Protocol of the Session on May 23, 2019

Das Grundgesetz besticht durch seine klare Sprache. Es hat durch seine klugen Regelungen stabile Regierungen garantiert und den föderalen Aufbau und die parlamentarische Demokratie in Deutschland fest verankert. Selbst den Härtetest der Wiedervereinigung hat unser Grundgesetz bestanden, und es wird weit über den heutigen Tag hinaus aktuell bleiben, weil in seinem ersten Artikel als Lektion aus dem Zivilisationsbruch des Naziregimes das Allerwichtigste konzentriert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Einen dem Grundgesetz ähnlichen schlanken, eingängigen Verfassungsvertrag gibt es auf der europäischen

Ebene nicht. Es waren von der europäischen Idee überzeugte Politiker, die in immer neuen Vertragsrunden die europäische Integration weiter vorangetrieben haben, über die Einheitliche Europäische Akte, die Verträge von Maastricht, von Amsterdam, von Nizza und schließlich von Lissabon. Der richtige und mutige Versuch, über einen Konvent zu einer europäischen Verfassung zu kommen, ist leider 2005 gescheitert, ich meine, auch deshalb, weil man den nationalen Vorgaben zur Ratifizierung gefolgt ist, anstatt sich mit der Vision eines neuen Verfahrens, nämlich einem europaweiten Referendum, zumindest einmal auseinanderzusetzen. Es hätte die Chance geboten, einmal wirklich die gemeinsame europäische Sache zum Abstimmungsgegenstand zu machen und sich nicht immer in rein nationalen Debatten zu verlieren.

[Zuruf von Thorsten Weiß (AfD)]

Aber die Formulierung in der Präambel unseres Grundgesetzes

von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,

richtet sich nicht nur an Staats- und Regierungschefs oder an Außenminister, sondern sie beschreibt die Motivation des deutschen Volkes und gibt damit insbesondere uns Volksvertretern auf, die Weiterentwicklung der Europäischen Union stets mitzudenken und voranzutreiben.

[Beifall bei der CDU]

Lassen Sie mich Ihnen heute drei Bereiche nennen, in denen wir die Europäische Union in den nächsten Monaten und Jahren zum Nutzen der Berlinerinnen und Berliner unbedingt stärken sollten. Unsere Bürgerinnen und Bürger erwarten vom Staat in erster Linie, dass er ihre Sicherheit schützt. Ohne diese Garantie zerfällt ein Staat, weil dann Rechtsbrecher freie Hand bekommen und Einzelne oder nichtstaatliche Gruppen diese Schutzaufgabe partiell übernehmen und daraus Chaos und Gefahr für alle entstehen.

Mit der Einführung des Schengen-Systems und den Dublin-Regelungen haben wir für ein besseres Funktionieren des Binnenmarkts Binnengrenzen abgeschafft und Kontrollen auf die Schengen-Außengrenzen verlagert. Anis Amri plante nicht nur den Anschlag auf den Breitscheidplatz, sondern mit Komplizen zeitgleich Anschläge in Paris und Brüssel. Kriminelle Clans verschieben Vermögen, Waffen und Drogen in ganz Europa. Betrüger operieren mit multiplen Identitäten. Es gibt Cyberangriffe auf Verfassungsorgane wie den Bundestag. Es ist höchste Zeit, dass die europäischen Sicherheitsbehörden ihre Zusammenarbeit intensivieren und Daten austauschen. Es ist höchste Zeit, dass wir an den Außengrenzen mit einer massiven Verstärkung der gemeinsamen europäischen Grenzagentur Frontex Identitätsfeststellungen, Registrierungen und gegebenenfalls Rückführungen sicherstellen.

(Präsident Ralf Wieland)

[Beifall bei der CDU]

Es ist höchste Zeit, dass wir das europäische Ein- und Ausreiseregister ETIAS umsetzen. Es ist höchste Zeit, dass die gemeinsame europäische Mission zur Küstenwache und Seenotrettung wieder ihre Arbeit aufnimmt. Die Europäische Union muss bei der inneren und äußeren Sicherheit stärker werden, sonst entziehen die Bürgerinnen und Bürger dem Staat und der EU das Vertrauen mit fatalen Konsequenzen für unsere Demokratie.

Zweitens müssen wir mit der Europäischen Union auch in Zukunft das Wohlstandsversprechen einlösen, dessentwegen das in der Europäischen Gemeinschaft organisierte Westeuropa so attraktiv und ein solcher Magnet für Ostdeutschland und Osteuropa war und ist. Das geht über die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse, über Regional- und Strukturfonds, auch über einen Sozialfonds für bessere Chancen für Benachteiligte. Das muss aber auch mehr über strategische Investitionen in Forschung, Entwicklung, Innovation und Umweltschutz gehen, damit wir zukunftsfeste, gut bezahlte und sozial gut abgesicherte Arbeitsplätze in Europa halten bzw. aus- und aufbauen und unsere Wirtschaft ökologisch umstellen können.

[Beifall bei der CDU]

Gute Beispiele dafür sind die Technologie- und Wissenschaftsparks in Adlershof und Buch, die weiter wachsen wollen. Und rund 2 500 Start-ups in der Stadt rufen nach mehr europäischem Wagniskapital. Sie könnten auch schon längst zusammen mit den Wasser-, Verkehrs- und Energiebetrieben, mit Forschungseinrichtungen und der öffentlichen Hand in Projekte des millionenschweren Smart-City-Programms der Europäischen Kommission eingebunden sein, mit dem Energieeffizienz, intelligente Mobilität, Digitalisierung und vieles mehr Interessante an Klimaschutz in Großstädten gefördert werden könnte, wenn der Senat nicht schon dreimal die Bewerbung für dieses Programm vermasselt und Berlin damit wertvolle Zeit und Geld verloren hätte.

[Beifall bei der CDU]

Ich komme nochmals auf die Formel „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ in der Präambel des Grundgesetzes zurück. In diesem Jahr feiert Berlin 70 Jahre Luftbrücke. Berlin weiß, wie wichtig es ist, dass es Verbündete, Helfer und, ja, auch Soldaten gibt, die für Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten oder einfach ganz banal das Überleben sichern.

[Beifall bei der CDU]

Als starke Europäische Union können wir noch viel besser als Deutschland allein unser Gewicht als stabilisierender, wertegebundener Akteur in der Welt einbringen, wenn wir es schaffen, beispielsweise mit einem europäischen Sicherheitsrat, einer europäischen Eingreiftruppe, einem europäischen Sitz in den Vereinten Nationen oder einer vergemeinschafteten Entwicklungspolitik weiter an

einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu arbeiten.

Es gibt noch viele weitere Bereiche mehr, in denen wir ein stärkeres Europa brauchen, beispielsweise im Bereich der Energiepolitik, des Klimaschutzes, des Handels, der Digital- und Steuerpolitik. Aber für all das reicht meine begrenzte Zeit leider nicht. Ich muss auch noch einmal ganz explizit den Bogen zu Berlin schlagen.

Es ist schon in gewisser Weise symptomatisch, dass es nicht möglich ist, sich zum 9. Mai, dem Europatag, gemeinsam auf eine Aktuelle Stunde zu verabreden. Die Herausforderungen in Europa sind immens, und in Berlin als großer europäischer Metropole bündeln sich diese Zukunftsfragen und diese Spannungen wie in einem Brennglas. Aber von Europabewusstsein oder gar Europapolitik ist in diesem rot-rot-grünen Senat relativ wenig zu spüren.

[Beifall bei der CDU]

Anfang des Jahres wurde mit unserem wichtigsten Partner in der EU, Frankreich, der historische Elysée-Vertrag mit vielen Kooperationen neu aufgelegt. Aus der Partnerstadt von Paris, aus Berlin, sind mir dazu keine Reaktionen bekannt. Die Halbzeitbilanz unseres Europasenators enthält von 26 Punkten gerade einmal zwei zu Europa, wobei weder der Kulturzug nach Breslau noch das europäische Kulturerbejahr seine Erfindung sind. Dafür dürfen sich aber Parteifreunde auf der offiziellen Senatsseite tummeln.

[Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Wann, Herr Regierender Bürgermeister Müller, wann, Herr Senator Lederer, fangen Sie an, eine der Rolle Berlins würdige Europapolitik zu betreiben?

[Beifall bei der CDU]

Europa ist ein Querschnittsthema. Europa muss man mit Beharrlichkeit und mit Leidenschaft betreiben. Da beim Senat hierzu aber offensichtlich nicht viel zu holen ist, appelliere ich an die Europapolitiker und Europafreunde in allen Fraktionen: Lassen Sie uns gemeinsam aktiv und kreativ sein, wie wir Europa ins Berlin besser verankern und mit Leben erfüllen können! Berlin hat mehr Europa verdient als bisher.

[Beifall bei der CDU]

Für heute schlage ich Ihnen folgendes konkret vor und freue mich auf weitere Ideen von Ihnen:

[Zuruf von der LINKEN: Oh, Gott!]

Lassen Sie uns endlich die sehr erfolgreiche Staatliche Europaschule Berlin berlinweit ausbauen. Es gibt bisher nur 32 Standorte. Ich versichere Ihnen, Schüler, die diesen Bildungsgang durchlaufen haben, werden ein Leben lang aufgeklärte Europäer sein. Lassen Sie uns die Europabeauftragten in den Bezirken stärken, damit sie Europa wirklich zu den Menschen vor Ort bringen und die

Vorteile der europäischen Zusammenarbeit greifbarer machen können. Lassen Sie uns prüfen, ob wir nicht wieder ein europäisches Haus gründen können als einen Ort in der Mitte von Berlin, wo europäische Öffentlichkeit stattfinden kann, als Treffpunkt, Arbeits- und Versammlungsort für Berlinerinnen und Berliner, für unsere Europaorganisationen, für Wissenschaftler, für die Medien, für Politiker und viele mehr.

Und last but not least lassen Sie uns einen Europabezug in das Vorwort unserer Landesverfassung aufnehmen und sie damit mit dem Grundgesetz und mit vielen anderen Landesverfassungen in Einklang bringen.

[Beifall bei der CDU]

Denn, wie gesagt, Berlin verdient mehr Europa als bisher. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der CDU]

Für die SPD-Fraktion hat Herr Kollege Saleh das Wort.

[Mario Czaja (CDU): Also doch nicht Bundestag!]

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Jahren hatte ich eine beeindruckende Begegnung mit einer beeindruckenden Europäerin. Ihr Name ist Kati. Sie kommt aus Ungarn. Kati Simon war mal Chefkuratorin im Museum für Moderne Kunst. Sie wurde dann entlassen, nachdem das System Orban an die Macht kam. Kati hat miterlebt, wie Bücher aussortiert worden sind. Sie hat erlebt, wie Kunst aussortiert wurde. Und sie hat erlebt und gefühlt, wie es sich anfühlt, wenn Menschen aussortiert werden.

[Zuruf von Thorsten Weiß (AfD)]

Mich ärgert, ja, mich stört, wenn einige immer sagen, Europa und unser Grundgesetz seien Sonntagsreden. Nein, Europa und unser Grundgesetz sind eben keine Sonntagsreden! Es ist ganz konkret. So wie Kati kamen Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen aus Ungarn nach Berlin, weil ihnen die Luft zum Atmen fehlte in Budapest, in Ungarn und in anderen Gebieten, darunter Transsexuelle, Homosexuelle, Juden, Künstler, Intellektuelle, Sinti und Roma. Auch aus Polen, Österreich und Italien kommen immer mehr Menschen nach Berlin, weil sie hier genau die Luft zum Atmen haben, die sie brauchen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Wir Deutsche wissen doch am besten, was es heißt, diesen Wert zu haben, diesen Drang nach Luft, nach Freiheit!

Wie war Deutschland vor 75 Jahren? Wie war Europa vor 75 Jahren – nach einem Krieg, der von Europa ausging? Europa lag in Schutt und Asche. Die Menschlichkeit wurde begraben. Heute noch sieht man überall diese Einschusslöcher, und heute noch, wenn man sich alte Bilder aus den Archiven anschaut, sieht man, wie das Berlin nach dem Krieg aussah.

Ja, es ist nicht selbstverständlich. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. 3 500 Kilometer entfernt von hier, dreimal die Strecke Hamburg – München, da fallen gerade Bomben. Da versuchen gerade Menschen, ihre Kinder aus den Trümmern zu retten. Da sind Einschusslöcher in den Wänden, die davon zeugen, dass auch dort die Menschlichkeit begraben wurde. Nein, Frieden ist keine Sonntagsrede! Europa ist keine Sonntagsrede; und damit ist auch unser Grundgesetz keine Sonntagsrede. Das Wertvollste, was wir haben, ist genau dieser Frieden.

Ein großer Berliner, einer der Größten, hat einmal gesagt: „Ohne Frieden ist alles nichts“. – Ohne Frieden ist alles nichts, weil Frieden die Grundlage bildet für alles, was sich darauf aufbaut.

In unserem Grundgesetz werden die unveräußerlichen Menschenrechte garantiert, die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit! Alles extrem konkret, so konkret, dass Feinde unserer Grundordnung tagtäglich dagegen ankämpfen, weil sie diese Ordnung beseitigen wollen, weil sie diese Ordnung verachten. Sie reiben sich an diesen Werten. Wolf Biermann hat einmal diese Leute als „Angstbeißer“ bezeichnet. Angstbeißer sind Leute, die sofort zubeißen aus Angst, irgendetwas könnte sich verändern, irgendetwas könnte sich für sie zum Nachteil entwickeln. Wieder beißen die Angstbeißer los.

[Henner Schmidt (FDP): Die Grünen!]

Sie sagen in Berlin und in Deutschland, dass Menschen einer Religion, weil sie dem Islam angehören, nicht zu diesem Land gehören. Damit stellen sie sich gegen das Grundgesetz. Sie faseln irgendetwas von Fake-News und versuchen, Journalismus gleichzuschalten, und bekämpfen, damit die Pressefreiheit.