Protocol of the Session on November 24, 2016

Wenn ich hier im Raum oder in meiner Stammkneipe in Kaulsdorf nachfragen würde, wer Angst vor Strafgefangenen hat und ob eine Unterbringung von Straftätern im offenen Vollzug die Sicherheit gefährde, würden viele ja sagen. Wenn ich das meine Oma fragen würde, würde auch meine Oma sagen: Ja, klar! Wenn Straftäter statt im Gefängnis im offenen Vollzug sitzen und draußen rumlaufen können, das ist doch gefährlich. Davor hat man doch Angst, da weiß man doch gar nicht, was die als Nächstes anstellen. – Nur, die Welt ist halt komplizierter, und Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.

[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Ich will den Versuch unternehmen, die komplizierte Welt des offenen Vollzuges zu erklären und Ängste auszuräumen.

[Lachen bei der AfD]

Es ist tatsächlich nicht so einfach, wie es der Kollege hier gerade dargestellt hat. Die Berliner Regelungen über den offenen Vollzug wurden durch den CDU-Justizsenator vorgeschlagen und gelten in Berlin seit dem 1. Oktober 2016. Wenn Sie sich möglicherweise einmal die Gegenüberstellung zwischen der alten Regelung des § 10 Bundesstrafvollzugsgesetz und des § 16 Berliner Strafvollzugsgesetz anschauen, dann werden Sie feststellen, dass zwischen diesen beiden Versionen im Rangverhältnis zwischen geschlossenem und offenem Vollzug kein großer Unterschied zu sehen ist. Die Regelungen in dem alten Bundesstrafvollzugsgesetz und dem neuen Berliner Strafvollzugsgesetz sind nahezu identisch. In beiden Fassungen steht, dass Gefangene im geschlossenen und im offenen Vollzug unterzubringen sind.

Materiell-rechtlich könnte man argumentieren, dass durch das Berliner Strafvollzugsgesetz der offene Vollzug ge

stärkt wurde. Auf der anderen Seite finden Sie in der Regelung in § 16 Abs. 1, dass der geschlossene Vollzug vor dem offenen Vollzug genannt wird. Hier hilft Juristen immer ein Blick in die Gesetzesbegründung zum Berliner Strafvollzugsgesetz. Und dort steht: „Abs. 1 Satz 1 sieht die Unterbringung der Gefangenen im geschlossenen oder offenen Vollzug als gleichrangige Vollzugsform vor.“ Es ist also heute schon Rechtslage, dass geschlossener oder offener Vollzug gleichrangige Vollzugsformen sind. Das hat übrigens weder den CDU-Innensenator Henkel noch den CDU-Justizsenator Heilmann bisher gestört. Die Regelung haben wir zusammen mit der CDU beschlossen. Ich gehe auch davon aus, dass die CDU diese Regelung weiterhin unterstützen wird.

Und dann gibt es tatsächlich in der Koalitionsvereinbarung einen kleinen und feinen Satz: „Der Anspruch bleibt: Der offene Vollzug ist Regelvollzug.“ Was der Kollege Dr. Berg hier gelesen haben möchte, dass dort steht, dass keine Strafgefangenen mehr untergebracht werden, habe ich in unserer Koalitionsvereinbarung so nicht gesehen, aber da können Sie mir möglicherweise weiterhelfen und mir die entsprechende Passage vorlegen.

In diesen Satz kann man nun viel hineininterpretieren. Ich will es mir nicht gleich mit den Koalitionspartnern verscherzen, aber dieser Satz in der Koalitionsvereinbarung ist möglicherweise auch nur eher ein semantischer Erfolg. Man könnte die Reihenfolge im Gesetz ändern. Straftäter büßen zu Recht für ihre Straftat mit ihrer Freiheit. Und dabei wird es auch bleiben! Es gibt klare Regelungen und Vollzugspläne, wer im geschlossenen und wer im offenen Vollzug untergebracht wird. Im offenen Vollzug werden Gefangene untergebracht, die sich dem Vollzug nicht entziehen und die Möglichkeiten des offenen Vollzugs nicht zur Begehung von Straftaten missbrauchen. Für den offenen Vollzug ungeeignet sind sucht- und fluchtgefährdete Gefangene, Gefangene, die in der Vergangenheit eine Vollzugslockerung missbraucht haben, sowie Gefangene, gegen die ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist. Praktisch heißt das, die Gefangenen können sich innerhalb des offenen Vollzuges frei bewegen. Wer eine Arbeit nachweisen kann, kann tagsüber auch die Anstalt verlassen, muss sich aber abends, meistens ab 18 Uhr, wieder in der Anstalt einfinden.

In den offenen Vollzug kommen Gefangene, die zum Beispiel eine Geldbuße nicht bezahlt haben, oder Gefangene, die kurz vor ihrer Haftentlassung stehen. Es handelt sich also um Gefangene, die ohnedies bald entlassen werden. Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder wurden bisher nicht und werden auch zukünftig nicht im offenen Vollzug untergebracht. Für anhaltend gefährliche Straftäter haben wir richtigerweise das Instrument der Sicherungsverwahrung.

[Zuruf von der AfD]

(Dr. Hans-Joachim Berg)

Der Rechtsstaat macht das Mögliche, um seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Menschen haben aber Angst davor, dass diese Straftäter im offenen Vollzug untergebracht werden, und ich kann das nachvollziehen, denn der Begriff offener Vollzug ist eigentlich falsch. Man kann dort nicht ein- und ausgehen, wie es den Straftätern gerade gefällt. Als die Justizverwaltung vor einigen Jahren in Lichtenberg eine temporäre Einrichtung des offenen Vollzuges eingerichtet hatte, gab es Proteste und Befürchtungen.

Ich habe damals viele Gespräche mit den Bürgerinitiativen, mit Nachbarn, mit den umliegenden Kitas geführt. Dabei habe ich verstanden, warum die Menschen vor Ort Angst hatten. Sie wussten nicht, dass keine Schwerverbrecher im offenen Vollzug untergebracht wurden. Sie wussten nicht, wer im offenen Vollzug einsitzt. Sie wussten nicht, dass die Rückfallquote im offenen Vollzug unter einem Prozent liegt. Sie wussten nicht, dass die Strafgefangenen im offenen Vollzug tagsüber ganz normal ihrer Arbeit nachgehen.

Die Missbrauchsquote im offenen Vollzug, also die Gefahr, dass einer Opfer einer Straftat eines Straftäters im offenen Vollzug wird, liegt nach einer Untersuchung der Senatsverwaltung für Justiz bei 0,06 Prozent. Und ich darf an dieser Stelle den Justizsenator zitieren:

Der offene Strafvollzug ist keine liberale Verirrung, sondern ein hocherfolgreiches Konzept, wie Strafgefangene besser resozialisiert werden.

[Beifall von Frank Zimmermann (SPD) und Anja Kofbinger (GRÜNE)]

Wenn ich meine Oma fragen würde, ob Uli Hoeneß eine Rechtsstrafe im offenen Vollzug absitzen darf und tagsüber für den FC Bayern bei der Jugendabteilung arbeiten darf, würde sie sagen: Ja, klar, der ist doch nicht gefährlich! Karsten Speck? – Schlechter Schauspieler, aber ja klar, der ist doch nicht gefährlich. Jürgen Schneider? – Der hat die Banken betrogen, aber ja, klar, der ist doch nicht so gefährlich. Thomas Middelhoff, Martin Semmelrogge, der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von VW, Klaus Volkert, Egon Krenz – bekannte Namen von Strafgefangenen, die im offenen Vollzug gesessen haben.

[Beifall von Melanie Kühnemann (SPD)]

Uli Hoeneß hat der Gesellschaft in erheblichem Maße geschadet. Uli Hoeneß hat keine Gewalt gegen andere Menschen angewandt, seine Taten haben keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt. Er hat aber durch die Steuerhinterziehung dem Staat die Grundlage genommen, staatliche Mittel für Sicherheit einzusetzen, für Bildung, für Justiz und für die Wirtschaftsförderung.

[Georg Pazderski (AfD): Wir reden über Straftäter!]

Es ist richtig, dass in diesem Land Menschen, die einen Fehler begangen haben, die eine Straftat begangen haben, für diese Tat büßen, für diese Fehler einsitzen müssen

und dann aber auch wieder Mitglied unserer Gesellschaft werden.

[Zuruf von Holger Krestel (FDP)]

Und was für Uli Hoeneß gilt, gilt auch für jeden Mann und jede Frau, die straffällig geworden sind. Wer seine Haftstrafe verbüßt hat und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, kann seine Strafe im offenen Vollzug absitzen. Es gibt Urängste, die jeder Mensch hat und jeder Mensch haben muss. Wenn ein Bär vor Ihnen steht, dann müssen Sie Angst haben, um alle Kräfte zu mobilisieren und wegzurennen. Nur, verehrte Kollegen der AfD, Sie brauchen keine Angst vor dem Berliner Bären zu haben. Politik ist kein Spiel. Man spielt nicht mit den Ängsten von Bürgerinnen und Bürgern, man hilft Menschen, die Angst und Sorgen haben.

[Zuruf von Stefan Franz Kerker (AfD)]

Die Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, die Sorge vor steigenden Mieten, auch die Sorge, Opfer einer Straftat zu sein, das sind die Sorgen, die mir in meiner Bürgersprechstunde mitgeteilt werden.

Die rot-rot-grüne Koalition nimmt diese Sorgen ernst. Wir haben einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der die Freiheit dieser wunderbaren Stadt sichert, der Arbeitsplätze, der mehr Wohnraum schafft und 1 000 neue Polizisten einstellt.

[Zuruf von der AfD – Lachen bei der AfD]

Die Berlinerinnen und Berliner brauchen also keine Angst zu haben, dass im offenen Vollzug Schwerverbrecher sitzen, die bald rumlaufen.

[Heiko Melzer (CDU): Dann sind wir ja beruhigt! – Zuruf von Georg Pazderski (AfD)]

Frei rumlaufen können die Berlinerinnen und Berlin, Touristen und Gäste dieser Stadt dank der guten Arbeit von Justizbeschäftigten und der Berliner Polizei. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Roman Simon (CDU)]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt Frau Kollegin Seibeld das Wort. – Bitte schön, Frau Kollegin!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Kohlmeier hat ganz spannende Sachen gesagt. Papier ist geduldig, alles bleibt, wie es ist. Warum man dafür allerdings 270 Seiten braucht, ist mir nicht ganz klar.

(Sven Kohlmeier)

[Beifall bei der CDU und der AfD – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Die zweite Erkenntnis ist: Offener Vollzug ist Promivollzug.

[Heiterkeit von Frank-Christian Hansel (AfD)]

Lieber Sven Kohlmeier! Ich weiß nicht, ob du dir sicher bist, dass das wirklich die Message des neuen rot-rotgrünen Koalitionsvertrages ist. Ich würde da noch einmal in mich gehen.

[Beifall und Heiterkeit bei der CDU, der AfD und der FDP]

Nun zur Sache: Das Thema der Aktuellen Stunde ist so weit gefasst gewesen, dass ich mir in der Vorbereitung überlegt habe, was man dazu vernünftigerweise eigentlich sagen kann. Ich habe mich entschieden, mich mit der neuen Koalitionsvereinbarung auseinanderzusetzen, und kann dazu sagen: Große Teile dessen, was zum Vollzug drinsteht – und das ist nicht allzu viel –, lehnt die CDUFraktion ab. Sie sind ein Rückschritt im Vergleich zur Politik von Justizsenator Heilmann und der bisherigen großen Koalition in Berlin, denn unsere Bilanz in der Justiz der letzten fünf Jahre lässt sich durchaus sehen.

Wir haben den Personalabbau im Justizvollzug gestoppt. Wir haben die JVA Heidering und die dem Abstandsgebot genügende Unterbringung der Sicherungsverwahrten in Betrieb genommen. Man kann dort jetzt – und die Kollegen aus dem Rechtsausschuss wissen das –, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, sogar Pizza bestellen. Die Vollzugszulage für Beamte im Justizvollzug haben wir erhöht, ein Gesundheitspaket für die Mitarbeiter geschnürt, die Ausbildung von Anwärterinnen und Anwärtern im allgemeinen Vollzugsdienst und deren Übernahme gesichert, die Kooperationsvereinbarung zum Integrationsmanagement für Gefangene und Haftentlassene des Berliner Justizvollzugs zwischen dem Land Berlin und der Bundesagentur geschaffen, den Berliner Maßnahmenatlas für den Justizvollzug realisiert, E-Learning im Strafvollzug ermöglicht, ebenso den gemeinsamen Jugendarrest mit Brandenburg, ein Konzept zum Umgang mit radikalem Islamismus in den Berliner Justizvollzugsanstalten entwickelt, den Aufbau einer Diensthundestaffel ermöglicht, die Erprobung und Einführung des Modells „Day by Day“ zur Abarbeitung von Geldstrafen während der Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen durchgeführt, den Ausbau der Substitution und die Schaffung von zusätzlichen Plätzen für Substitution von Drogenabhängigen in der JVA Heidering und im offenen Vollzug eingeführt sowie das erste Berliner Strafvollzugsgesetz erlassen. Eine vergleichbare Agenda hat sich Rot-Rot-Grün offenbar gar nicht erst vorgenommen.

Das Berliner Strafvollzugsgesetz ist so neu, dass Rot-RotGrün es offenbar auch noch nicht ganz durchgelesen hat, was verwundert, weil es ja gewisse Personalidentitäten mit dem bisherigen Rechtsausschuss gibt. In § 2 Abs. 1

heißt es, der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen,

künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.

Dazu sieht die jetzige Koalitionsvereinbarung jede Menge Änderungen vor, die jedoch bestenfalls symbolischen Charakter haben, schlimmstenfalls aber die Sicherheit der Berlinerinnen und Berliner gefährden. Und dies betrifft die anderen Aufgaben des Strafvollzugs, die in § 2 Satz 2 festgelegt sind: Der Vollzug hat die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Dazu steht aber nichts in der Koalitionsvereinbarung von Rot-RotGrün. Im Gegenteil wird die Allgemeinheit bei Verwirklichung der geplanten Maßnahmen eher in Gefahr gebracht.

Dazu im Einzelnen: Die Koalitionsvereinbarung sieht vor, die Arbeit der Strafgefangenen bei der Rentenversicherung zu berücksichtigen, um Altersarmut zu verhindern. Das ist eine schöne Idee, aber nicht geeignet, um das selbst gesteckte Ziel zu erreichen. Zum einen wären die erworbenen Rentenbeiträge minimal, zum anderen ist die Ursache für Altersarmut bei Strafgefangenen weniger in der Zeit der Inhaftierung zu sehen, sondern insgesamt in der Erwerbsbiografie und der Arbeitslosigkeit vor und nach dem Vollzug.

Die Koalitionsvereinbarung sieht weiter eine Erhöhung der Vergütung von Strafgefangenen vor. Das lehnen wir als CDU-Fraktion ab. Die derzeitige Höhe ist identisch mit den Regelungen im Bundesstrafvollzugsgesetz und in den anderen Bundesländern. Es ist nicht ersichtlich, warum Berliner Strafgefangene als einzige mehr verdienen sollten als die Strafgefangenen im Rest des Bundes.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU und der AfD]

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass ein Strafgefangener mit seinem Nettoverdienst in der Haft nicht grundlegend schlechter steht als normale Arbeitnehmer unter Abzug von Lohnsteuer, Sozialabgaben, Lebenshaltungskosten, Kosten für Wohnung und den Arbeitsweg.