Protocol of the Session on September 10, 2015

Wir können gern noch über die Einzelfälle reden. Herr Henkel! Auch Sie haben die gemeinsame Erklärung der Landesvorsitzenden unterzeichnet. Auch Sie sprechen von rechtem Terror, der in unserem Land wütet. Verste

hen Sie mich nicht falsch! Es ist gut und richtig, dass wir eine gemeinsame Erklärung der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien gegen rechtsextreme und rassistische Hetze haben, und man kann solche Aufrufe zur Ermunterung der Anständigen nicht genug propagieren. Aber dann sollte man auch entsprechend handeln.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Herr Regierender Bürgermeister! Nicht einmal unbegleitete Minderjährige bekommen hier eine schnelle Unterbringung und Versorgung. Was macht da der Leiter des Krisenstabs? Was ist mit den Bemühungen um eine Gesundheitschipkarte, eigentlich ein originäres Thema für einen Gesundheitssenator? Ich könnte Ihnen noch viele weitere Beispiele nennen, bei denen diese Mischung aus Unwilligkeit, fachlicher Überforderung und mangelnder ressortübergreifender Bereitschaft zur Soforthilfe die Krisensituation erst geschaffen hat und nun verschleppt.

Der Senat muss endlich die Erfüllung seiner Aufgaben in den Griff bekommen. Dass man das auch kann, wenn man will, haben wir mit unseren Anträgen untermauert. Das große zivilgesellschaftliche Engagement ist ja leider nur die eine Seite unseres Landes. Es gibt auch in Berlin Menschen, die Angst und Sorgen haben. In dem Maße, wie der Staat bei dieser Herausforderung versagt, in dem Maße steigt die Gefahr, besorgte, schlechtinformierte Bürger in die Arme von Rechtspopulisten und Nazis zu treiben. Das muss nicht sein.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Es ist eine einfache Wahrheit: Die Bundesrepublik Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Da wird doch die Bundeshauptstadt Berlin imstande sein, ein wenig mehr als 1 Prozent seiner Bevölkerung zusätzlich aufzunehmen. Denken Sie mal darüber nach! Ja, meine Damen und Herren, Berlin kann das alles schaffen, wenn der Senat seine Arbeit ordentlich macht.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Für die Piratenfraktion jetzt der Kollege Delius!

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde, der gemeinsamen Aktuellen Stunde heißt: „Berlin hilft den Flüchtlingen: Für ein menschliches, weltoffenes und demokratisches Berlin“. Jedem, der im Sommer in der Stadt geblieben ist und beim LAGeSo und bei den Notunterkünften geholfen hat, dem ist klar, dass dieser Titel Quatsch ist. Es müsste

(Udo Wolf)

heißen: Die Berlinerinnen und Berliner helfen den Geflüchteten – und nicht die Stadt.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Die letzten Monate haben gezeigt – und das hat Kollege Wolf völlig richtig gesagt –, dass die vielen Helfenden von der Stadt und der politischen Spitze vor allen Dingen meist alleingelassen wurden. Seit wir in diesem Haus zum letzten Mal zusammensaßen, hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Nun endlich sieht es auch so aus, als gäbe es eine Wende in der Senatspolitik. Es macht den Anschein, als würde Berlin zur Handlungsfähigkeit zurückkehren. Aber unter welchen Bedingungen? Das ist die Frage, die uns hier beschäftigen muss.

Der Regierende Bürgermeister rechnet mit 1 000 Geflüchteten pro Tag – mehr jeden Tag –, und wir können damit rechnen, dass die Spitze noch nicht erreicht ist. Wir müssen auch damit rechnen, dass wir uns hier nicht in einer kurzfristigen Krise befinden, sondern vor einer langfristigen Aufgabe stehen, nämlich der menschenwürdigen und offenen Aufnahme von vielen neuen Berlinerinnen und Berlinern. Deshalb hätte ich eigentlich erwartet, dass der Regierende Bürgermeister heute zu uns spricht und uns erklärt, wie die gesamte Verwaltung und der gesamte Senat sich dieser Aufgabe stellen.

Vom Flüchtlingskonzept des Senats – das ist angesprochen worden – ist derzeit nicht mehr viel übriggeblieben. Nur zwei Beispiele: Der Innensenator setzt sich über den Beschluss hinweg und verbietet den Zugang von Geflüchteten zum Studium. Der Sozialsenator hat über den Sommer die Prämisse „Keine Zeltlager!“ gekippt und baut sogar noch angesichts der neuen Zahlen aus. Herr Regierender Bürgermeister! Ich hätte mir gewünscht – und ich hätte es von Ihnen erwarten können –, dass Sie mir erklären, wie Sie gedenken, die CDU-Kollegen hierbei wieder einzufangen, und vor allem, wie Sie das Chaos im Senat im Sinne der Geflüchteten und der Berlinerinnen und Berliner beseitigen.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Die Menschen, die zu uns flüchten – und das kann man nicht oft genug wiederholen –, haben ein Recht auf menschenwürdige Unterbringung, auf medizinische Versorgung, auf Betreuung, auf Beratung und auf Bildung. Sie haben diese Rechte, und sie haben Rechtsansprüche auf deren Durchsetzung. Keinem dieser Punkte werden das Land Berlin und seine Bezirke derzeit ausreichend gerecht. Gäbe es nicht viele Berlinerinnen und Berliner, die seit Monaten vor Ort unentgeltlich neben dem Job und auf eigenes gesundheitliches und finanzielles Risiko die Not zu lindern versuchen, wäre aus der humanitären Notsituation längst eine humanitäre Katastrophe geworden. Dafür gebührt ihnen unser Respekt und unsere Dankbarkeit.

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Gäbe es nicht die vielen Hilfsorganisationen wie den ASB, die Diakonie, die Malteser oder das DRK – und viele andere sind schon genannt worden –, wäre in den letzten Wochen den Geflüchteten kaum zu helfen gewesen. Diese Arbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, insbesondere dann – und das wissen wir auch alle, wir kennen die Aussagen und Berichte –, wenn man sich anguckt, unter welchen Bedingungen da gearbeitet wird. Wenn wir unsere Dankbarkeit – und die haben hier alle zu Recht ausgedrückt – für die Arbeit und die Hilfe zeigen wollen, dann machen wir am besten hier im Parlament und in den Verwaltungen unsere Arbeit. Dann bezahlen wir endlich die offenen Rechnungen bei ASB, DRK und Co. Dann sorgen wir dafür, dass die Initiativen in den Kiezen und Unterkünften wenigstens kompetent öffentlich koordiniert und unterstützt werden. Dann bringen wir denen, die bis zur völligen Erschöpfung eigentlich staatliche Aufgaben übernehmen, den Respekt entgegen, wenigstens zuzugeben, dass das System hier versagt hat, und ziehen daraus Konsequenzen.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Es ist richtig, mehr Erstaufnahmeeinrichtungen zur Verfügung zu stellen. Und dazu ganz speziell: Es ist völlig richtig, was der Finanzsenator – zusammen mit dem Parlament – hier kurzfristig und unbürokratisch gemacht hat, nämlich das Objekt in der Bundesallee nutzbar zu machen. Und nun müssen wir auch darauf achten, um zu verhindern, dass dort die Lage genauso schlimm wird wie am LAGeSo, dass frühzeitig Hilfsorganisationen, freiwillig Helfende ins Boot geholt werden. Die müssen in die Koordinierung einbezogen werden. Die freiwillig Helfenden und Vertreterinnen und Vertreter gehören auch endlich in den Koordinierungsstab im Land.

[Zuruf von Senator Mario Czaja]

Herr Czaja, Sie und Anwesenheit im Koordinierungsstab, genau!

[Heiterkeit von Oliver Höfinghoff (PIRATEN)]

Die Unterbringung in Zeltlagern und Hallen muss ein Ende haben. Daran führt kein Weg vorbei. Es gibt einfach keine Entschuldigung dafür, Zeltunterbringung wie in Spandau kurz vor dem Kälteeinbruch auch noch auszubauen. Auf keinen Fall können wir es uns leisten, dann auch noch Hangars in Tempelhof zu Massenunterkünften zu machen, wenn selbst der Regierende Bürgermeister zugibt, dass dafür die Ressourcen gar nicht da sind. Richtiger wäre, dort eine zentrale Spendensammlung einzurichten, die auch den Helfenden was nützen würde und den Geflüchteten sicherlich auch, und – das passiert zum Teil – an die Sportstätten und den Wohnungsleerstand der öffentlichen Unternehmen im Zweifel auch mit Beschlagnahme heranzugehen.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Es muss ganz klar sein: Alles, was keine ausreichenden sanitären Einrichtungen, keine verantwortungsbewussten und gut ausgerüsteten Betreiber und mindestens 9 m² Privatsphäre hat, muss ein Tabu bleiben. Wir wissen doch, dass die Provisorien zu Dauereinrichtungen werden, dass die Notunterkünfte längst zu Massenbehausungen geworden sind.

Perspektivisch muss klar sein: Wir brauchen die dezentrale Unterbringung. Dafür müssen wir Geld in die Hand nehmen. Zuallererst müssen Familien aus den Unterkünften in Wohnungen. Wie sonst – das erschließt sich jedem, der mal darüber nachgedacht hat, logisch – soll die obligatorische Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen überhaupt funktionieren?

Die Piratenfraktion hat dazu einen der vielen möglichen Vorschläge gemacht, den Sie heute diskutieren, annehmen oder in den Ausschüssen diskutieren können. Wir wollen an die Bestände der berlinovo. Das ist angesichts der Notlage sicherlich auch nichts Falsches. Ich wüsste nicht, was man dagegen haben kann.

[Beifall bei den PIRATEN]

Für die Zukunft muss eines klar sein: Die meisten Menschen, die heute auf der Flucht zu uns kommen, werden bleiben. Sie werden Berlinerinnen und Berliner werden. Sie werden hier Arbeit und Ausbildung suchen und hoffentlich auch finden. Sie werden die Stadt bereichern und verändern. Darauf könnte man sich freuen, wenn wir hier unsere Hausaufgaben machen würden. Die Geflüchteten von heute sind die wachsende Stadt und die Elternvertreterinnen und Elternvertreter, die Politikerinnen und Politiker, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmerinnen und Unternehmer und die Beamtinnen und Beamten von morgen. Die Stadt steht wegen ihnen nicht vor neuen Aufgaben, wie so schön heißt, sondern einfach nur vor größeren Aufgaben als bisher.

[Beifall bei den PIRATEN]

Die Notsituation zu lindern und den neuen Menschen in der Stadt eine Perspektive zu geben, braucht Mittel, die der aktuelle Doppelhaushalt – das gehört auch zur Wahrheit – überhaupt nicht abbilden kann, weil er längst überholt ist und weil er auf Prognosen beruht, die am Tag der Veröffentlichung schon überholt waren.

Wir fordern und wir brauchen stattdessen einen Hilfs- und Strukturfonds für die ganze Stadt zur Bewältigung der Aufgaben im Zusammenhang mit den Geflüchteten. Natürlich muss sich der Bund viel stärker daran beteiligen, als bisher zugesagt wurde. Es ist wohl jedem klar, dass wir mindestens bei einem dreistelligen Millionenbetrag bleiben werden. Aber die dringend benötigten Ausgaben kommen allen Berlinerinnen und Berlinern zugute und nicht nur den neuen. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Beifall von Katrin Schmidberger (GRÜNE)]

Für den Senat hat jetzt Herr Senator Czaja das Wort. – Bitte schön!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, in den letzten drei Monaten während unserer Sommerpause des Parlaments hat sich die Lage in der Welt noch einmal dramatisch verändert.

[Zuruf von den PIRATEN: Völlig überraschend!]

Die Welt wurde mit schrecklichen Bildern konfrontiert. Dazu gehört das Bild des dreijährigen Aylan Kurdi, der mit seiner Familie im Mittelmeer auf der Flucht starb. Dazu gehören aber auch die schrecklichen Bilder von dem Lkw, in dem über 70 Menschen zusammengepfercht erstickt sind. Und es gehören auch die Bilder von Stacheldraht und Zäunen in Ungarn dazu, die diejenigen Menschen abwehren, die vor Krieg und Vertreibung geflohen sind. Menschliche Schicksale, menschliche Tragödien, sie suchen Schutz und Zuflucht in Europa, sie suchen Schutz und Zuflucht in Deutschland. Deutschland gibt ihnen diesen Schutz. Berlin gibt ihnen diesen Schutz. Und Berlin heißt sie willkommen.

Aber Anfang September hat dies noch einmal eine neue Qualität erreicht. Im letzten Jahr erreichten uns in einem Monat so viele Flüchtlinge wie früher in einer Dekade. Im Juli kamen in einer Woche so viele Menschen wie früher in einem Jahr. Aktuell kommen an einem Tag so viele Menschen wie vor vier, fünf Jahren in einem Jahr.

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Es werden sicherlich bald wieder weniger, wo es nur noch Sachleistungen gibt!]

Die Ereignisse in Ungarn haben in den letzten Tagen dazu geführt, dass wir erstmals einen Zugang von mehr als 1 000 Flüchtlingen und Asylbegehrenden an einem Tag zu verzeichnen hatten. Es ist so, dass die Experten ihre Prognosen immer weiter nach oben korrigieren. Aber dies ändert ja nichts daran, dass es Länder, Kommunen und Gemeinden bundesweit vor enorme Herausforderungen stellt, im Übrigen völlig egal, welches Parteibuch welcher Verantwortliche im Bund und im Land hat.

Ja, dies hat auch unsere Verwaltung wie auch andere in anderen Bundesländern und das LAGeSo an ihre Grenzen gebracht. Eine derartige Situation war und ist mit den bisher vorhandenen Ressourcen und den herkömmlichen Mitteln auch nicht zu bewältigen. Sie wissen, dass wir darauf reagiert haben, schon vor der Sommerpause, schon

(Martin Delius)

vor der Entwicklung in Ungarn. Wir haben den Paradigmenwechsel in Berlin rechtzeitig eingeleitet.

[Zurufe von der LINKEN und den PIRATEN]

Wir haben die Unabhängigkeit des Landes zurückgewonnen, dass wir selbst bestimmen, wer Betreiber ist, und Objekte separat anmieten oder selbst bauen. Wir haben mit den Modularbauten im SIWA-Programm bereits Vorkehrungen für kleine, kieznahe und gleichzeitig integrierte Standorte getroffen.

[Zuruf von der LINKEN]

Wir haben mit der dauerhaften Einrichtung des TbcRöntgenmobils auf dem Gelände des LAGeSo eine zusätzliche Möglichkeit geschaffen, um frühzeitig Untersuchungen vorzunehmen. Und wir haben mit den Krankenkassen die Einführung der Chipkarte für Asylbegehrende bis Ende des Jahres vereinbart.

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Das hätten Sie schon vor zwei Jahren haben können!]