Protocol of the Session on November 12, 2015

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Wir haben dort inakzeptable Zustände. Es ist vieles besser geworden. Ich erwarte nicht, dass sich von heute auf morgen die Welt ändert, aber ich will diese Bilder, wie wir sie jeden Abend sehen, auch nicht mehr dauerhaft weiter sehen.

Weitere Veränderungen sind in unserer Stadt mit Sicherheit nötig. Verfahren müssen sich verändern, Gesetze. Wir werden viele Gespräche führen. Ich selbst werde in den nächsten Tagen und Wochen viele Gespräche führen ohne dass damit die Ressortzuständigkeit der Kolleginnen und Kollegen genommen wird. Jeder soll und wird in seiner Verantwortung weiterarbeiten. Aber natürlich steht auch der Regierende Bürgermeister in einer besonderen Verantwortung. Deswegen werde ich – wie bisher – mit

Abgeordneten, mit Bezirksbürgermeistern reden, aber auch mit den Personalräten, den Gewerkschaften, den Hilfsorganisationen und den Dienstleistern, die wir so dringend brauchen. Wir werden Vorschläge diskutieren, und es muss erlaubt sein, auch einmal Überlegungen, Vorschläge zu diskutieren, die möglicherweise verändert werden müssen oder so nicht eins zu eins umgesetzt werden können, wie man es ursprünglich wollte. Jeder sollte sich allerdings fragen, ob es klug ist, mit Durchstechereien jeden Vorschlag zu torpedieren. Ich spreche ganz besonders das an, was wir seit drei oder vier Tagen in der Stadt an Diskussionen über eine mögliche ASOGÄnderung haben. Es ist unerträglich zu lesen, dass einige damit Ängste aufbauen und behaupten, der Senat hätte vorgehabt, in irgendwelche 50-m²-Wohnungen einzudringen, um zu gucken, wen man da unterbringen oder wie man diese Wohnung beschlagnahmen kann.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PRIATEN – Beifall von Hildegard Bentele (CDU) und Burkard Dregger (CDU)]

Es ging dabei um etwas völlig anderes. Es ging darum zu sehen, warum eigentlich Immobilien, Privatimmobilien, Büroräume, was auch immer, 400, 500, 1 000 m² groß dauerhaft leer stehen. Ich will wissen, was da los ist. Ich will es im Interesse der Gewerbetreibenden wissen, die dringend Büroflächen suchen, ich will es im Interesse der Berlinerinnen und Berliner wissen, die dringend eine Wohnung suchen, und ich will es wissen im Interesse der Flüchtlinge, für die wir dringend eine Unterkunft brauchen. Darum geht es bei einer ASOG-Änderung.

[Starker Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN – Beifall von Monika Thamm (CDU)]

Ich bin immer für Gespräche offen, für Kritik, für Veränderungsvorschläge. Noch einmal: Nichts muss eins zu eins so umgesetzt werden wie beschlossen. Aber ich bin nicht mehr bereit, beim Nichtstun zuzugucken oder bloße Meckerei hinzunehmen. Ich erwarte konstruktive Lösungsvorschläge und nicht immer nur bloße Kritik. Ich will Ihnen einige Beispiele für das nennen, was mir für die nächsten Wochen wichtig ist und was ich gern umsetzen möchte.

Erstens: Wir müssen schneller werden bei der Akquisition, Herrichtung und Übergabe von Unterkünften an die Betreiber. Deswegen werden wir Teams bilden aus der BIM, den Bezirken, der Berliner Unterbringungsleitstelle, der Sozial- und der Stadtentwicklungsverwaltung. Eine Verweigerungshaltung Einzelner, ein Hin- und Herschieben der Verantwortung wird es in diesen Teams nicht mehr geben. Auftrag ist ganz klar die schnelle Schaffung von zusätzlichen Unterbringungsplätzen.

Zweitens: Wir wollen das AZG ändern. Ziel ist es zum Beispiel, schneller Gewerberäume oder freie Flächen zu beschlagnahmen, wenn Bezirke zögerlich agieren. Ich bin

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

dankbar, wie uns zum Beispiel Stadtrat Kirchner in Pankow oder Stadtrat Prüfer in Lichtenberg bei dem schnellen Aufbau einer Einrichtung unterstützt haben. Aber ich werde nicht länger akzeptieren, dass Bezirksbürgermeister, im Norden Berlins zum Beispiel, weiterhin alles tun, damit die Zahl der Flüchtlinge in ihren Bezirken möglichst gering bleibt.

[Starker Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Wir müssen das Prozessmanagement verbessern und vor allem mehr Stellen schaffen für Registrierung und Leistungsberechnung. In Großeinrichtungen müssen wir dazu integrierte Bearbeitungsstrecken mit dem LAGeSo, dem BAMF, der Ausländerbehörde und der Arbeitsagentur, wie in der Bundesallee, einrichten. Dazu brauchen wir IT-Lösungen und Personal. Zur Überbrückung bis zur erfolgten Einstellung zusätzlichen Personals werden wir zum Aufbau der nötigen IT mit einem externen Dienstleister und Zeitarbeitsfirmen zusammenarbeiten, mit der Telekom und der Post über den kurzfristigen Einsatz von Beamten, die dort noch an Bord sind, reden. Diese haben bei der Umstellung von ALG II in der Arbeitsagentur auch schon hervorragende Arbeit geleistet, und wir werden auch auf Mehrarbeit aus der eigenen Verwaltung, zum Beispiel Pensionäre, zurückgreifen müssen. Sollte es nötig sein, prüfen wir dazu auch eine Änderung des Personalvertretungsgesetzes. Zu diesem Thema werde ich mich nächste Woche mit den Spitzen der zuständigen Gewerkschaften und der Personalräte treffen, um eine einvernehmliche Lösung zu erzielen im Interesse der Menschen, die Leistungen und Sicherheit brauchen.

Wir werden – viertens – gemeinsam mit den Bezirken Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf ein neues überregionales Bürgeramt für Flüchtlinge einrichten. Das entlastet die ebenfalls zukünftig personell besser ausgestatteten Bürgerämter in den Bezirken und ermöglicht ihnen, ihre Dienstleistungen für die Berlinerinnen und Berliner besser anzubieten, ohne für eine große Anzahl zusätzlicher Menschen zuständig zu sein. Wir wissen das: Die Bezirke brauchen für ihre Sozial- und Jugendämter zur Bewältigung der wachsenden Stadt zusätzliches Personal – das zum Teil auch schon bewilligt ist – zur Überbrückung von Engpässen. Bis die Neueinstellungen erfolgt sind, wollen wir auch an dieser Stelle mit Freiwilligen und gegebenenfalls Pensionären arbeiten.

Fünftens: Wir werden für die Bürgerämter, aber auch für weitere betroffene Behörden als Land Sammelausschreibungen auf den Weg bringen und dafür schnellere Einstellungsverfahren ermöglichen. Auch darüber werden wir mit den Bezirken, Personalräten und Gewerkschaften Gespräche führen. Jetzt muss sich jeder bewegen. Von den bereits seit Monaten bewilligten Bürgeramtsstellen ist die Hälfte immer noch nicht besetzt. Sollten die Bezirke bis Mitte Januar nicht in der Lage sein, die zugesagten Stellen zu besetzen, werden wir die Stellen in andere Bezirke umverteilen.

[Beifall bei der SPD – Torsten Schneider (SPD): Das ist eine Ansage!]

Noch immer klagen Betreiber über zu langsame Kostenerstattungen und Abschlagszahlungen. Ohne die Betreiber können wir keinen effizienten Kampf gegen Obdachlosigkeit führen. Es ist inakzeptabel, dass sie für ihre Leistungen und den Aufbau weiterer Leistungen nicht schnellstens bezahlt werden. Abschlagszahlungen und Rechnungen werden zukünftig schnell angewiesen. Ich werde dazu auch in den nächsten Tagen mit den Betreibern eine entsprechende Runde machen und werde klären, wie die Zusammenarbeit mit ihnen für die Zukunft verbessert werden kann.

Ich will es an dieser Stelle noch einmal betonen: Wir werden den Flughafen Tempelhof als Großeinrichtung nutzen. Bei dieser Großeinrichtung ist es sinnvoll, das System der Bundesallee in Abstimmung mit dem BAMF und der Bundesagentur für Arbeit auch dorthin zu übertragen, sodass alles in einem Haus erfolgen kann. Dafür werden wir mit Sicherheit auch die Haupthalle des Flughafens nutzen müssen. Ich habe dazu heute mit Herrn Weise gesprochen, der bereit ist, sehr schnell zu prüfen, wie die Bundesagentur und das BAMF uns an dieser Stelle strukturell und personell unterstützen können.

[Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Ich will mich an dieser Stelle auch bei der Bundeskanzlerin und der Bundesverteidigungsministerin bedanken, mit denen ich in den letzten Tagen auch telefoniert habe. Sie haben auch schnelle Hilfe angekündigt – konkret für den Standort Tempelhof. Sie sind bereit, uns weitere Mitarbeiter der Bundeswehr und die nötige Infrastruktur, die wir für House-in-house-Lösungen in den Hangars brauchen, zur Verfügung zu stellen.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Achtens: Wir wollen mehr erfahrenes Personal zusätzlich und schneller einsetzen können. Dafür haben wir, wie gesagt, auch die Möglichkeit, auf Pensionäre zurückzugreifen. Dazu muss unter anderem geklärt werden, dass Zulagen nicht auf die Pension angerechnet werden. Die Senatsverwaltung für Inneres ist aufgefordert, dementsprechende Regelungen zu formulieren.

[Steffen Zillich (LINKE): Immer noch? – Martin Delius (PIRATEN): Schon wieder!]

Neuntens: Wir wollen die Berliner Bauordnung ändern und baurechtliche Standards für Unterkünfte zur Krisenbewältigung anpassen. Strikte Vorschriften, die mitunter bei uns ganz anders formuliert sind als in anderen Bundesländern, müssen gegebenenfalls verändert werden. Auch das beschleunigt die Einrichtung neuer Unterkünfte.

Es sind neun Maßnahmen, die mit Sicherheit – man hat es an den Reaktionen hier gemerkt – wieder neue Diskussionen auslösen. Ich will es noch einmal sagen: Lassen

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

Sie uns darüber diskutieren, wie wir in diesem Sinne schnell zu neuen Verabredungen kommen, die es uns ermöglichen, noch mehr Menschen noch schneller gut helfen zu können!

Die Situation, vor der wir uns befinden, werden wir nicht alleine ändern können, aber wir können uns der Aufgabe stellen. Wir müssen Betroffenheiten und Widerstände überwinden. Und ja, die Herausforderungen sind größer als erwartet. Gegebenenfalls müssen wir auch in diesen Prozessen immer neu nachdenken, neu und aktuell, der Situation angepasst entscheiden. Wir müssen mit Sicherheit auch aus Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir müssen zum Beispiel ernsthaft jetzt über Integrationsarbeit reden. Jetzt müssen wir darüber reden, dass eine jahrelange Aufgabe noch vor uns liegt, dass nicht alle bleiben werden, aber sehr viele. Sie müssen und sollen in unsere Gesellschaft, unsere Gemeinschaft integriert werden. Wir wollen helfen und fördern – ganz klar. Aber ich sage unter der Überschrift „aus Fehlern lernen“ auch: Wir fordern auf der Grundlage unserer Werte auch Integration ein. Auch das gehört dazu.

[Beifall bei der SPD, der CDU und den GRÜNEN]

Ich glaube, wir können beides. Wir können Flüchtlingen helfen und überall in der Stadt die Lebensbedingungen für die Berlinerinnen und Berliner verbessern. Wir dürfen die Bevölkerungsgruppen nicht gegeneinander ausspielen, sondern es geht darum, gut zusammenzuleben.

Das ist kein einfacher Weg, der vor uns liegt. Ich sage ganz klar: Wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt – das ist in Ordnung –, der sollte in diesen Zeiten auch im Interesse der zu uns fliehenden Menschen und im Interesse aller Berlinerinnen und Berliner nicht im Weg stehen, sondern Platz machen.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Allen anderen sage ich: Lassen Sie uns für einander da sein! Lassen Sie uns die vielfältigen Aufgaben gemeinsam angehen! Ich bin sicher, auch dieses Mal wird Berlin eine solidarische Stadt sein. Berlin wird die Aufgaben wie in der Vergangenheit – wie in teilweise viel schwierigeren Situationen in den letzten Jahrzehnten – auch dieses Mal solidarisch bewältigen. Auch dieses Mal wird Berlin nach vorne schauen und die Zukunft gemeinsam gestalten. – Vielen Dank!

[Anhaltender Beifall im Stehen bei der SPD – Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Herr Regierender Bürgermeister! – Im Ältestenrat hat man sich darauf verständigt, hierzu eine

Besprechung mit einer Redezeit von bis zu 15 Minuten je Fraktion durchzuführen. Gemäß Artikel 49 Abs. 4 unserer Verfassung steht der Opposition das Recht der ersten Erwiderung zu. Es beginnt in der Aussprache die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Frau Kollegin Pop, bitte schön, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Regierender Bürgermeister! Eine Regierungserklärung Ihrerseits zur Flüchtlingspolitik in diesem Hause war längst überfällig. Ich freue mich, dass Sie klare Worte gefunden haben, klare Worte des Willkommens, aber auch populistischen Vorschlägen, die herumgeistern, eine klare Absage erteilt haben und denjenigen, die nicht nur insgeheim, sondern auch offen denken und sagen, das wollen wir gar nicht schaffen, klar gesagt haben: Das kann nicht sein! – Vielen Dank dafür!

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN – Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Ich hoffe auch, dass das heute ein Startsignal für eine aktive Politik des Senats in dieser Flüchtlingssituation gewesen ist, denn wenn auch alle Städte und Kommunen in Deutschland vor dieser großen Herausforderung der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen stehen, so sind es dann doch die täglichen Erlebnisse – und nicht nur reine Medienbilder –, aber auch Bilder und Nachrichten aus unserer Stadt, die zeigen, dass statt kraftvollem Krisenmanagement in Berlin immer noch zu viel Chaos und Planlosigkeit herrschen.

Herr Regierender Bürgermeister! Sie haben es selbst schon angesprochen: Das LAGeSo ist inzwischen zum Inbegriff für die katastrophale Flüchtlingsversorgung in Berlin geworden. Immer noch ist zu sehen, dass abends Familien mit kleinen Kindern bis tief in die Nacht entweder auf ihre Unterbringung warten oder sogar dort übernachten müssen. Ich finde nicht, dass in der Hauptstadt Deutschlands Kinder und Familien draußen nächtigen sollten, erst recht nicht im Winter. Dafür schäme ich mich.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Da wir gerade auch den Haushalt beraten: Es ist tatsächlich keine Frage des Geldes. Es gibt eine deutliche finanzielle Entlastung durch den Bund und durch die unverändert gute wirtschaftliche Lage in Deutschland. Auch in Berlin sind die öffentlichen Kassen gut gefüllt, und die Wirtschaftswissenschaftler sagen, dass es mit dem wirtschaftlichen Aufschwung auch so weitergehen wird, und zwar wegen, nicht trotz der Flüchtlinge, wie es gesagt wird. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Wirtschaftlich sind wir stark und werden es auch weiter bleiben. Das sage ich deutlich insbesondere in Richtung

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

derjenigen, die auf dem Rücken der geflüchteten Menschen widerwärtige Politik machen und Ängste schüren.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der LINKEN und den PIRATEN]

Es ist also keine Frage des Geldes, dass der Berliner Senat im Vergleich zu vielen anderen Städten, auch zu München oder Hamburg, das Krisenmanagement immer noch nicht so gut hinbekommt.

Einiges von dem, was wir hier erleben, ist hausgemacht. Es rächt sich jetzt, dass der Sozialsenator sich nicht wirklich für Soziales interessiert. Beispiele hierfür gibt es nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Ich habe Ihre Ansage sehr wohl vernommen, Herr Regierender Bürgermeister, dass es an der Spitze der Verwaltung in Sachen LAGeSo so nicht weitergehen kann. Diese Meinung teilen nicht nur wir, sondern diese Meinung teilt, glaube ich, die ganze Stadt.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den PIRATEN]

Wir brauchen eine tatkräftige Politik, die anpackend und konstruktiv ist, die Abläufe gut organisiert und das Chaos bitte nicht auch noch weiter vergrößert, wie es allzu oft der Fall gewesen ist. Da haben die letzten Wochen wenig Grund zur Hoffnung gegeben, Ihre Rede heute schon, muss man sagen. Wenn man sich anschaut: Die Gesundheitsversorgung, ein Dauerthema, ist bis heute nicht gut gelöst. Die Eröffnung des Gebäudes der ehemaligen Landesbank Berlin in der Bundesallee sollte eine Erleichterung sein. Anstatt der 1 000 Registrierungen finden aber heute nur rund 200 täglich statt, weil es an IT, an Personal, an Unterkünften usw. fehlt und weil die Organisation nicht stimmt.

[Zuruf von Christopher Lauer (PIRATEN)]