Protocol of the Session on October 16, 2014

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 54. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und die Zuhörerinnen und Zuhörer sowie die Vertreter der Medien sehr herzlich.

Zunächst habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Berlin attraktiv für Studenten“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Berlin attraktiv für Studenten“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „Blockade im Senat: Die inklusive Schule in Berlin braucht eine Perspektive.“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Blockade im Senat: Für Inklusion keinen Plan, für Integration keine Mittel.“

− Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „Blockade im Senat: Inklusion verschoben, Integration verschlechtert – Teilhabe braucht eine Perspektive.“

Im Ältestenrat haben sich die Fraktionen einvernehmlich auf das von der Fraktion Die Linke beantragte Thema verständigt, sodass ich dieses Thema – Stichwort „Inklusion“ – für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen werden. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Dann möchte ich auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Ich möchte bereits an dieser Stelle anmerken, dass mir von den Koalitionsfraktionen angekündigt worden ist, dass dem als Dringlichkeit unter Tagesordnungspunkt 20 A vorgesehenen Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/1891 mit dem Titel „Mit den ab 2015 freiwerdenden BAföG-Mitteln den Bildungs- und Hochschulbereich strukturell stärken“ hinsichtlich der Dringlichkeit widersprochen wird. Darüber haben wir dann nachher zu entscheiden.

Entschuldigungen von Senatsmitgliedern für die 54. Sitzung: Herr Senator Henkel ist abwesend bis ca. 17 Uhr. Grund: Gespräch mit dem Deutschen Olympischen Sportbund bezüglich Olympischer und Paralympischer Spiele in Deutschland. Der Regierende Bürgermeister ist abwesend ab 13 Uhr. Grund: Die Jahreskonferenz

der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder in Potsdam.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

„Blockade im Senat: Für Inklusion keinen Plan, für Integration keine Mittel.“

(auf Antrag der Fraktion Die Linke)

Für die Besprechung der Aktuellen Stunde steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion Die Linke. – Frau Kollegin Kittler, Sie haben das Wort. – Bitte schön!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Teilhabe und Inklusion sind originäre Berliner Themen. Das sagen jedenfalls Klaus Wowereit und Frank Henkel auf Seite 6 dieser bunten Broschüre, die Berlins Interessenbekundung für Olympia enthält. Da fehlt allerdings eine Bemerkung: Aber nur, wenn es nicht zu viel Geld kostet. – Denn Berlin kann sich zwar nach Meinung von SPD und CDU eine Olympiabewerbung für 60 Millionen Euro leisten, im Falle des Zuschlags auch durchaus ein paar Milliarden Euro, und dabei immer die besondere Bedeutung der Paralympics betonen. Aber unter den jetzigen Bedingungen ist es in Berlin noch nicht einmal möglich,

die bisherige integrative Beschulung mit sonderpädagogischem Förderbedarf weiter erfolgreich fortzuführen. Durch unzureichende personelle und sächliche Rahmenbedingungen können erprobte und bewährte Integrationskonzepte nicht mehr umgesetzt werden. Eine Weiterentwicklung des Unterrichts und der Schulen in Richtung inklusive Schulen ist so nicht möglich.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

So endete der Brandbrief von Schulleiterinnen und Schulleitern aus Tempelhof-Schöneberg vom 1. Oktober 2014. Deutlich ist, die Stadt Berlin hat sich seit 2011 unter SPD-CDU-Regierung von einer Vorreiterrolle in der Integration und Inklusion verabschiedet,

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

und das, obwohl wir auf einem wirklich guten Weg waren. Hochengagierte Pädagoginnen und Pädagogen, die sich in den letzten zehn bis 15 Jahren in Berliner Schulen zunehmend dem Ziel stellten, Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung an ihren Schulen gemeinsam zu

bilden und zu erziehen, erreichten großartige Erfolge. Dafür gab es als Rahmenbedingung zusätzliche Lehrkräftestunden für jede Schülerin und jeden Schüler mit Förderbedarf, die eine intensive Hinwendung zu ihnen, Doppelsteckung und Teilungsunterricht ermöglichten. Den ersten Pionierschulen folgten weitere. Es gab Modellschulen, die zeigten, wie es gehen kann, nicht zuletzt mit den INKA-Schulen in Marzahn-Hellersdorf und den ISISchulen in Steglitz-Zehlendorf. Es gab einen noch unter Rot-Rot erarbeiteten Vorschlag für ein Inklusionskonzept.

Wir haben 2011 übereinstimmend festgestellt, dass es überarbeitet werden muss. Dazu wurde von Frau Scheeres eine Expertenkommission unter der Leitung von Frau Volkholz gebildet, die uns nach gründlichen Beratungen im Februar 2013 Empfehlungen gab, die eine gute Grundlage für die Überarbeitung und uns die Chance boten, die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen zu können.

Seitdem geht es nicht mehr vorwärts. Stillstand und Blockade traten ein. Der Beschluss des Hauptausschusses vom 6. November 2013, dass die Senatsbildungsverwaltung im Frühjahr 2014 über Eckpunkte der nächsten Abschnitte im Bereich Inklusion entsprechend den Empfehlungen des Beirates und die vorhandenen Modellprojekte berichten möge, wurde bis heute nicht erfüllt.

Die von Ihnen, Frau Senatorin Scheeres, und von Herrn Buchner in der Debatte zur letzten Großen Anfrage dieses Hauses verkündete Qualifizierungsoffensive, für die rund 1,6 bzw. 1,7 Millionen Euro im Jahr 2014 bzw. 2015 im Haushalt eingestellt wurden, kann so offensiv nicht sein, wenn in diesem Jahr 40 Prozent davon gar nicht in Anspruch genommen wurden.

Und nicht nur das. Seit Jahren müssen wir feststellen, dass sich die Bedingungen für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf immer weiter verschlechtern. Mittlerweile fehlen etwa 300 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Es fehlen Schulhelferinnen und Schulhelfer in der gleichen Größenordnung. Die Anzahl der Förderstunden pro Kind wurde halbiert, und der sogenannte Dispositionspool hat sich mittlerweile zum Abzugspool entwickelt, denn die Schulleitungen müssen ihren Kindern und Jugendlichen Stunden wegnehmen, obwohl sie ihnen zustehen, damit andere bedürftige Kinder wenigstens etwas davon abbekommen. Schuld daran ist die leidige Deckelung der Haushaltsmittel, und das ist seit Jahren bekannt.

Da hat sich in den letzten 15 Jahren die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, von rund 5 000 auf 12 000 verdoppelt – das ist ein Wachstum um 100 Prozent. Die Zahl der Lehrkräfte für Integration aber ist im gleichen Zeitraum nur um 17 Prozent gewachsen. In beiden Haushaltsdebatten der Legislaturperiode beantragte die Linksfraktion

eine Anpassung an den Bedarf – ohne Erfolg. Hier drängt sich der Gedanke auf, dass erfolgreiche Integration als Wegbereiterin für die Inklusion gar nicht gewollt ist.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wie sich das in den nächsten Jahren bei einem jährlichen Wachstum um 2 000 bis 3 000 Schülerinnen und Schüler auswirken wird, mag ich mir gar nicht vorstellen. Die Linksfraktion unterbreitet deshalb mit ihrem heutigen Dringlichkeitsantrag den Vorschlag, dass die Mittel, um die der Bund das Land Berlin ab Januar 2015 finanziell durch die Übernahme auch der Schüler-BAföG-Mittel in Höhe von über 20 Millionen Euro jährlich entlasten wird, vollständig dafür eingesetzt werden, die schon integrativ und inklusiv arbeitenden Schulen nach ihrem Bedarf mit Personal, Sachmitteln und Räumen auszustatten und die Entwicklung der inklusiven Schule zu finanzieren.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Unser sich in der Warteschleife des Bildungsausschusses befindlicher dringlicher Antrag „Schüler und Schülerinnen mit Behinderung ohne Wenn und Aber fördern!“ hat das Problem des vorhin zitierten Brandbriefs Mitte Juni benannt – bisher ohne Reaktion des Senats oder der Koalition. Will Berlin Akzeptanz unter Schülerinnen und Schülern, Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen für die inklusive Schule erreichen, muss es sofort eine Beendigung der jetzigen Sparpolitik zulasten von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung geben!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Unser dringlicher Antrag „Schulhelferinnen für die Berliner Schulen statt Kürzung bedarfsgerechter Ausstattung!“ von Mitte August wurde gestern im Hauptausschuss vertagt, obwohl zumindest die Bildungspolitikerinnen und -politiker der Koalition hier Handlungsbedarf erkannt und das Anliegen unterstützt haben. Aber selbst die in Aussicht gestellten Mittel werden nicht ausreichen, um die Probleme zu lösen.

Die Petitionen, die mich in den letzten Jahren immer wieder erreichten und mit denen Eltern für eine Förderung ihrer Kinder kämpfen mussten, und wo auch der Petitionsausschuss oftmals erst nach Monaten oder auch nicht in jedem Fall eine Lösung erreichte, zeigen etwas anderes. Und um dem vorzubeugen, dass aus angeblicher Fürsorglichkeit heraus hier gesagt wird, wenn schon die Integration nicht klappt, dann lassen wir die Kinder doch erst einmal da, wo sie sind, nämlich in den Förderschulen – das Problem besteht nicht nur in der Regelschule. Gestern erreichte mich ein Brief der Eltern eines achtjährigen Mädchens, das seit dem letzten Jahr die Carl-von-LinnéSchule in Lichtenberg, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, besucht. Sie hat eine spastische Tetraparese, eine Behinderung, durch die sie nicht selbstständig sitzen, stehen,

greifen und laufen kann. Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen, kann sich nicht allein an- und ausziehen, die Toilette benutzen oder essen, sondern nur per Augensteuerung einen Computer bedienen. Für sie wurden 20 Schulhelferstunden pro Woche beantragt. Sie bekommt in diesem Jahr vier. Aber ein passender Schulhelfer ist seit August nicht verfügbar. – Das ist so unfassbar, dass ich hier eine sofortige Hilfe fordere – ohne Wenn und Aber, für sie und alle zu fördernden Kinder!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wilfried Seiring, mir noch als Leiter des Berliner Landesschulamts bekannt, sagte gestern in der „Berliner Zeitung“:

Wenn ein so besonderer Pädagoge wie der Rektor der reformfreudigen Fritz-Karsen-Schule öffentlich darauf hinweist, dass unzulängliche Inklusionsmaßnahmen dazu führen, dass ein Kind noch eine Lern- oder Verhaltensstörung dazubekommt, wenn verantwortungsbewusste Schulleiter mahnen, dass Kinder nicht mehr die Förderung bekommen, die sie benötigen, dann ist eine Entscheidung der Zuständigen unerlässlich.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Diese Zuständigen sitzen hier im Saal; diese Zuständigen sind wir! Ich fordere die Koalition, ich fordere den Senat auf: Handeln Sie endlich!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Bevor ich dem Kollegen Özışık das Wort gebe, gestatten Sie mir noch einen Hinweis: Wir haben eine eindeutige Vereinbarung, dass man sich hier nicht gegenseitig fotografiert und das in irgendwelchen sozialen Medien veröffentlicht – nicht, Herr Kohlmeier? Sie können sich angesprochen fühlen.

[Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN, und den PIRATEN]

Wer diese Vereinbarung aufkündigen will, möge dies bitte mit seiner Fraktion im Ältestenrat zur Diskussion stellen. Bis dahin gilt das wirklich für alle, und ich werde das in Zukunft nicht mehr durchgehen lassen.

[Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN, und den PIRATEN]

Herr Kollege, Sie haben das Wort.