Protocol of the Session on September 10, 2015

[Allgemeiner Beifall]

Wir brauchen einen Flüchtlingspakt für Deutschland, einen Flüchtlingspakt in Berlin, der alle gesellschaftlichen Kräfte bündelt. Die Bundesregierung hat diese Verantwortung endlich anerkannt und sollte nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Der Bund muss sich dauerhaft strukturell an den Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen beteiligen und die Mittel für die soziale Wohnungsbauförderung erhöhen. Wir brauchen ein Bauprogramm für bezahlbare Wohnungen, und ich sage deutlich: für Flüchtlinge, aber nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Menschen, die heute schon auf Sozialwohnungen angewiesen sind. Denn diesen Konflikt dürfen wir nicht heraufbeschwören.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Alle sagen, wir brauchen schnellere Verfahren. Wenn man sich aber anschaut, dass beim BAMF, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 250 000 Anträge – dahinter verbergen sich ja Einzelschicksale und Menschen – auf ihre Bearbeitung warten und die Bearbeitungsdauer bei fünfeinhalb Monaten liegt, dann ist da noch viel zu tun, wie beispielsweise die sinnlosen Widerrufsverfahren zu streichen und Altfallregelungen zu schaffen.

Wir müssen die Asylverfahren wirksam entlasten, die Zuwanderung über das Asylsystem verantwortbar begrenzen und endlich Alternativen für eine geregelte Einwanderung nach Deutschland vor allem für diejenigen schaffen, die mit dem Ziel der Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen, aber mangels rechtlicher Alternativen bislang den Weg des Asylantrags gehen. Es braucht legale Wege nach Europa und nach Deutschland. Wir brauchen dringend ein Einwanderungsgesetz, das Arbeitsmigration ermöglicht.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Es dürfen nicht die Fehler der letzten Jahrzehnte wiederholt werden, die bei den sogenannten Gastarbeitern oder den Flüchtlingen, die schon hier sind, gemacht worden sind. Wir brauchen stattdessen eine gute Integrationspo

litik von Anfang an. Dazu gehört, die Realität anzuerkennen, dass viele der Menschen, die zu uns kommen, auch dauerhaft hier bleiben werden.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Auch wenn natürlich aufgrund der täglich neuen Zahlen die Unterbringung stark im Fokus steht, darf die Integration in Kita, Schule, Studium, Ausbildung und Arbeit nicht aus den Augen geraten. Niemals wieder sollten wir davon ausgehen, dass „diese Leute“, wie es manchmal heißt, schon wieder gehen würden, so wie damals bei den sogenannten Gastarbeitern. Viele werden bleiben. Kümmern wir uns früh darum, dass sie es auch können und hier nicht nur ihren Platz finden, sondern ein neues Leben und eine neue Heimat.

Es gibt viel zu tun, da gibt es nichts schönzureden. Wir stehen vor der größten Anstrengung, die wir kennen. Es wird Arbeit und Mühe kosten und nicht immer einfach sein. Heribert Prantl schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ vor einigen Tagen schon sehr weitsichtig:

Das Flüchtlingsproblem ist nicht nur ein Problem des Sommers 2015. Es ist das Problem des 21. Jahrhunderts.

Er hat wohl recht. Es gibt unglaublich viel zu tun. Aber ich bin optimistisch, dass wir es gemeinsam schaffen. Einwanderung muss gestaltet werden, damit aus den Flüchtlingen von heute Freunde, Nachbarn, Sportkameraden und Arbeitskollegen von morgen werden.

[Starker Beifall bei den GRÜNEN – Beifall bei der SPD und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion jetzt der Kollege Graf.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Über viele Monate sind wir alle Zeugen einer großen Flüchtlingswelle geworden. Menschen suchten nach lebensgefährlichen Überfahrten Schutz in Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei. Doch was wir jetzt erleben, ist ein wahrer Exodus. Aus Tausenden und Zehntausenden sind Hunderttausende geworden, die Europa als Zufluchtsort aufsuchen. Es ist unsere humanitäre Pflicht, es ist ein Gebot der Menschlichkeit, diesen Menschen, die vor Krieg und Terror, die vor Gewalt und lebensbedrohenden Zuständen aus ihren Heimatländern fliehen, aus ihrer Not zu helfen und sie hier willkommen zu heißen.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Ich bin sehr beeindruckt, wie viele private Organisationen, Hilfsorganisationen, auch Unternehmen wie zum Beispiel in den letzten Tagen Vattenfall, wie viele einzelne Bürger, aber natürlich auch staatliche Stellen sich dieser immensen Aufgabe tagtäglich mit größtem Engagement stellen. Die Berlinerinnen und Berliner wissen eben, was Mauern und Grenzen bedeuten, sie wissen, was Krieg, Zerstörung und die Trennung von Familien bedeuten. Sie haben eine besondere Form der Hilfsbereitschaft und Solidarität, und dafür können wir dankbar sein.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Das Bundesamt für Migration rechnet mit 800 000 Flüchtlingen, die allein in diesem Jahr nach Deutschland kommen – vier Mal so viele wie im vergangenen Jahr. Eine Abschwächung ist überhaupt nicht zu erwarten. Das liegt vor allem daran, dass es keine Anzeichen für eine positive Entwicklung in den Konfliktregionen des Nahen Ostens, am Horn von Afrika und in Nordafrika gibt. Spätestens nachdem mit der Öffnung der ungarischen Grenze in der vergangenen Woche weitere Flüchtlingsströme nach Westeuropa kommen, dürfte auch diese Prognose längst Makulatur sein. Es ist also auch für uns schwer absehbar, wie viele Flüchtlinge bis zum Jahresende nach Berlin kommen werden. Eines steht fest: Es werden deutlich mehr sein als ursprünglich erwartet, und es wird großer Anstrengungen bedürfen.

Zuallererst ist es unsere Aufgabe, die Menschen hier unterzubringen und sie angemessen zu versorgen. Ich betone aber auch: In einem zweiten Schritt ist zu klären, ob sie aufgrund des bestehenden Asylrechts dauerhaft hier bleiben können oder nicht. Hierfür brauchen wir in der Tat auch im Interesse der Menschen ganz dringend schnellere Verfahren.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Berlin stellt sich mit sämtlichen Kapazitäten den Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik. Es war gut und richtig, dass der Regierende Bürgermeister, der Sozialsenator und der Innensenator in der letzten Woche angesichts der dramatischen Entwicklung an der ungarischen Grenze einen Notfallplan präsentiert haben. Dieses zügige und kompromisslose Handeln hat dafür gesorgt, dass Berlin diesem zusätzlichen Flüchtlingsstrom aus Budapest nicht unvorbereitet gegenübersteht. Der vor vier Wochen eingerichtete Koordinierungsstab tagt inzwischen rund um die Uhr, um schnellstmöglich auf die ständig neuen Herausforderungen, neuen Lagen vorbereitet zu sein.

(Ramona Pop)

Ich möchte an dieser Stelle Sozialsenator Czaja hervorheben, der die in seiner Verantwortung liegenden Herausforderungen gut bewältigt.

[Unruhe bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Er hat trotz der täglich steigenden Flüchtlingszahlen, trotz dieser Herausforderungen mit den Bezirken für eine angemessene Unterbringung gesorgt.

[Martin Delius (PIRATEN): Angemessen?]

Er hat das LAGeSo neu strukturiert, es personell aufgestockt, er hat es vermocht, die ehrenamtlichen Helfer zu koordinieren. Herr Senator! Wir sagen Ihnen auch die Unterstützung bei den Haushaltsberatungen zu. Ich denke, das war auch gestern Thema im Hauptausschuss. Herzlichen Dank!

[Starker Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Das deutsche Grundgesetz zeichnet sich durch ein hohes Maß an Humanität aus. In Deutschland wird das Asylrecht nicht nur wie in vielen anderen Staaten aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gewährt, sondern hat als Grundrecht Verfassungsrang. Artikel 16a GG beinhaltet das Grundrecht auf Asyl für diejenigen, die vor Krieg und Terror aus ihrem eigenen Land fliehen müssen, für diejenigen, die aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden. Für uns gilt: Die Menschenwürde eines jeden ist unantastbar. Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde von anderen Menschen infrage stellen oder Angst gegenüber unbekannten Menschen schüren. Ich betone: Wir werden keine Intoleranz, keinen Hass und keine Gewalt dulden. Übergriffe und Angriffe auf Menschen oder Sachen, die im Zusammenhang mit Flüchtlingen stehen, werden wir mit der gesamten Härte des Rechtstaats verfolgen und sanktionieren – nicht nur heute, sondern an jedem anderen Tag in der Zukunft.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN – Udo Wolf (LINKE): Das wäre mal schön! – Zuruf von Martin Delius (PIRATEN)]

Um jedoch auch in der Zukunft den Herausforderungen von Flucht und Vertreibung gerecht werden zu können, müssen diejenigen, deren Asylantrag offenkundig, jedenfalls nach der bestehenden Gesetzeslage, unbegründet ist, auch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Ich begrüße deshalb, dass die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD sich darauf verständigt hat, die Liste der sicheren Herkunftsländer um Kosovo, Albanien und Montenegro zu erweitern.

[Anja Kofbinger (GRÜNE): Großartig!]

Meine Fraktion hat das bereits vor einigen Monaten gefordert. Dieser Schritt hin zu einer Ausweitung der Liste

der sicheren Herkunftsstaaten sowie eine damit einhergehende Verfahrensbeschleunigung sind dringend notwendig, denn nur dadurch ist es möglich, die Menschen, die die Flucht aus ihrer Heimat ergreifen mussten, bei uns aufnehmen zu können. Ich meine, wir brauchen auch in Berlin dringend einen Standort für eine zentrale Erstaufnahmestelle, ein sogenanntes Ausreisezentrum für die Flüchtlinge aus dem Westbalkan.

[Beifall bei der CDU – Martin Delius (PIRATEN): Schäbig! – Udo Wolf (LINKE): „Willkommenskultur“ nennen Sie das? – Weitere Zurufe von den GRÜNEN und der LINKEN]

Ich weiß gar nicht, was Sie sich so empören. Das ist das, was die rot-grüne Landesregierung in NordrheinWestfalen gerade einrichtet.

[Starker Beifall bei der CDU – Martin Delius (PIRATEN): Ja, es ist schäbig! – Weitere Zurufe von der LINKEN und den PIRATEN]

Sie tut das aus der Verantwortung für die Menschen heraus, weil ihnen kein Gefallen damit getan wird, wenn sie aufgrund verlängerter Verfahren hier bleiben, obwohl sie wissen, dass sie zurückkehren müssen, weil wir die Kapazitäten für diejenigen brauchen, die aus Krieg und Verfolgung zu uns kommen. Das ist das, was Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen macht und was auch keine Symbolpolitik ist, liebe Frau Kollegin Pop!

So ist das Asylrecht. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Laut einer Umfrage der vergangenen Woche von Infratest Dimap spricht sich eine überdeutliche Mehrheit von über 96 Prozent für die Aufnahme der Menschen aus, die aufgrund politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung zu uns kommen. Gleichzeitig ist aber auch eine große Mehrheit von 79 Prozent für eine konsequentere Abschiebung derjenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Das ist die Schlussfolgerung des Asylrechts. Und es gehört auch zur Wahrheit dazu, den Menschen zu sagen, wenn sie offenkundig keinen Anspruch auf Asylrecht haben, weil wir den Schwerpunkt auf diejenigen Menschen legen müssen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und deshalb hierher zu uns kommen.

[Beifall bei der CDU]

Uns allen muss wiederum klar sein: Viele von den Menschen, die vor Krieg und Verfolgung zu uns geflohen sind, werden hier bleiben. Sie werden sich integrieren müssen, und hierfür brauchen wir in der Tat langfristige Konzepte: Konzepte der Integration, des Spracherwerbs, der Ausbildung,

[Steffen Zillich (LINKE): Wo denn?]

der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Hier tut der Senat sehr viel. Ich will nur auf die beispielhaften Willkommensklassen, die eingerichtet wurden, hinweisen;

[Martin Delius (PIRATEN): Ha, ha! Was ganz Neues!]

ich will auf das Programm Arrivo hinweisen – alles Maßnahmen, die wir mit dem Haushalt gemeinsam voranbringen werden.

Ich möchte aber auch zum Stichwort Finanzierung noch etwas sagen, gerade, Herr Regierender Bürgermeister, auch mit Blick auf den Gipfel mit der Kanzlerin in zwei Wochen. Der Bund muss für eine auskömmliche Finanzierung der Bewältigung der Flüchtlingszahlen sorgen. Er stellt jetzt 3 Milliarden Euro für die Länder und Kommunen zur Verfügung. Das ist eine wichtige Hilfe, aber sie wird nicht ausreichen, um diese Gemeinschaftsaufgabe vollständig zu erfüllen. Ich denke, das wird ein Thema auf der Konferenz der Ministerpräsidenten bei der Kanzlerin sein.

Berlin, Deutschland und Europa stehen vor Herausforderungen einer neuen Dimension. Es ist unser aller humanitäre Pflicht, den Flüchtlingen eine sichere Zuflucht zu gewähren. Darüber hinaus muss es auch eine konsequente Bekämpfung der Fluchtursachen in den hauptsächlichen Herkunftsländern geben, da wir nur so eine langfristige Verbesserung erreichen können.

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Noch mehr Internie- rungslager und Boote abschießen!]

Wir brauchen in Europa zwingend eine einheitliche europäische Asylpolitik. Wir brauchen gemeinsame Registrierungszentren. Wir brauchen eine faire Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union. Es ist wichtig, dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs baldmöglichst auf eine Liste sicherer Herkunftsländer einigen. Und wir müssen auch die konsequente Bekämpfung von Schleuserkriminalität weiter vorantreiben.