Protocol of the Session on September 8, 2016

Bericht Drucksache 17/3037

Zu diesem Tagesordnungspunkt begrüße ich ganz herzlich den Berliner Landesbeauftragten Herrn Martin Gutzeit.

[Allgemeiner Beifall]

Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt nach Fraktionsstärke die SPD. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. West. – Bitte sehr!

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Gutzeit! Jetzt sind wir an dem Punkt der Tagesordnung angekommen, wo wir den Wahlkampf mal ein bisschen ruhen lassen können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns dies gelingt, wenn wir heute den Zweiundzwanzigsten Tätigkeitsbericht des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR beraten werden. Dies ist uns in den letzten Jahren immer gelungen, denn wir waren uns immer einig, dass es wichtig ist, dass die Arbeit der Institution und auch des Landesbeauftragten fortgeführt wird.

Ich möchte daher den Fokus auf die Zukunft und auf die Perspektive der Arbeit legen und kann sagen, dass es zunächst einmal dabei bleibt, dass die Vergangenheit nicht vergangen und nicht vorbei ist, denn nach wie vor suchen bis heute täglich viele Opfer zum ersten Mal Hilfe und Beratung beim Beauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Daran hat sich auch 2015 nichts geändert. Sie sind darauf angewiesen, jemand an ihrer Seite zu wissen, der ihnen hilft, bestehende Ansprüche geltend zu machen. Es bleibt auf Dauer eine besondere Aufgabe, Erfahrungen, Lebensrealitäten, Schicksale und Widersprüchlichkeiten dieser Zeit an heutige Jugendliche zu vermitteln.

Eine Generation liegt jetzt zwischen denjenigen, die zum Ende der DDR Jugendliche oder junge Erwachsene waren, und den Jugendlichen von heute. Die Studie „Sind wir ein Volk?“ vom Zentrum für Sozialforschung Halle, herausgegeben von der Beauftragten für die neuen Länder, zeigt, dass es offensichtlich immer mehr zu einer Generationenfrage wird, wie bestimmte Dinge in Ost und West gesehen werden, dass mittlerweile die Ansichten der Jüngeren in Ost und West nahezu gleich sind, während die Unterschiede zwischen den eher jeweils Älteren bestehen, zum Beispiel auch, was die Unterstützung der bundesdeutschen Form der Demokratie anbetrifft.

Bei einer großen Mehrheit in Ost und West ist die Lebenszufriedenheit hoch, was ein wichtiges Ergebnis dieser Studie ist. Dem ist viel Positives abzugewinnen, denn es ist ein Hinweis darauf, dass wir nach den vielen Jahren dann doch ganz gut zusammengewachsen sind und die Aufgabe, Erfahrungen und Wissen an aktuelle und zukünftige Jugendliche weiterzugeben, eben auch keine

(Vizepräsidentin Anja Schillhaneck)

Frage mehr von Ost oder West ist, sondern eine Aufgabe, die aus unserer gemeinsamen Identität erwächst. Das ist an keinem Ort deutlicher als in dieser Stadt, in Berlin.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall von Fabio Reinhardt (PIRATEN) und Simon Kowalewski (PIRATEN)]

Abgesehen von den Brücken zwischen Ost und West schlägt die Arbeit des Landesbeauftragten aber eben auch eine Brücke zwischen Generationen, etwa in Form einer historischen Stadtführung, wo es um den Tod zweier junger Männer geht, eines Flüchtlings und eines Grenzsoldaten, die damals mit 18 und 20 Jahren kurz hintereinander an der Berliner Mauer ihr Leben verloren haben, aber – und das zeigen ihre persönlichen Geschichten – darüber hinaus auch viele Gemeinsamkeiten hatten.

Es ist fast ein wenig schade, dass wir heute in unserer allerletzten Sitzung in dieser Legislaturperiode über diesen Bericht sprechen. Da könnte man nämlich viele Punkte mitnehmen und in diesem Parlament vertieft diskutieren. Nun ist zumindest eines sicher, dass es nämlich auch nach der Wahl am 18. September ein neues Parlament geben wird. Ich hoffe, dass dieses künftige Parlament ab dem Zeitpunkt in zehn Tagen das erneut aufgreift und diskutieren wird, etwa die Einbeziehung verfolgter Schüler in das berufliche Rehabilitierungsgesetz, deren Verfolgung zwar anerkannt, aber eben nicht entschädigt wird. Dazu gehört die Fortsetzung der Beratungsstelle „Gegenwind“, die Betroffene psychologisch begleitet. Es ist immer noch nicht in allen Sozialämtern der Bezirke hinreichend bekannt, dass Entschädigungsleistungen nicht auf Sozialleistungen angerechnet werden können. Das finde ich beschämend!

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall von Dr. Klaus Lederer (LINKE) und Udo Wolf (LINKE)]

Als eher Jüngere möchte ich zum Schluss anmerken, dass es nicht falsch sein kann, diese Aufgabe weiterzuentwickeln, besonders dann, wenn man Jugendliche erreichen will, die einen ganz anderen Blick auf die Welt haben als die Älteren. Die Vermittlung von Wissen und vielleicht auch von persönlicher Erfahrung ist einem radikalen Wandel unterworfen. Für heutige Jugendliche ist das Internet nichts Neues mehr, sondern sie sind damit aufgewachsen. Was es nicht im Netz gibt, ist für sie quasi nicht existent. Darüber sollten wir nachdenken! Aber auf jeden Fall ist es wichtig und notwendig, historische Daten zu digitalisieren und auch in der digitalen Welt findbar und erfahrbar zu machen. Das ist keine technische Frage mehr, sondern eine gesellschaftspolitische. Mir ist das im Hinblick auf die Opfer der Diktatur sehr wichtig.

Herr Gutzeit! Stellvertretend für alle, die in den vergangenen Jahren mit ihrer Behörde Wichtiges geleistet haben und leisten, möchte ich Ihnen im Namen der SPDFraktion ganz herzlich danken. – Danke schön!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Vielen Dank, Frau Dr. West! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt das Wort der Abgeordnete Herr Dr. LehmannBrauns. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon wenn man das Inhaltsverzeichnis des Berichts von Herrn Gutzeit sieht, weiß man, mit welcher Sorgfalt und Akribie er sich dieses Themas angenommen hat. – Lieber Herr Gutzeit! Schon an dieser Stelle von mir herzlichen Dank dafür!

[Vereinzelter allgemeiner Beifall]

Lassen Sie mich zwei ganz kurze Feststellungen treffen. Ich glaube, wir wissen heute, ob sich jemand bei der Stasi verdingt hat. Das sollte man aber nicht pauschal bewerten. Das kann verschiedene Gründe gehabt haben, zum Beispiel Erpressung oder eine Notsituation. Eine solche Verpflichtung ist mit ganz anderen Maßstäben zu messen, als wenn es nur des Mammons oder des Versuchs wegen, Menschen zu unterdrücken, passiert ist.

Es gab auch den Wunsch von Leuten, über diese StasiMitarbeit Politik zu machen. Auch das ist meiner Ansicht nach ein menschlicher Zug – ich denke an Stolpe und Gysi. Ich hätte mir allerdings – gerade von diesen beiden – gewünscht, dass sie reinen Tisch gemacht hätten, als die Stunde dazu gekommen war. Das hätte ihnen wahrscheinlich weniger geschadet als dieser Versuch, über juristische Verfügungen und Urteile davonzukommen.

Für mich ist – zweitens – eins noch sehr wichtig: dass wir der kommenden Generation nahebringen, was diese Krake eigentlich angestellt, und auch, wie sie gelebt hat. Es ist deshalb sehr wichtig und richtig, dass wir diese Gebäude in Lichtenberg wieder so renoviert haben, dass man das möglichst authentisch verfolgen kann. Dasselbe gilt für Hohenschönhausen. Auch die Keibelstraße in Mitte sollte noch dazukommen, und auch ein Museum des Widerstands – eine Idee, die wir, glaube ich, alle gemeinsam beschlossen haben – sollte nicht vergessen werden.

Ich habe mit Ihnen eine spannende Zeit erlebt. Dafür bin ich dankbar. Auf Wiedersehen!

[Allgemeiner Beifall]

(Dr. Clara West)

Vielen Dank, Herr Dr. Lehmann-Brauns! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Otto.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Gutzeit! Auch im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bedanke ich mich für die Arbeit, die Sie jahrein, jahraus tun. Sie ist wichtig, und sie ist auch weiter wichtig. Deswegen – das will ich gleich am Anfang sagen – sind wir dafür, dass die Institution des Landesbeauftragten – das muss wieder entschieden, das Gesetz muss verlängert werden – weiter bestehen und diese wichtige Arbeit fortführen soll. Das ist uns als Bündnis 90/Die Grünen ganz wichtig.

[Beifall bei den GRÜNEN – – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der LINKEN und den PIRATEN]

Wir haben Ihren Bericht studiert. Sie haben aufgeschrieben, dass Sie viele Menschen beraten, die nach wie vor Schwierigkeiten haben, etwa mit Ämtern, mit Gerichten, wenn es um Renten geht, um Opferrenten, aber auch um normale Renten, weil sie vielleicht Zeiten in der Haft oder andere Dinge nicht nachweisen können. Da sind wir manchmal verwundert, wie die Bürokratie sich auch bei so jemand, der vielleicht in Haft war oder anderen Nachteilen in einer Diktatur ausgesetzt war, schwertut, damit umzugehen und diesem Menschen entgegenzukommen.

Sie haben etwa über die Schicksale von Heimkindern geschrieben, von Menschen, die im Kindesalter ihren Eltern weggenommen und in Heimen erzogen wurden. Sie haben uns etwas aufgeschrieben über Häftlinge. Sie haben uns etwas aufgeschrieben über die psychosoziale Betreuung, die für viele Menschen, die Schlimmes erlebt haben, nötig ist. Die Beratungsstelle „Gegenwind“ ist hier schon erwähnt worden. Auf sie haben wir uns immer besonders konzentriert, wenn es darum ging, diese Arbeit weiterzufinanzieren.

Und wir haben in Ihrem Bericht wieder gelesen, wie wichtig die Bildungsarbeit ist. Die Kollegin Dr. West hat auch schon darauf hingewiesen. Es gibt einerseits die Betreuung von Menschen, die aus der DDR, aus der Diktatur kommen, zum anderen gibt es aber die Menschen, die das selbst nicht erlebt haben, denen wir sagen müssen: Die DDR war eine Diktatur, und Demokratie ist nicht selbstverständlich, auch wenn das manch ein junger Mensch heute denken mag. In der DDR waren die Menschen eingemauert. Freiheit ist nicht selbstverständlich. Die DDR war auch kein Rechtsstaat. Unabhängige Gerichte, wie wir sie heute haben, sind nicht selbstverständlich.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Dieses Land mit dieser Freiheit, mit dieser Demokratie ist nicht etwas, das einfach da ist, nur als Geschenk, sondern das ist etwas, was Menschen sich erarbeitet haben. Ich glaube, darauf kann man auch stolz sein.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN und den PIRATEN]

1989 wurden in der DDR und in Osteuropa – das, glaube ich, muss man immer zusammen betrachten – Freiheit, Demokratie und Menschenrechte erkämpft. Viele Menschen, gerade jüngere, haben aber den Vergleich gar nicht. Sie brauchen die Arbeit, die der Landesbeauftragte macht, die Bildungsarbeit. Sie brauchen die Arbeit der vielen Initiativen und Archive in Berlin, sie brauchen die Arbeit der Erinnerungsstätten.

Da will ich ein bisschen beiseite gucken, auf den Campus der Demokratie in Lichtenberg. Wir haben hier einen Antrag gestellt – er wurde bedauerlicherweise im Ausschuss von der Koalition beerdigt –, weil wir wollen, dass auch Berlin sich daran beteiligt. In Lichtenberg, wo der Ort der Diktatur war, hat Erich Mielke gesessen und regiert. Wir wollen, dass dieser Ort auch von Berlin als wichtig angenommen wird, als Ort der Erinnerung, als Ort der Bildung und als Ort der Freiheit.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Das ist uns wichtig. Das können wir nicht nur, wie der Senat es gerne tut, der Bundesregierung zuschieben, wegen der nationalen Bedeutung; nein, das ist auch ein Ort in Berlin. Er ist wichtig, und da muss der Bezirk Lichtenberg, da muss das Abgeordnetenhaus und da muss auch der Senat sich viel stärker engagieren.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir sind der Meinung, dass Berlin mit seiner ganzen Geschichte, mit Ost und West, mit der Geschichte der Trennung 1961, mit der Geschichte der Teilung bis 1989 und mit der Geschichte seitdem, seit 1989, seit der Wiedervereinigung, an der wir alle noch arbeiten, ganz wichtig ist und dass das auch die nächste Regierung und die nächste Koalition bitte bedenken, beachten und fortführen mögen. Das ist wichtig. Insofern danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und danke Herrn Gutzeit für seine Arbeit. – Danke schön!

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN und den PIRATEN]

Vielen Dank, Herr Otto! – Für die Linksfraktion hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Zillich. – Bitte!

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrter Herr Gutzeit! Sie und Ihre Behörde legen dem Abgeordnetenhaus inzwischen den Zweiundzwanzigsten Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vor. Für die darin dokumentierte Arbeit möchte ich Ihnen, aber auch den Mitwirkenden in Ihrer Behörde und vor allem auch den Projekten und Initiativen im Namen meiner Fraktion einen herzlichen Dank aussprechen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Sie sprechen in Ihrem Bericht Schwerpunkte in Ihrer Arbeit, Schwerpunkte in Ihrer Beratungstätigkeit an. Ich will auf einige eingehen. Da findet sich wieder das Problem der DDR-Heimkinder und der in Einrichtungen der DDR-Jugendhilfe Eingewiesenen. Das hat bereits im Bericht des Vorjahres eine Rolle gespielt, weil im Herbst 2014 die Frist für eine Antragstellung auf Rehabilitation aus dem Heimkinderfonds abgelaufen ist. Die Frist wurde seinerzeit vorverlegt, weil der Fonds ausgeschöpft war. Das hat auch hier im Haus für Auseinandersetzungen gesorgt. Und wenn Sie, Herr Gutzeit, jetzt in Ihrem vorliegenden Bericht schildern, dass noch immer monatlich 20 bis 30 ehemalige Heimkinder in der Anlaufstelle nachfragen, welche Rehabilitierungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen, dann macht das erneut die Tragweite des Problems deutlich, das noch immer besteht. Es reicht nicht aus, das einfach nur zu konstatieren; hier muss auch die Aufforderung an den Senat ergehen, tätig zu werden

[Beifall bei der LINKEN]

gegenüber den anderen Bundesländern und dem Bund, damit hier eine Möglichkeit geschaffen wird, weiter Rehabilitierungsleistungen erbringen oder das wieder aufnehmen zu können.

[Beifall von Ole Kreins (SPD)]

Sie sprechen in Ihrem Bericht den hohen Wert an, den die Opferrente für viele ehemalige politische Häftlinge hat, gerade weil die Rente nicht auf andere Sozialleistungen, auf andere Transferleistungen angerechnet wird und nicht gepfändet werden darf. Und Sie sprechen wieder an, dass diese Rechtslage offenbar noch immer nicht in allen Berliner Sozialämtern bekannt ist. Das kann so nicht hingenommen werden. Hier muss geschult werden, diese Situation muss überwunden werden.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]