Protocol of the Session on May 28, 2015

Wir haben kein Erkenntnisdefizit. Wir haben auch kein Defizit an guten Konzeptionen, die auf dem Papier stehen. Wir haben ein Finanzierungsdefizit, ein Umsetzungsdefizit und ein Kontrolldefizit wie in vielen anderen Bereichen auch, und das muss sich ändern.

Auch das stimmt heute noch, denn an all diesen Punkten, die ich damals festgestellt habe, hat sich nichts geändert.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wir haben in der Tat, und das heftet sich die Koalition an die Brust, eine erfreuliche Zunahme des Fahrradverkehrs. Gut, das gehört zum Geschäft einer Regierung, dass sie sagt, alles, was es an positiver Entwicklung in der Stadt gibt, haben wir gemacht.

[Udo Wolf (LINKE): Auch das Wetter!]

Sei es euch gegönnt! Das eigentliche Problem ist aber, dass das, was die öffentliche Hand leisten müsste – die notwendige Infrastruktur, die notwendigen Investitionen, damit der Zuwachs an Menschen auch bewältigt werden kann und auch weiteres Optimierungspotenzial vorhanden ist –, nicht geschieht. Das bleibt vielmehr weit hinter den Erfordernissen zurück. Wir haben überlastete Fahrradwege, und wir haben mittlerweile Staus auf den

(Stefan Gelbhaar)

Fahrradstreifen. Es ist teilweise eine unmögliche Situation, wenn man sich das auf den Fahrradwegen anguckt. Sie sind zu den Hauptverkehrszeiten, wo Leute mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zum Studium fahren, völlig überlastet. Und insofern sage ich: Wer es ernst nimmt, dass der Fahrradverkehr ein wesentlicher Verkehrsträger im städtischen Verkehr und für die Gewährleistung städtischer Mobilität sein muss, der muss mehr für die Infrastruktur tun, und da bleibt der Senat weit hinter den Anforderungen zurück.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wir haben einerseits zu wenig Mittel in Anbetracht der Anforderungen, gleichzeitig ist es aber so – und das wissen alle –, dass auch dann, wenn wir noch mehr Mittel in den Haushalt hineinschreiben würden, diese Mittel nicht verbaut würden, weil wir zu wenig Personal haben, dass diese Maßnahmen plant und die Umsetzung gewährleisten kann. Deshalb werden gegenwärtig die zu geringen Mittel noch nicht einmal zu 100 Prozent verausgabt.

An dieser Stelle muss sich etwas ändern, denn das ist ein Grundproblem, das wir im Land Berlin haben. Wir haben in der Verkehrsinfrastruktur und insgesamt in der städtischen Infrastruktur aufgrund der Finanzlage in der Vergangenheit einen Investitionsrückstand, den wir dringend bewältigen müssen, und es fehlt das Personal, um das zu leisten, um das zu planen und um die Entwicklung zu gewährleisten. Das zeigt sich auch im Bereich der Fahrradinfrastruktur, und diese Aufgabe muss dringend angepackt werden.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Aber auch da, wo etwas getan wird, ist es unzureichend. Es gibt neue Fahrradstreifen. Richtig! Es sind allerdings zu wenige, und häufig ist es so, dass diese Fahrradstreifen an der Kreuzung im Nichts enden oder dass sie sogar wieder auf die Bürgersteige umgeleitet werden und damit das, was der Sinn dieser Fahrradstreifen ist, nämlich die Risikostelle beim Abbiegeverkehr an den Kreuzungen zu überwinden, nicht erreicht wird, sondern der Fahrradverkehr wird genau wieder in diese Gefahrenstelle geleitet. Das muss geändert werden. Es muss eine klare Konzeption vorhanden sein, und da muss man dann natürlich auch in den Konflikt mit dem Autoverkehr gehen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Man kann nicht einfach sagen, es gebe kein Gegeneinander, sondern es gibt reale Konflikte zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern, und diese Konflikte müssen gelöst werden. Dabei muss man auch Prioritäten setzen, und die müssen sich dann auch im Kreuzungsbereich und in der Breite der Fahrradstreifen auswirken.

Das zweite große Thema ist das Kontrolldefizit. Es ist ja wunderbar, wenn wir Fahrradstreifen haben, aber wenn

sie zu bestimmten Zeiten hauptsächlich als Parkplatz genutzt werden und die Fahrradfahrer gezwungen sind, entweder wieder auf die Fahrbahn auszuweichen, die von den Autofahrern genutzt wird, oder auf den Bürgersteig auszuweichen, führt das zu weiteren Gefahrenstellen und unfallträchtigen Stellen. Deshalb müssen endlich Kontrollen stattfinden – gegenwärtig findet gar keine Kontrolle statt – und Sanktionen verhängt werden, damit den Autofahrern bewusst wird, dass der Fahrradstreifen keine freie Parkfläche, sondern der Weg ist, auf dem sich die Fahrradfahrer bewegen müssen und der für die Mobilität vorgehalten werden muss.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Da muss man die Autofahrer auch mal dahingehend erziehen, dass sie gefälligst auf dem Fahrstreifen und nicht auf dem für die Fahrradfahrer reservierten Weg parken.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Zurufe von den PIRATEN)]

Das Thema Verkehrsschule ist ja sowohl von Herrn Kreins wie von Herrn Friederici angesprochen worden. Dazu sage ich: Wir müssen uns auch mal um die Situation der Jugendverkehrsschulen in den Bezirken kümmern. Die sind gegenwärtig überwiegend über Arbeitsmarktmittel finanziert.

[Burgunde Grosse (SPD): Genau!]

Wenn man das aber wirklich ernst nimmt und sagt, dass das ein wesentlicher Beitrag zur Verkehrssicherheit innerhalb dieser Stadt und zur Verkehrserziehung ist, dann muss man dafür sorgen, dass die Jugendverkehrsschulen auch personell sicher ausgestattet sind und finanziert werden.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wenn wir über die Fahrradinfrastruktur und die Sicherheit für Fußgänger reden, muss man auch über die Möglichkeiten nachdenken, die wir mittlerweile an einigen Kreuzungen in Berlin als Versuch haben, nämlich eine Blinkschaltung bei den Ampeln für den Abbiegerverkehr, um darauf aufmerksam zu machen, dass hier Konflikte sind, oder versetzte Ampelphasen, sodass man erst mal den Fahrrad- und Fußgängerverkehr über die Kreuzung gehen lässt und dann erst Grün für den Autoverkehr gibt.

[Beifall von Burgunde Grosse (SPD)]

Das gehört zu einer sinnvollen Infrastruktur, und das setzt allerdings voraus, dass man bereit ist, auch den Konflikt auszuhalten, den man mit dem motorisierten Individualverkehr an dieser Stelle dann hat, denn der Raum für den motorisierten Individualverkehr wird durch derartige Vorrangschaltungen und durch die Ausweitung der Flächen für den Fahrradverkehr und die Fußgänger zurückgedrängt. Wir wollen das. Wir wollen eine klare Priorität für den Umweltverbund.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Herr Kreins! Sie haben die Unfallkommission angesprochen. Ich habe mir das noch mal angeguckt. Die Unfallkommission hat in den letzten neun Jahren 500 – ich sage jetzt mal – gefährliche Orte identifiziert. In diesen neun Jahren sind 90 Maßnahmen ergriffen und zu Ende gebracht und 23 Maßnahmen teilweise umgesetzt worden. Das sind pro Jahr weniger als 15 Maßnahmen – bezogen auf 500 Unfallschwerpunkte. Das ist eindeutig zu wenig, und ich finde, wir müssen mal intensiv darüber diskutieren, woran es liegt, dass wir hier eine so langsame Bearbeitung haben. 500 Unfallschwerpunkte – 15 Bearbeitungen pro Jahr!

[Zuruf von Ole Kreins (SPD)]

Wie bitte? –

[Ole Kreins (SPD): Weil es nicht immer baulich begründet sein muss, sondern auch am Verhalten liegt!]

Nein, nein! Natürlich hat ein Unfall auch etwas mit dem Verhalten der Verkehrsteilnehmer zu tun. Aber die Unfallkommission identifiziert ja Unfallschwerpunkte, und Sie können mir nicht sagen, dass Unfallschwerpunkte dadurch entstehen, dass sich an bestimmten Punkten die Verkehrsteilnehmer besonders unvernünftig benehmen, sondern das liegt ganz wesentlich daran, dass auch die Infrastruktur nicht stimmt, sodass es um bauliche Maßnahmen, um Vorrangschaltung etc. gehen muss.

Mein letzter Punkt – ich habe es schon mal kurz angesprochen –: Sowohl Kollege Friederici als auch Kollege Kreins haben gesagt, dass sie kein Gegeneinander der verschiedenen Verkehrsträger und Verkehrsmittel wollen. Ich sage: Wir brauchen eine klare politische Priorität für den Umweltverbund aus Fußgängerverkehr, Fahrradverkehr und dem öffentlichen Personennahverkehr. Das muss die Priorität sein. Das heißt auch, Konflikte auszustehen und den motorisierten Individualverkehr zurückzudrängen, indem man die Infrastruktur und das Verkehrsangebot im Umweltverbund verbessert und damit entsprechend attraktiv macht. Das wollen wir, aber das heißt auch, Konflikte im Verkehrssystem auszuhalten und durchzustehen. Ich glaube, das fehlt noch – sowohl bei der Verkehrslenkung, in der Verkehrsplanung und in der Investitionspolitik –, und wir wollen, dass das in Zukunft umgesetzt wird.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für den Senat hat jetzt der Herr Senator Geisel das Wort. – Bitte schön!

[Udo Wolf (LINKE): Dann wird es jetzt das Zehnpunkteprogramm geben!]

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde die Debatte, die wir heute führen, wichtig, denn fraktionsübergreifend wird ja der Ausbau des Radverkehrs als wichtig angesehen. Trotzdem ist es erstaunlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind. Ich nehme Berlin als eine Stadt mit wachsendem Radverkehr wahr. Direkt vor dem Abgeordnetenhaus ist ein Leihfahrradsystem aufgebaut worden. Sie nehmen es jeden Tag wahr, aber trotzdem wollen die Piraten null Punkte für die Radverkehrsförderung vergeben.

[Martin Delius (PIRATEN): Das waren nicht wir!]

Ich teile eher die Wahrnehmung aus dem europäischen Ausland, das Berlin dafür bewundert, was hier in den vergangenen 10 bis 15 Jahren im Bereich des Radverkehrs passiert ist.

Herr Gelbhaar! Dass ich den Weg des geringsten Widerstands gehe, ist mir in den letzten sechs Monaten auch noch nicht gesagt worden.

Um das mit der IHK aufzuklären: Ich habe in der IHK eine Diskussion gehabt, und dort haben mir die versammelten Unternehmerinnen und Unternehmer gesagt, es müssten mehr Straßen gebaut werden und – auch ausdrücklich – es müsste im öffentlichen Personenverkehr mehr geschehen. Ich habe denen dann gesagt, dass sie sich zu Wort melden sollen, damit sie gehört werden; denn die Radfahrer melden sich zu Wort. Und dass sie sich zu Wort melden, ist heute hier in der Debatte eindeutig zu sehen.

Radverkehr – das ist schon gesagt worden – ist ein ganz wichtiger Baustein in einer ökologischen und zukunftsorientierten Verkehrspolitik. Wir haben uns im Entwurf des Energiewendegesetzes vorgenommen, Berlin bis 2050 klimaneutral zu machen. Ein wichtiger Bestandteil, ein wichtiger Baustein dabei ist der Ausbau des Radverkehrs, weil er emissionsarm ist, weil er in Sachen Lärmschutz herausragende Bedeutung hat, weil er flächen- und ressourcenschonend ist.

Wir stehen aber vor einer Herausforderung. Da unterscheiden wir uns in der Tat. Es geht um die Herausforderung, die verschiedenen Mobilitätsarten, die wir in der Stadt haben, intelligent miteinander zu kombinieren. Was ich nicht möchte, ist, mich auf die Seite des ADAC zu stellen und zu sagen, der motorisierte Individualverkehr muss ausgebaut werden, der Verkehr muss fließen. Was ich aber auch nicht möchte, ist, mich auf die Seite des ADFC zu stellen und zu sagen, wir müssen die Autofahrer ordentlich quälen, damit sich die Situation in der Stadt verbessert. Nein, es kommt darauf an, die verschiedenen Mobilitätsarten, die wir in der Stadt haben, so miteinander zu kombinieren, dass wir die gemeinsam vertretenen

(Harald Wolf)

Ziele auch tatsächlich erreichen und nicht versuchen, die anderen bzw. die einzelnen gegeneinander auszuspielen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Der Fahrradverkehr in Berlin hat rapide zugenommen, vor allem in der Innenstadt. Die Nutzungszahlen gehen kontinuierlich nach oben. Wir haben gerade im vergangenen Jahr eine Zählung in der Mitte der Stadt gehabt. Diese hat noch mal gezeigt, dass dort der Radverkehr signifikant angestiegen ist. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Anteil des mittels Radverkehr zurückgelegten Weges in der Stadt nahezu verdoppelt. 1,5 Millionen Wege werden täglich in Berlin mit dem Rad zurückgelegt.

Wir haben Stadtteile, in denen der Radverkehr inzwischen die 25-Prozent-Marke übersteigt, Mitte, Schöneberg und Friedrichshain. Wir haben unstrittig auch Stadtteile in Berlin, in denen wir noch deutlich zurückliegen. Dort liegen wir noch deutlich hinter unseren Zielen beim Ausbau des Radverkehrs zurück. Das ist völlig unbestritten.

Ziel des Senats in der hier schon zitierten Radverkehrsstrategie ist, dass 20 Prozent aller Wege in der Stadt per Rad zurückgelegt werden. Unstrittig ist auch, dass Radverkehr Geld braucht. Das Geld steht auch bereit. Die Behauptung, die hier heute verschiedentlich aufgestellt worden ist, Berlin investiere nur 6 Millionen Euro pro Jahr in den Radverkehr – der ADFC sagt 1,7 Euro pro Einwohner und Jahr, Herr Baum sagte: 2,24 Euro pro Einwohner und Jahr –, ist falsch. Ein einfacher Blick in den Landeshaushalt reicht. Wir geben 4 Millionen Euro pro Jahr für die Verbesserung der Infrastruktur für den Radverkehr aus, 2 Millionen Euro im Sonderprogramm für die Sanierung von Radwegen, 5,5 Millionen Euro für GRW-geförderte Radrouten, 300 000 Euro für Bike-andRide-Anlagen, 500 000 Euro für das Projekt E-BikePendeln, 1 Million Euro für das öffentliche Fahrradverleihsystem. Unter dem Strich finanziert Berlin den Radverkehr im Jahr 2015 direkt mit 14 Millionen Euro. Das sind 4 Euro pro Einwohner und Jahr.

Noch nicht darin enthalten sind die Maßnahmen für den Radverkehr aus den Unterhaltungsmitteln der Bezirke, aus den Investitionsmitteln des allgemeinen Straßenbaus, aus dem Straßeninstandsetzungsprogramm, aus unserem Städtebauförderprogramm aktive Zentren und anderen. Wir sind auf einem guten Weg, die angestrebte Zielmarke von 5 Euro pro Einwohner und Jahr tatsächlich zu erreichen.