Protocol of the Session on May 28, 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Ich eröffne die 65. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Ich freue mich außerordentlich, heute eine Gruppe von Gästen aus Israel begrüßen zu können, die unsere Stadt im Rahmen des LSB-Jugendtauschprogramms BerlinJerusalem besucht und heute Morgen bereits ein sportpolitisches Gespräch in unserem Hause hatte. – Herzlich willkommen!

[Allgemeiner Beifall]

Dann habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Dienstag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Industriestadt Berlin“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Industriestadt Berlin“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „Schüler, Lehrer, Eltern – alle wollen bessere Schulen. Senat ist überfordert, Koalition zerstritten!“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Trotz steigender Mieten und Volksbegehren – Senat weiter ohne Konzept“

− Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „Fahrradverkehr in Berlin – null Punkte für den Senat“

Die Fraktionen haben sich im Ältestenrat auf die Behandlung des Antrags der Piratenfraktion verständigt, sodass ich dieses Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagespunkt 1 aufrufen werde. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Ich darf Sie auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Vom Senat ist für die heutige Sitzung entschuldigt: Herr Finanzsenator Dr. Kollatz-Ahnen, abwesend ab ca. 18.30 Uhr. Grund ist die Dienstreise zur Jahresfinanzministerkonferenz in Neustadt.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

„Fahrradverkehr in Berlin – null Punkte für den Senat“

(auf Antrag der Piratenfraktion)

in Verbindung mit

Sofortprogramm „Sicherheit für den Radverkehr“

Dringlicher Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2287

Wird hier der Dringlichkeit widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Für die Besprechung der Aktuellen Stunde bzw. die Beratung des Antrags steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Piratenfraktion. – Herr Kollege Baum, bitte schön, Sie haben das Wort!

Vielen Dank! – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Piraten setzen uns für eine vernünftige, ökologische und vor allem bezahlbare Mobilität in der Stadt ein.

[Beifall bei den PIRATEN]

Das bedeutet für uns, dass alle Verkehrsteilnehmer einen gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Zugang zur Verkehrsinfrastruktur bekommen. Für den einen bedeutet das die Nutzung von Bus und Bahn, der Nächste steigt ins Auto oder aufs Motorrad, andere gehen zu Fuß, und viele steigen aufs Fahrrad. Wie ÖPNV fahrscheinlos funktioniert, erkläre ich Ihnen gerne auf unserer Veranstaltung am 26. Juni 2015 zu dem Thema. – Heute aber: Fahrradverkehr in Berlin – null Punkte für den Senat.

Wie peinlich ist das denn? – Null Punkte – wer bekommt schon gerne null Punkte? Aber leider kommt trotz vieler bunter Broschüren und Konzepte auf den Straßen nichts an. Das Thema Radverkehr ist auf einem abenteuerlichen Schlingerkurs, denn einerseits beschließt der Senat ein Radverkehrskonzept, andererseits setzt er den Fahrradbeauftragten ab. Einerseits wird ein Onlinedialog zum Thema Abbiegeunfälle und Radfahrer gestartet mit dem Ziel, Unfallschwerpunkte zu entschärfen. Auf der anderen Seite werden die im Haushalt eingestellten Mittel nicht abgerufen und verbaut. Einerseits beschließt der Senat, 5 Euro pro Einwohner pro Jahr für den Radverkehr ausgeben zu wollen, andererseits werden in den Haushalt aber nur 2,24 Euro eingestellt, und das auch nur mit Unterstützung des Parlaments. Das passt alles nicht zusammen.

Da verwundert es auch nicht, dass der Senat nun selbst nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht, und die eigenen Ziele nicht erreicht. Sogar beim Fahrradklimatest ist Berlin auf einmal abgerutscht vom bedauernswerten 24. Platz auf den traurigen 30. von 39 Plätzen. Gerade in den letzten Wochen gab es wieder eine Häufung von schwersten Unfällen mit Radfahrern. Das Klima im Straßenverkehr wird immer rauer, und kommen Sie mir nicht mit „Kampfradlern“. An vielen Stellen ist die Fahrradinfrastruktur noch immer darauf ausgelegt, dass gerade diese Konflikte entstehen, statt dass sie entschärft werden.

[Beifall bei den PIRATEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Die Fahrradpolitik des rot-schwarzen Senats ist kein Schönwetterthema, sondern ein alltägliches Ärgernis und alltägliche Gefahrenquelle für Hunderttausende Radfahrerinnen und Radfahrer in Berlin. Ich frage mich, wann kommt die Erfolgsgeschichte des Kollegen Kreins denn eigentlich auf der Straße an, von der Sie so gerne sprechen? Im Januar dieses Jahres haben Sie, Herr Friederici von der CDU, sich sogar zu der Behauptung verstiegen

[Oliver Friederici (CDU): Hier!]

ja, ich sehe Sie –, die Berliner Radverkehrsinfrastruktur sei beispielhaft in Deutschland.

[Oliver Friederici (CDU): So ist es!]

Sind Sie schon einmal in Münster, Karlsruhe oder Freiburg Fahrrad gefahren? Fahren Sie in Berlin Fahrrad? Wen zitieren Sie eigentlich mit dieser Aussage?

[Zuruf von Ole Kreins (SPD)]

Herr Kreins! Ich glaube, Sie kommen später noch zu Wort. Ich verstehe Sie so schlecht hier vorne.

[Ole Kreins (SPD): Tut mir leid!]

Und trotzdem: Die Zahl der Radfahrerinnen und Radfahrer steigt. Sie haben aber nichts von wohlklingenden Worten in Maßnahmekatalogen. Eine Reihe von Anfragen hat gezeigt, wie groß der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Radfahrstrategie ist. Elf von zwölf Bezirken verfügen über kein für Radverkehrsplanung qualifiziertes Personal. Pro Jahr werden gerade einmal vier neue Radwege oder Radfahrstreifen fertiggestellt – ein schlechter Scherz angesichts des rasant anwachsenden Radverkehrs. Angekündigte Modellprojekte wurden gar nicht erst begonnen. Gerade einmal die Hälfte der Fahrradhauptrouten, das Herzstück der Radverkehrsstrategie, was Sie so gerne hier auch immer wieder verkünden, ist fertiggestellt. Bis 2017 werden es höchstens 13 der angekündigten 20 sein. Wo bleibt denn da Ihr eigener Anspruch an Ihre eigenen Beschlüsse?

[Beifall bei den PIRATEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Trotzdem lehnt der Senat immer wieder Anträge ab, die Infrastruktur für den Radverkehr auszubauen, gerade auch mit dem Verweis auf die Fahrradrouten.

Vom Ziel des Senats, alle Hauptverkehrsstraßen zumindest mit Radverkehrsstreifen auszustatten, sind wir, wie der Kollege Gelbhaar ausgerechnet hat, Jahrzehnte entfernt. Es ist traurig, dass es an dieser Stelle immer noch so viel zu tun gibt. Bei der Recherche bin ich auf einen Antrag der CDU-SPD-Regierungskoalition gestoßen, 1991: Fahrradstraßenhauptnetz in Berlin.

[Oliver Friederici (CDU): Da gab es Sie noch gar nicht!]

Da gab es auch noch andere Anträge, z. B. damit Blinde auch im Fußverkehr Radverkehrsanlagen besser erkennen können. Auch das ist an vielen Stellen noch nicht erfolgt. Da frage ich mich: Ist die Zeit stehengeblieben?

Es verwundert auch nicht, dass der Unmut über diese „Fahrradnichtpolitik“ wächst. Über 27 000 Menschen haben sich am Onlinedialog zu Konfliktschwerpunkten für Radfahrerinnen und Radfahrer beteiligt. Deutschlandweit befürworten übrigens laut einer aktuellen Studie des Bundesumweltamts 82 Prozent die Forderung, Städte rad- und fußverkehrsfreundlich umzubauen. Ich frage mich, ob da nicht auch der eine oder andere CDU- oder SPD-Wähler dabei ist.

[Beifall bei den PIRATEN]

Paris hat gerade angekündigt, in den kommenden Jahren 150 Millionen Euro in den Radverkehr zu investieren – und das nicht ohne Grund. London hat ein ambitioniertes Fahrradhighway-Programm beschlossen. In Kopenhagen und Amsterdam werden seit vielen Jahren innovative Lösungen für den Radverkehr in ungleich engeren Verkehrsräumen als in Berlin umgesetzt – mit dem Ergebnis hoher Radverkehrsanteile bei sehr niedrigen Unfallzahlen.

Das Parken in der zweiten Reihe und das Zuparken von Radwegen ist eines der größten Ärgernisse für Radfahrerinnen und Radfahrer in der Stadt. Dem Senat ist das seit der „Radspuren-frei-Kampagne“ von BUND und ADFC und den Reaktionen auf seinen Onlinedialog für Fahrradsicherheit hinlänglich bekannt. Trotzdem ist im Stadtbild nicht wahrzunehmen, dass dieses Problem konsequent angegangen wird. Versuchen Sie mal, mit einem Fahrrad in zweiter Reihe zu parken! – Es dauert keine fünf Minuten, bis der Blaulichtwagen da ist. Autos stehen in der Oranienstraße durchaus 20 Minuten und länger.

Abbiegende Autos und Lkws sind seit Jahren häufigste Unfallursache für Radfahrerinnen und Radfahrer. Auch das ist dem Senat bewusst: Mit der Auswertung des Onlinedialogs hat der Senat selbst eine Liste der Top-10- und der Top-30-Konfliktschwerpunkte für Radfahrerinnen und Radfahrer erstellt und versprochen, sie zügig abzuarbeiten. Die Probleme sind bekannt, doch gehandelt wird nicht. Ein Jahr ist vergangen, und kein einziger Konfliktschwerpunkt wurde entschärft. In einem Leitfaden zur Sicherung des Radverkehrs vor abbiegenden Kfzs, der zugegebenermaßen sehr schön die möglichen Handlungsoptionen aufzeigt, bebildert und nach

verschiedenen Kriterien bewertet, ist aber zu erkennen, dass bei der Vielzahl der abgebildeten Lösungen nur vier aus Berlin kommen – einer ist der Onlinedialog –, aber 53 außerhalb Berlins stattfinden. Das sind reale Bilder aus dem Straßenverkehr, und man müsste im Prinzip nur das machen, was woanders schon passiert. Aber sogar das passiert nicht!

Deswegen haben wir hier das Sofortprogramm „Sicherheit für den Radverkehr“ zur Abstimmung gestellt. Entschärfen Sie noch in diesem Jahr die zehn gefährlichsten Konfliktschwerpunkte und arbeiten Sie bis Ende 2016 die ganze Top-30-Liste ab, Herr Geisel!

[Beifall bei den PIRATEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Beenden Sie das Chaos an Orten, an denen Radverkehrsanlagen abrupt enden und Radfahrerinnen und Radfahrer gezwungen sind, sich unter den gefährlichsten Umständen in den fließenden Verkehr einzuordnen! Markieren Sie Radwege auf dem Fahrweg und sorgen Sie so für bessere Sichtbarkeit an Kreuzungen! Weisen Sie Tempo 30 an Unfallschwerpunkten aus! Qualifizieren Sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verkehrslenkung Berlin für radverkehrsfreundliche Anordnungen – nicht nur, aber gerade an Baustellen! Lehnen Sie diejenigen Anträge ab, die nicht den Vorgaben entsprechen und für Radfahrer gefährlich sind!