Antrag abzulehnen. Vielen Dank noch einmal an die CDU für diese klaren Worte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind in erster Linie erst einmal Kinder und Jugendliche – und nicht gleich Verdächtige, so wie bei der AfD.
[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Christian Gräff (CDU) und Dirk Stettner (CDU)]
Für den Fall, dass sich der Minderjährigenstatus nicht zweifelsfrei klären lässt, existiert bereits ein anerkanntes bundeseinheitliches Verfahren, das im Sozialgesetzbuch VIII verankert ist; die Kollegin von der CDUFraktion hat es eben ja auch schon ausgeführt. Dieses Verfahren basiert erst einmal auf einer qualifizierten Inaugenscheinnahme und einem dokumentierten Gespräch.
Wenn man – wie die AfD jetzt – fordert, dass für alle jungen Menschen, die nach Deutschland kommen, ein medizinisches Altersgutachten angefertigt wird, dann ist das erstens ungenau, zweitens mit erheblichen Kosten verbunden und verstößt vor allem auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das, was Sie vorschlagen, ist ungenau, weil alle Methoden der Altersfeststellung lediglich Näherungswerte liefern; das heißt, Sie führen die Untersuchung durch, und danach wissen Sie es eigentlich immer noch nicht genau. Da fragt man sich natürlich, wofür man den großen Aufwand treibt. Es ist
unwirtschaftlich, weil damit erheblich Personal und Ressourcen gebunden werden, und es ist auch unverhältnismäßig, weil sich vor allen Dingen ja die Frage stellt, warum man hier schon Zweifel an den Angaben nährt und ein aufwändiges Verfahren in Gang bringt, bevor man überhaupt Anlass dazu hat, einen Zweifel zu haben.
Altersfeststellungsverfahren sollten im Interesse des Kindes oder des Jugendlichen liegen, um ein geeignetes Niveau an Schutz und Hilfen bereitzuhalten. Sie sind eigentlich kein ordnungsrechtliches Mittel, das der Vorbereitung von Abschiebungen oder der Verhinderung von Sozialleistungen dient. Dennoch kann es manchmal sinnvoll sein, eine Altersfeststellung durchzuführen. Wie selbst die antragstellende Fraktion ausgeführt hat, ist das ja sogar auch der Fall und wird in der Praxis schon gemacht. – Wenn wir uns also mal was Aufwändiges sparen wollen – davon ist dieser Tage in Berlin ja oft die Rede –, dann fangen wir doch einfach schon mal mit diesem Antrag an.
[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Beifall von Werner Graf (GRÜNE), Anne Helm (LINKE) und Niklas Schrader (LINKE)]
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Ich kann natürlich nur bekräftigen, was meine Vorrednerinnen und Vorredner – mit Ausnahme desjenigen der AfD – bereits vorgetragen haben. Ich will es aber gerne tun, damit sich hier nichts festsetzt.
Es gibt keine medizinische Methode, mit welcher die Volljährigkeit des 18. Lebensjahrs zweifelsfrei festgestellt werden kann. An dieser Stelle könnte ich meine Rede eigentlich schon beenden, denn die im Antrag formulierte Forderung – der Kollege hat es gerade gesagt –, dass ausnahmslos allen jungen Geflüchteten bei ihrer Ankunft in Deutschland eine verpflichtende forensische Altersfeststellung zuzumuten ist, hat schon einmal keine wissenschaftliche Grundlage. Da sind sich die Bundesärztekammer, der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk, die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter und weitere Fachöffentlichkeiten im In- und Ausland einig.
Ich möchte dennoch kurz auf einige Aspekte Ihres Antrags eingehen. Sie fordern eine Bundesratsinitiative, da Ihr Antrag Bundesrecht berührt. Es wurde ja bereits zu einem sinngleichen Bundestagsantrag debattiert – vor fast zehn Jahren. Deshalb kennen Sie ja eigentlich alle Gegenargumente; aber gut, wir können das hier im Ab
geordnetenhaus auch noch einmal klären. In der Umsetzung in den Bundesländern wird das rechtlich verankerte Verfahren von Dokumentensicherung, Selbstauskunft und Inaugenscheinnahme durch zwei Fachkräfte zur Feststellung des Alters junger Geflüchteter nirgends unterlaufen. Eine medizinische Untersuchung ist momentan das letzte Mittel bei bleibenden Zweifeln über die Minderjährigkeit oder Volljährigkeit eines jungen Geflüchteten. Diese ist rechtlich, medizinisch und ethisch derart fragwürdig, dass sie niemals zum Regelfall werden darf. Insofern begrüße ich die zögerliche Anwendung dieses letzten Mittels in Berlin, welche Sie ja scharf kritisieren.
Auch die medizinische Fachwelt in Deutschland und in Europa ist trotz jahrelanger Debatten bis heute nicht übereingekommen, welche Methode die schonendste ist, wenn es so etwas überhaupt gibt. Beispielsweise gegen das unfassbare Röntgen von Kniescheiben und Handknochen spricht sich auch der Radiologe und Ehrenpräsident der Bundesärztekammer Montgomery aus. Jedes Röntgen ohne medizinische Indikation sei ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Noch unfassbarer ist die Betrachtung oder ein Betasten von Brust und Genitalien. Auch diese verbiete sich logischerweise, so die Bundesärztekammer.
Außerdem: Eine 2018 veröffentlichte Studie der Universität Göteborg kommt zu dem Ergebnis, dass mit der medizinischen Altersfeststellung 33 Prozent der Minderjährigen fälschlicherweise als Erwachsene eingestuft werden. Umgekehrt werden nur 7 Prozent der Erwachsenen als Minderjährige eingestuft. – Letztlich sind aber all diese Zahlen müßig: Jede medizinische Altersfeststellung tastet die von Deutschland ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention und das Grundgesetz an. Deshalb ist im momentan praktizierten Verfahren auch nicht das Ergebnis der Altersfeststellung rechtlich anfechtbar, sondern nur der Ablehnungsbescheid zur Inobhutnahme. Während einer vorläufigen Inobhutnahme gilt im mehrschrittigen Verfahren immer: Im Zweifel für die Minderjährigkeit. – Das gebietet der Kinder- und Jugendschutz, und das ist gut so.
Aber vor allem ethisch ist Ihr Vorstoß abwegig. Ihr Antrag nährt rassistische und fremdenfeindliche Vorurteile, er ignoriert das hohe Gut des Kinderschutzes, er tastet die Würde des Menschen an, er gaukelt Sicherheit vor, wo keine Sicherheit zu gewinnen ist. Mit Ihren Einzelbeispielen minderjähriger Verbrecher schüren Sie Ängste auf dem Rücken der vulnerabelsten Personen auf dieser Erde: vor Krieg und Armut geflüchtete, unbegleitete Kinder und Jugendliche.
Meine Perspektive ist die des Kinder- und Jugendschutzes. Meiner Meinung nach gehört dieses Verfahren komplett abgeschafft; jeder Fall ist einer zu viel. Mich erinnert diese Vermessung an die finstersten Zeiten unserer Geschichte. Alle jungen Geflüchteten, Kinder und
Jugendliche und junge Erwachsene, haben nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ein Recht auf unsere Unterstützung. Sie brauchen eine Chance entsprechend ihres individuellen Entwicklungsstands – egal, wie alt sie sind. Unser Kinder- und Jugendhilferecht geht übrigens bis ins 27. Lebensjahr.
Wir haben hier in Berlin noch viel zu tun, beispielsweise den Ausbau von Jugendhilfeangeboten für junge Erwachsene und für unbegleitete Minderjährige. Wir brauchen mehr psychosoziale Betreuung und schnellere Verfahren von der Erstbetrachtung über das Clearing-Verfahren bis hin zur Einschulung. Darüber reden wir ja nächste Woche im Bildungs- und Familienausschuss. Sie sind alle herzlich eingeladen, um zu erfahren, was bei diesem Thema wirklich wichtig ist. – Vielen Dank!
Dann hat für die AfD-Fraktion der Abgeordnete Dr. Bronson um das Wort für eine Zwischenbemerkung gebeten. – Bitte schön!
Liebe Frau Seidel! Vielen Dank für Ihre Ausführungen! Ich möchte noch einmal betonen: Es geht hier nicht – und das hat im Antrag auch nirgendwo gestanden – um eine grundsätzliche Alterseinschätzung jedes einzelnen Bewerbers.
Es geht um diejenigen, die ohne Identifikationsdokumente dort sind. Das ist ein wichtiger Unterschied.