Es ist ganz erstaunlich, wie Beifall an dieser Stelle verteilt war. Ich habe eben den Bundesinnenminister aus der Bundestagsdebatte von gestern zitiert. Es kommt offensichtlich in diesem Haus auch darauf an, wer welche Position sagt, und nicht, welche Position er vertritt,
Wir wollten eigentlich einen Antrag aller Fraktionen. SPD und CDU offensichtlich nicht. Warum eigentlich nicht? Finden Sie, dass das nichts mit Berlin zu tun hat? – Dazu möchte ich einmal drei Gedanken vortragen. Erstens: Ohne Menschen, die auch auf der Flucht nach Berlin gekommen sind, wären wir immer noch das kleine Fischerdorf im Sumpf an der Spree.
Das sind wir aber nicht. Zweitens: Sie ignorieren die Fluchterfahrung vieler Berlinerinnen und Berliner. Ich
erinnere an einen Regierenden Bürgermeister dieser Stadt, der seine Heimat auch einmal über ein Meer verlassen musste. Ich erinnere aber auch an Käthe S., wenn Sie die Ausstellung draußen der Sozialstiftung Köpenick anschauen und Menschen, die Fluchterfahrung in unserer Stadt haben und denen vielleicht nahe geht, was auf dem Mittelmeer passiert. Drittens ignorieren Sie das Engagement vieler Berlinerinnen und Berliner heute für Flüchtlinge in unserer Stadt, die sich mit dem Leben und der Flucht der Flüchtlinge auseinandersetzen und die dazu auch eine Beziehung haben.
Wir haben uns zu Beginn der Sitzung erhoben, um der ertrunkenen Menschen zu gedenken. 800 Menschen, hat der Präsident gesagt, sind seit vergangenem Sonntag gestorben. Jeden Tag sterben aber Menschen im Mittelmeer. 400 waren es Anfang vergangener Woche, über 800 Ende letzter Woche, am Montag wieder 300 vor Rhodos. Das sind nur die Zahlen, die wir kennen.
Willy Brandt hat gesagt: „Wer Unrecht duldet, stärkt es.“ Deshalb wollen wir dieses Unrecht nicht dulden, sondern handeln. Mare Nostrum, die italienische Seenotrettungsmission muss wieder aufgelegt werden.
Wer sich auf der Seite des italienischen Verteidigungsministeriums über die Mission informiert, kann nachlesen, dass die italienische Marine und Luftwaffe insgesamt 421 Operationen in dem Jahr, in dem Mare Nostrum galt, durchgeführt und 150 810 Menschen gerettet hat. Das waren 150 810 Menschen, die nicht sterben mussten. Sie haben das übrigens zu einem Budget von 9 Millionen Euro pro Monat getan.
Auf Druck der EU und auch aus Deutschland, weil der Bundesinnenminister damals die Position vertrat, man darf die Leute nicht an Bord von Schiffen holen und nach Europa bringen, weil es andere ermutigen würde, musste dies beendet werden und wurde durch die FrontexMission Triton ersetzt, die über ein monatliches Budget von 2,3 Millionen Euro verfügt. Nun wird über eine Verdoppelung gesprochen. Verdoppelung heißt 4,6 Millionen Euro. Auch das wäre nur die Hälfte dessen, was Mare Nostrum hatte. Das ist nicht genug.
Nun gibt es eine Initiative aus dem Europaparlament, einen offenen Brief an den Parlamentspräsidenten, das Budget der Europäischen Union zu blockieren, unterstützt aus allen Parteien – zumindest den demokratischen, wie ich erfreut zur Kenntnis nehme –, wenn Mare Nostrum nicht wieder aufgenommen wird. Es gab am Montag eine Kolumne von Gerd Müller, dem Entwicklungsminister, immerhin CSU-Mitglied, der deutlich formulierte – das stand in der „B.Z.“:
Wir machen uns mitschuldig, wenn das Mittelmeer jetzt zum größten Friedhof Europas wird. Wir brauchen eine sofortige Wiederaufnahme der Rettungsaktion „Mare Nostrum“ durch die Europäische Union. Am Geld darf es nicht scheitern. Wenn nötig, können wir eine Vorfinanzierung leisten. Notwendig ist darüber hinaus, dass wir Länder wie Italien, Griechenland und Malta, an deren Küsten die Flüchtlinge stranden, unterstützen.
Wir sollten heute gemeinsam dem Senat den Auftrag erteilen, aktiv zu werden, ganz im Sinne von Harald Höppner, der am Sonntag bei „Günther Jauch“ zu mehr Taten aufgerufen hat und zu weniger Worten. Es geht auch um einen Lackmustest, ob die viel beschworenen europäischen Werte tatsächlich etwas wert sind, ganz im Sinne von Matthäus 25 – und gestatten Sie mir, dass ich das noch zitiere: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ – Vielen Dank!
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Kollege Schatz! Willy Brandt hat recht mit seiner Aussage. Wir wollen kein Unrecht dulden.
Fast jeden Tag sterben im Mittelmeer Menschen. Was ist denn mit Europa los? – Diese Frage stellen sich viele von uns, auch der ehemalige Flüchtling aus Jugoslawien Filipović, Skipper vom Schiff Sea-Watch. Von dem mutigen Vorhaben, mit einem auf Satellitentechnik umgerüsteten Kutter von Hamburg nach Malta zu fahren und dann mit Suchtouren auf hoher See Flüchtlingen mit Schwimmwesten und Trinkwasser zu helfen, haben viele jüngst aus den Medien erfahren. Auch das Beispiel von Harald Höppner ist hier wichtig.
Dieses Agieren Einzelner verdeutlicht, dass hier Versäumnisse bei der europäischen Flüchtlingspolitik vorliegen. Dabei steht insbesondere unser Bundesinnenminister de Maizière im Mittelpunkt, der sich stets für einen Stopp der Seenotrettung Mare Nostrum aussprach, da es seiner Ansicht nach den Schleppern in die Hände spiele. Eine zynische Ansicht, wenn man bedenkt, dass so die Kriminalitätsbekämpfung Vorrang vor dem Retten von Menschen vor dem Ertrinken hat!
Was ist los mit Europa?, ist eine berechtigte Frage. Wie lange wollen wir noch zuschauen, wie Menschen im Mittelmeer auf ihrer verzweifelten, oft Monate andauernden und kräftezehrenden Flucht, die finanziellen Ressourcen ihrer Familien oder ganzer Dörfer aufs Spiel setzend, ertrinken? Wie lange wollen wir noch zuschauen, wie lange will die politische Spitze noch zuschauen? Auch das sind berechtigte Fragen.
Es mangelt nicht an Schiffen, es mangelt nicht an Geld, es mangelt nicht an der Technik. Es mangelt auch nicht an Schwimmwesten. Mangelt es an der Menschlichkeit? Ist die Angst vor unseresgleichen so groß, dass wir sehenden Auges solche Tragödien zulassen?
Der Ausschuss Arbeit, Integration, Berufliche Bildung und Frauen war im Oktober 2014 in Rom. Viele waren dabei. Wir haben Gespräche mit dem zuständigen italienischen Innenministerium zum Ende vom Programm Mare Nostrum geführt. Es war dort schon klar und absehbar, dass all das nicht ausreichen würde, was an neuen Maßnahmen geplant wurde. Italien bat um Hilfe, auch aus Deutschland. Italien, Griechenland und die anderen betroffenen Mittelmeerstaaten brauchen mehr Solidarität der europäischen Staatenlandschaft. Diese Abschottungstaktik, diese Abschottungspolitik ist nicht menschlich und wird noch mehr humanitäre Tragödien hervorbringen. Auch die Reedereien fordern, die Seenotrettung auszuweiten. Auch sie brauchen für die humanitären Aufgaben Unterstützung. Ich fordere daher für meine Fraktion im Hinblick auf die laufenden EU-Sondergipfel:
Erstens: die sofortige Wiederaufnahme eines umfassenden Seenotrettungsprogramms. Es war aus meiner Sicht ein Fehler, Mare Nostrum einzustellen. Der Schutz des Lebens auf hoher See im Grenzraum Europas gehört zu unserer humanitären Verantwortung und muss Teil unseres europäischen Selbstverständnisses sein.
Zweitens: Europa braucht eine moderne, menschlichere Flüchtlingspolitik, keine alleinige Abschottungspolitik. Wir müssen bessere, legale Zuwanderungsmöglichkeiten schaffen und diese Abschottungspolitik beenden;
denn so werden wir am effektivsten die Schlepperbanden bekämpfen. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, hat es heute wie folgt auf den Punkt gebracht:
Wenn Sie jemandem die Chance geben, nach Europa legal einzuwandern, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich einem Schlepper ausliefert mit
Drittens: Seenotrettung und legale Zuwanderungsmöglichkeiten müssen Vorrang haben vor der Bekämpfung der Schlepperbanden; denn wer zuerst gegen Schlepper vorgeht, zementiert die Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge. Es ist ein nachgelagerter Prozess. Erst für ein sofortiges Seenotrettungsprogramm, dann, als Anreiz, für legale Zuwanderungsmöglichkeiten sorgen! Und wenn wir beides auf den Weg gebracht haben, dann den Schlepperbanden einen harten Kampf ansagen!
Dem vorliegenden Antrag und dem Vorschlag der Opposition gegenüber, gemeinsam hier ein Zeichen zu setzen, ist meine Fraktion sehr aufgeschlossen. Eigentlich wollen wir es auch. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn wir heute als Hauptstadtparlament gemeinsam einen Antrag verabschiedet hätten. Nun haben wir aber die Chance – auch das gehört zur Wahrheit –, die Ergebnisse vom heutigen EU-Sondergipfel in unserem Ausschuss ausgiebig zu beraten und vielleicht dann einen gemeinsamen Antrag zu verabschieden.
Zumindest halte ich für mich fest: Die Forderungen von uns sind auch die Forderungen, die heute in dem Entwurf der Erklärung des Europäischen Rates zu Konsequenzen aus den Flüchtlingskatastrophen der vergangenen Wochen aufgeführt wurden. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier gemeinsam einen Weg finden. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Radziwill! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Bayram. – Bitte!
Vielen Dank! – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich stehen wir alle noch unter dem Eindruck des zurzeit schlimmsten Unglücks, der Katastrophe, des Massensterbens – wie immer man das ausdrücken will. Es gab schon immer schlimme Ereignisse. Ich erinnere nur daran, als das Boot mit 400 Menschen vor Lampedusa gekentert ist und wir dann auf dem Oranienplatz Menschen hatten, die wiederum Leute kannten, die auf dem Boot und auch auf dem Weg hierher waren. Aber dennoch ist jetzt diese Zahl, seien es 800 oder 1 000, eine, die ich schrecklich finde und die mich auch wirklich traurig macht, traurig darüber, dass es uns nicht gelingt und auch mit vielen Befassungen hier nicht gelungen ist, in unserem eigenen Zuständigkeitsbereich Dinge zu verändern, aber auch traurig, wenn ich anderen
Menschen, wie z. B. meiner Tochter, erklären muss, warum so etwas eigentlich passiert. Es fehlen einem die Worte, weil man es schwer erklären kann.
Und man muss sich auch fragen: Was tut man, oder was müsste man tun, damit sich etwas ändert? – Und das wiederum macht mich wütend. Es macht mich wütend, dass wir darüber reden, dass wir Forderungen aufstellen, aber bei den Menschen letztlich nichts ankommt. Die Seenotrettung wäre ein minimaler Schritt, um das größte Elend vielleicht ein Stück weit zu reduzieren. Aber leider wären das auch nicht die echte Lösung und die Verantwortung, die wir haben. Dennoch finde ich diesen Antrag als einen Teilschritt richtig, und ich werbe weiterhin dafür, dass auch diejenigen Fraktionen, die sich bisher noch nicht durchringen konnten, heute mit uns gemeinsam abstimmen und den Antrag annehmen.
Es wird dieser Tage viel darüber geschrieben, um welche Menschen es sich da eigentlich handelt. Es gibt heute eine Übersicht, aus der deutlich wird, dass diese ganze Schlepperbanden- und Asylmissbrauchsdebatte so was von deplatziert ist; denn die meisten kommen aus Syrien, aus Eritrea oder den anderen arabischen Ländern, in denen ihnen ihre Lebensgrundlage genommen wurde. Das sind Menschen, die sich auf einen Weg begeben und dabei auch sterben. Für die Angehörigen ist es kaum möglich herauszufinden, wer eigentlich in diesem Boot war. Es ist fürchterlich und für uns schwer vorstellbar. Umso wichtiger ist es, dass wir uns deutlich machen und auch klar davon distanzieren, wenn nur über die Schlepper geredet wird statt über die Menschen, die kommen. Sie fliehen vor Krieg und Diktatoren. In Eritrea zum Beispiel fliehen die Menschen vor einer Diktatur. Wir haben auch das Thema hier immer wieder gehabt, dass meiner Meinung nach Migration ein Menschenrecht ist und es nicht sein kann, dass die Menschen, wenn sie dieses Recht ausüben wollen, Gefahr laufen zu sterben. Ob man – wie Herr Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ – sagen muss, Europa mache sich schuldig, eine Tötung durch Unterlassen begangen zu haben, können wir diskutieren, aber ich glaube, tatsächlich geht es in erster Linie darum, dass es ein Töten, ein Sterben ist. Da fand ich das Interview mit der Anwältin Berenice Böhlo, die einen syrischen Mandanten getroffen hat, der sagte, er habe im Mittelmeer mehr Angehörige bei der Überfahrt verloren als durch den Krieg in Syrien, aufschlussreich. Das sollte uns alle nachdenklich machen und in die Verantwortung zwingen, gemeinsam einen Weg zu finden, wie wir als Berliner Landesparlament unseren Beitrag dazu leisten wollen und auch leisten können.
Ein letzter Aspekt, den ich gerne beleuchten würde, worüber ich Sie auch nachzudenken bitte, ist: Ist das eigentlich ein Krieg, der da im Mittelmeer stattfindet? Ist das ein Krieg Europas gegen die Menschen, die auch Menschenrechte, die einen Standard haben wollen, den wir in
Europa – auch in Deutschland – ganz selbstverständlich genießen? Das sind die Rechte auf Leben, auf Gesundheit und wenn Sie so wollen, auch auf ein Stück bessere Zukunft. Im Moment sieht es so aus – deswegen müssen wir uns wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen –, dass das Mittelmeer von Europa wie eine Waffe genutzt wird, um die Abschottungspolitik von Europa zu unterstützen. Dann sollten wir uns wirklich alle fragen, ob wir das Mittelmeer in dieser Form als Waffe gegen Menschen in Not weiterhin bestehen lassen wollen oder ob wir die Kraft finden, dagegen aktiv zu werden, indem wir die Seenotrettung fordern.
Vielen Dank, Frau Bayram! – Für die CDU-Fraktion hat nun das Wort der Herr Abgeordnete Dregger. – Bitte!