Protocol of the Session on May 12, 2016

lfd. Nr. 3.2:

Priorität der Piratenfraktion

Tagesordnungspunkt 7

a) Fahrscheinloser ÖPNV für Berlin (II) – Beiträge als neues Finanzierungsinstrument für den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV-Gesetz)

Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2889

Erste Lesung

b) Fahrscheinloser ÖPNV für Berlin (I) – Bezahlbare Mobilität durch freiwillige Solidarticketmodelle

Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2888

c) Fahrscheinloser ÖPNV für Berlin (III) – Einführung einer Nahverkehrsabgabe für den Erhalt und Ausbau eines leistungsfähigen Nahverkehrs

Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2890

d) Fahrscheinloser ÖPNV für Berlin (IV) – Investitionen und einen solidarischen ÖPNV-Beitrag aller Berliner/-innen wissenschaftlich vorbereiten

Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2891

Ich eröffne die erste Lesung zu a. In der Beratung beginnt die Piratenfraktion. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum. – Bitte!

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wir haben hier an dieser Stelle in den letzten Monaten mehrfach und kontrovers über die Berliner Verkehrspolitik debattiert. Wie können die Bedingungen für den Radverkehr verbessert werden? Wie sind neue Fahrzeuge für die BVG zu finanzieren? Wie kann das S-Bahnchaos beendet werden? Auf welche Art und Weise sind vorhandene und zukünftige Neubaugebiete verkehrsmäßig am besten zu erschließen?

[Ole Kreins (SPD): Noch eine Frage?]

Wie können Sicherheit im Straßenverkehr verbessert und gesundheitsschädliche Emissionen verringert werden?

Dazu lagen viele einzelne Vorschläge auf dem Tisch und wurden mehr oder weniger ernsthaft diskutiert. Was jedoch fehlt, ist eine wirkliche und zukunftsweisende Vision für den Berliner Verkehr von morgen.

[Beifall bei den PIRATEN]

Der Senat glänzt mit wortreichen Strategien und blumigen Versprechungen, die leider allzu oft uneingelöst bleiben. Wenn überhaupt eine Vision zu erkennen ist, dann die, dass kein Verkehrsmittel in Berlin besonders bevorzugt oder benachteiligt werden dürfe. Das allerdings, lieber Herr Geisel, liebe SPD und CDU, ist keine Vision, sondern ein schlecht kaschiertes „Weiter so“ ohne Blick auf die Zukunft.

Denn wem gehört die Straße, wenn hochmotorisierte Blechkarossen und weitgehend ungeschützte Radfahrerinnen und Fußgänger als Gleiche behandelt werden? – Eben! So gilt letztlich das Recht des Stärkeren auf unseren Straßen. Die Folgen dieser Politik erleben wir tagtäglich. So gibt es jeden Tag Tausende Verkehrssituationen in dieser Stadt, in der Radfahrende Straftaten ausgesetzt sind. Offenbar wissen viele Autofahrer nicht, dass das Überholen von Radfahrenden mit weniger als 1,5 Meter Abstand von Gerichten als Straftat bewertet wird. Auf diesen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Wann löst dieser Senat eigentlich endlich diese offenbar vorhandenen rechtsfreien Räume in dieser Stadt auf? Wann greift hier der Blumensenator Henkel endlich durch? Welche konkreten Maßnahmen unternehmen Sie,

(Wolfram Prieß)

Herr Geisel, um den diesen gefährlichen Zustand auf den Straßen Berlins zu beenden? Wir berücksichtigen in unserem Konzept ausdrücklich nicht nur den motorisierten ÖPNV, sondern eben auch die Fußgänger und Radfahrenden. Gerade diese Verkehrsteilnehmer brauchen bessere und hellere Wege, bessere und mehr Radwege und insbesondere besseren Schutz vor Verkehrsrowdys. Berlin braucht kein zaghaftes Moderieren zwischen scheinbar gleichen Verkehrsteilnehmerinnen. Berlin braucht auch keine weitere PR-Kampagne, um sein Nichthandeln besser zu verkaufen. Berlin braucht eine klare Linie für soziale, sichere und umweltfreundlichere Mobilität.

[Beifall bei den PIRATEN]

Berlin braucht weder den Weiterbau der A 100 noch mehr Autoverkehr. Berlin braucht eine zukunftsfähige Vision für die Mobilität dieser Stadt.

Unsere Vision für den Berliner Verkehr von morgen heißt fahrscheinloser Nahverkehr. Vor fünf Jahren sind wir mit dieser Vision zur Wahl angetreten. Wenn der Zugang zu Bussen und Bahnen radikal vereinfacht und für wirklich alle ermöglicht wird – so die Idee –, kann der ÖPNV seinen Auftrag als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge wirklich erfüllen und zum Rückgrat einer sozialen und ökologischen Verkehrswende werden. Damals haben wohl viele, auch hier im Haus, noch mit dem Kopf geschüttelt. Letztes Jahr haben wir dann eine wissenschaftliche Studie vorgelegt, die gezeigt hat, dass grundsätzlich ein fahrscheinloser ÖPNV in Berlin machbar ist, rechtlich und auch finanziell.

Seitdem haben Linke und Grüne unsere Vision zumindest teilweise übernommen. Selbst die SPD hat sich auf ihrem Parteitag vor einem Jahr dafür ausgesprochen, den fahrscheinlosen ÖPNV auf seine Finanzierbarkeit zu prüfen und das sogenannte Schwarzfahren zu entkriminalisieren.

Heute machen wir den nächsten Schritt und legen ein detailliertes Konzept vor, wie diese Vision eines solidarisch finanzierten fahrscheinlosen ÖPNV in Berlin tatsächlich umzusetzen ist. Unser Konzept hat vier zentrale Punkte, aus denen sich die vier heute zu beratenden Anträge ergeben.

Antrag I, bezahlbare Mobilität durch freiwillige Solidarticketmodelle: Solidarticketmodelle nach dem Vorbild des Semestertickets sind der Einstieg in solidarische Finanzierung. Das Semesterticket hat unter Studierenden eine Art Verkehrswende im Kleinen bewirkt und genießt hohe Akzeptanz. Nicht umsonst wird es regelmäßig weiter ausgebaut, neu verhandelt und fortgeführt. Dieses Modell wollen wir mittelfristig auf die Mehrheit aller Fahrgäste ausweiten. Wir schlagen hier im Unterschied zu dem Semesterticket ein freiwilliges Solidarticket vor. Alle ÖPNV-Kunden an einer Schule, in einem Betrieb oder einer Behörde sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Zeit- oder Abokarten in Solidartickets zu überführen. Diese können dann mit entsprechendem Preisnachlass

gemeinschaftlich von allen Schülerinnen, Auszubildenden und Arbeitnehmerinnen der jeweiligen Schule oder des jeweilige Betriebs abgenommen werden. So können wir die Ticketpreise deutlich reduzieren und außerdem Akzeptanz für die vollständige Umstellung auf eine solidarische Finanzierung schaffen.

[Beifall bei den PIRATEN]

Antrag II, Beiträge als neues Finanzierungsinstrument für den öffentlichen Nahverkehr, das ÖPNV-Gesetz: Da die vorhandenen Mittel für die notwendige Verbesserung und für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs nicht ausreichen, sind zusätzliche Finanzierungsquellen nötig. In den letzten Jahren ist bundesweit eine rege Debatte um die Möglichkeiten einer Beitragsfinanzierung des ÖPNV entstanden. Eine Änderung des ÖPNV und des Gebühren- und Beitragsgesetzes, wie wir sie hier vorlegen, schafft dafür die rechtlichen Grundlagen.

Antrag III, Einführung einer Nahverkehrsabgabe für den Erhalt und Ausbau eines leistungsfähigen Nahverkehrs: Schon heute stößt die ÖPNV-Infrastruktur insbesondere in der Innenstadt teilweise an ihre Grenzen, während die ÖPNV-Anbindung in den Außenbezirken oft zu wünschen übrig lässt. In einem fahrscheinlosen ÖPNV werden mehr Wege mit Bussen und Bahnen zurückgelegt. Unsere Studie hat gezeigt, dass das noch einmal zehn Prozent mehr sind. Um das zu ermöglichen, schlagen wir ein umfangreiches Investitionsprogramm zum Ausbau des Nahverkehrs und zur Anpassung des Straßenraums an die veränderten Mobilitätsbedürfnisse vor. Diese Investitionen wollen wir aus einer Nahverkehrsabgabe finanzieren. Damit werden diejenigen an der Finanzierung des ÖPNV beteiligt, die jetzt schon großen Nutzen davon tragen. Durch finanzielle Beiträge von Arbeitgeberinnen, Einzelhandel und Hotelgewerbe, Immobilieneigentümerinnen, Großveranstaltungen und Autofahrern stehen in zehn Jahren mindestens 2,5 Milliarden Euro für Investitionen in die Zukunft des Berliner Verkehrs bereit.

Schließlich Antrag IV, Investitionen und einen solidarischen ÖPNV-Beitrag aller Berlinerinnen und Berliner, wissenschaftlich vorbereitet: Diese Investitionen gilt es, gut vorzubereiten. Als Grundlage hierfür fordern wie eine Umsetzungsstudie mit zeitlich begrenztem Pilotbetriebs eines fahrscheinlosen ÖPNV. Die Studie soll außerdem einen solidarischen ÖPNV-Beitrag vorbereiten, der spätestens im Jahr 2030 die Fahrgeldeinnahmen ersetzen soll. Die Hälfte aller Berlinerinnen zahlt dann einen regulären Beitrag von 35 Euro im Monat, ein weiteres Drittel zahlt ermäßigte Beiträge von 15 Euro oder 20 Euro, während der Rest, vor allem Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, ganz vom Beitrag befreit ist.

[Beifall bei den PIRATEN]

Ein fahrscheinloses Berlin 2030 stellt die ÖPNVFinanzierung auf sichere und solidarische Füße. Ein fahrscheinloses Berlin 2030 garantiert allen ein Recht auf Mobilität unabhängig vom Einkommen, vom Auf

enthaltsstatus, vom Alter und/oder einer körperlichen Einschränkung. In diesem fahrscheinlosen Berlin 2030 wird der ÖPNV zum Rückgrat einer auf den Umweltverbund ausgerichteten Verkehrspolitik, von der besonders auch die Radfahrenden und Fußgänger und letztlich auch die Autofahrerinnen profitieren.

Mit unseren Anträgen liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch, welche Schritte jetzt zu unternehmen sind, um langfristig die Vision einer für alle zugänglichen und umweltfreundlichen Mobilität und damit eines lebenswerten städtischen Raums zu verwirklichen. Wenn Sie diese Vorschläge ablehnen, müssen Sie erklären, was Sie geplant haben. Wie gehen Sie mit den gewachsenen Verkehrsmengen um? Möchten Sie mehr Autofahrer? Möchten Sie längere Staus? Wir schlagen vor: Schluss mit uninspirierter Mangelverwaltung in der Berliner Verkehrspolitik, Schluss mit vagen Ankündigungen und halbherzigen Reformvorschlägen. Wir fordern fahrscheinloses Berlin 2030. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank, Herr Baum! – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Kreins. – Bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Abgeordneter Baum! Ich staune sehr. Sie haben vor einem Jahr die Piratenstudie zum fahrscheinlosen ÖPNV veröffentlicht. Das ist im Juni gewesen, wenn ich mich recht entsinne. Sie hatten ein Jahr Zeit, die Defizite dieser Studie zu erkennen. Sie hatten ein Jahr Zeit, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit den Anträgen, die heute vorliegen, haben Sie die falschen Schlussfolgerungen gezogen.

Man kann dabei nur staunen, denn bereits die Analyse ist falsch. Erstens: Im Grundsatz, ja, das ist richtig, wollen alle Berlinerinnen und Berliner einen preiswerten ÖPNV, doch viele Berlinerinnen und Berliner sind bereit, für einen zuverlässigen, pünktlichen, sauberen, sicheren ÖPNV mit kurzen Takten, guter Erreichbarkeit und Barrierefreiheit einen entsprechenden Preis zu bezahlen. Für jeden Berliner ist das, was er als gerechten Preis für die Mobilität empfindet, etwas Unterschiedliches. Das hat auch etwas mit dem Einkommen zu tun und mit dem, was man zu bezahlen bereit ist. Allerdings muss man auch feststellen, dass trotz steigender Preise sich zunehmend mehr Berlinerinnen und Berliner für den ÖPNV entscheiden. Die BVG vermeldet im Jahresrhythmus Fahrgastrekorde trotz der Preisentwicklungen, die wir bei den Tarifen haben.

Zweitens: Es gibt neben dem ÖPNV im Umweltverbund weitere Fortbewegungsarten, die kostengünstiger und

umweltschonender sind. Das sind Fuß- und Radverkehr. Ich will nicht jeden Radfahrer auf die Schiene bringen. Diejenigen, die zu Fuß gehen wollen, sollen das auch weiterhin tun. Also warum wollen Sie diese Gruppen in eine Zwangsumlage einbringen? Und andersherum: Nicht jeder Autofahrer wird mit 35 Euro Zwangsabgabe, die Sie zuletzt vorgeschlagen haben, sofort auf den ÖPNV umsteigen. Selbst wenn wir Maut und Parkgebühren noch exorbitant erhöhen, bedeutet das nur eine weitere soziale Spreizung und dass motorisierte Mobilität nicht mehr für jeden zur Verfügung stehen kann.

[Beifall von Karlheinz Nolte (SPD)]

Diejenigen, die Geld haben, fahren dann Auto, und die anderen quetschen sich in die bereits jetzt schon vollen Züge. Es gibt ja in Tokio und Peking neue Berufsbilder von Leuten, die die Fahrgäste in den ÖPNV quetschen. Sie müssen sich das mal für Berlin vorstellen. Der Berliner würde wahrscheinlich ruppig zurückdrücken.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, danke! – Wenn man drittens ein Mindestmaß an Fahrkomfort für den ÖPNV erreichen will, müssen umgehend die Takte in den Hauptverkehrszeiten verdichtet werden. Allein diese Folgekosten für den Mehrbedarf an Zügen und Fahrpersonal sind von Ihnen bisher nicht berücksichtigt worden.

Viertens: Bei der Finanzierung steht zur Auswahl: Zwangsgebühr, Umlage für alle oder Zwangssteuern, Steuern sind ja immer ein Zwang, aber Steuererhöhungen für alle und nicht wenig, denn eine Pkw-Maut in der Innenstadt und die Parkplatzgebühren allein werden den ÖPNV nicht finanzieren können. Weiterhin ist ungeklärt, wie Pendler an den Kosten des ÖPNV mit ihrer Abgabe beteiligt werden sollen. Ungeklärt ist weiterhin, wie sich Touristinnen und Touristen und Privatreisende, die nicht in Hotels untergebracht werden, an den Kosten des ÖPNV beteiligen. Und wer finanziert darüber hinaus die notwendigen Investitionen? Wer bezahlt die Sanierung und Modernisierung des ÖPNV-Netzes? Wer bezahlt die Barrierefreiheit? Ich bezweifle, dass man mit 25, 35 oder 45 Euro diese Bedarfe decken und gleichzeitig Sanierungsstau abbauen kann.

[Zuruf von Heiko Herberg (PIRATEN)]

Das ist Augenwischerei, verehrter Kollege Baum! Den Bürgern was zu versprechen, was nirgends funktioniert und nicht seriös durchgerechnet ist, ist Augenwischerei. Das muss man einfach mal so benennen.