Ich begrüße Sie recht herzlich zu dieser konstituierenden Sitzung der 17. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich beglückwünsche Sie alle als gewählte Abgeordnete in der neuen Legislaturperiode, sowohl die Wiedergewählten als auch die Neugewählten, darunter auch eine neue Fraktion im Haus: die Piratenfraktion.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, auf der Zuschauertribüne den bisherigen Präsidenten Walter Momper zu begrüßen – herzlich willkommen! –
Mitglieder des Deutschen Bundestages, die ehemaligen Präsidenten des Abgeordnetenhauses Prof. Dr. Herwig Haase und Reinhard Führer
sowie verdiente Mitglieder des Präsidiums, weitere altgediente Parlamentarier, die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes Margret Diwell,
anwesende Stadtälteste, Vertreter der Kirchen und alle Zuschauer und Zuhörer sowie die Medienvertreter, die auf den Tribünen Platz genommen haben. – Herzlich willkommen!
Bevor ich zum weiteren Verfahrensablauf komme, möchte ich Herrn Tom Schreiber von der SPD-Fraktion zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren.
Bis zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung, die das Abgeordnetenhaus der 17. Wahlperiode unter Punkt 3 der heutigen Tagesordnung beschließen wird, möchte ich Ihnen vorschlagen, dass wir bis dahin nach den Grundsätzen der Geschäftsordnung der 16. Wahlperiode verfahren. – Ich sehe und höre hierzu keinen Widerspruch, dann verfahren wir so.
Nach Artikel 54 Abs. 5 Satz 2 der Verfassung von Berlin und in Verbindung mit § 10 Abs. 1 der bisherigen Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin tritt das Abgeordnetenhaus unter dem Vorsitz des ältesten Mitgliedes des Hauses zu einer konstituierenden Sitzung zusammen. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich als Uwe Lehmann-Brauns hier oben sitze. Ich bin geboren am 28. August 1938 und gehe davon aus, dass niemand älter ist. – Das ist offenbar nicht der Fall. Dann werde ich
und eröffne somit die 1. Sitzung der 17. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin. Als Alterspräsident habe ich die Möglichkeit, eine Rede zu halten, und werde davon sehr gerne Gebrauch machen.
Es ist eine große Ehre für mich, dieses Haus zu Beginn der 17. Legislaturperiode zu leiten. Zu verdanken habe ich diese Ehre allerdings allein der konkurrenzlosen Altersangabe in meinem Personalausweis. Allerdings ist das Alter auch nicht mehr das, was es einmal war. Es ist einfach jünger geworden und stabiler. Der große Sänger Bob Dylan sagte:
In keinem Fall soll man glauben, man werde durch das Alter weiser, seiner Sache sicherer. Das Gegenteil ist der Fall. Man hat nur mehr Erfahrung im Umgang mit den eigenen Irrtümern. Lassen wir es dabei.
Wir wählen anschließend weitgehend einmütig, nach den ungeschriebenen Regeln eines demokratischen Parlaments, den Präsidenten und zwei Vizepräsidenten. In den nachfolgenden Sitzungen wird es mit der Einmütigkeit bald vorbei sein. Es folgen die Wahl des Senats, Regierungserklärung, Erwiderungen, der Streit beginnt und wird uns fünf Jahre lang nicht mehr verlassen. Aber im Unterschied zu Diktaturen dienen wir der Stadt gerade im Streit. Darin besteht unser demokratischer Stolz. Freiheit ohne Streit gibt es nicht und Streit ohne Freiheit ist gefährlich.
Es gehört zu den tieferen Erlebnissen dieser Zeit, dass Demokratie und Freiheit ansteckend sind. In Nordafrika hat sich die Gesellschaft von brutalen, eigensüchtigen Machtmenschen befreit. Ich bewundere die, die mit bloßen Händen gegen regierungsamtliche Schläger aufstehen, die trotz der Gewehrsalven von Scharfschützen die Freiheits- und Bürgerrechte einfordern. Unser Stolz auf die Menschen in Leipzig am 9. Oktober 1989 hat sich mit dem arabischen Frühling globalisiert. Ich halte Berlin für verpflichtet, eine ideelle und politische Unterstützung mit den Menschen in Kairo, Tunis, Tripolis, Damaskus zum Ausdruck zu bringen.
Einer traurigen Pflicht will ich aber auch nachkommen und der Hunderte von Verschütteten in Ercis in der östlichen Türkei gedenken. Ich bitte Sie, unsere Anteilnahme durch eine Schweigeminute auszudrücken.
Wir haben einen Wahlkampf hinter uns. Wahlen sind Momentaufnahmen, entscheiden selten über Wahrheiten, sondern über Persönlichkeiten, Stimmungen, Bindungen, Aversionen. Erfolg ist kein Wahrheitsbeweis, und Misserfolg kein Gottesurteil. Erfolg, sagt Heiner Müller dämpfend, ist das Gegenteil von Wirkung.
Was nehmen wir aus dem Wahlkampf mit? – Auch, dass unser Ansehen in der Öffentlichkeit gering ist. Uns werden die Mängel des täglichen Lebens angelastet, ein Closed-Shop-Verhalten, unsere Kompetenz wird bezweifelt. Es hilft uns nicht, darauf hinzuweisen, dass wir auch nur Menschen sind und irren können, dass manche Berliner Probleme Luxusprobleme sind im Vergleich zu vielen unserer Nachbarmetropolen im Osten. Ich persönlich halte es übrigens für eine makabere Selbstverleugnung, nicht zu einer Wahl zu gehen und für eine postmoderne Verflachung, Kochen zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen. Politik sucht das Gemeinwohl, ist mehr als ein Sammelsurium von Sonderinteressen. Wir sollten nichts beschönigen, aber wir können unseren Kritikern zurufen: Steigen Sie ein in unser Boot! Abgeordneter zu werden, im Bund, Land oder im Bezirk, d. h. mitzudenken, mitzuentscheiden, dem Streit nicht aus dem Wege zu gehen, das steht jedem frei. Parlamente in der Demokratie stehen jedermann offen, in der Sprache Max Webers sind es offene Eliten und aller Anstrengungen wert. Eine neue Partei hat nachgewiesen, dass – wo ein politischer Wille ist in der Gesellschaft – es mit der parlamentarischen Mitbestimmung ganz schnell gehen kann. Ob Transparenz allerdings als gesellschaftspolitische Substanz ausreicht, ist fraglich. Auch der politische Mensch hat nämlich ein Recht auf Privatheit, Ungestörtheit, Abschirmung seiner Gedanken, Motive und ihrer Herleitung. Der durchleuchtete Mensch ist nur in der Diktatur erwünscht.
Wenden wir uns der Stadt zu, an der wir alle hängen! Eben ist ein Buch erschienen mit dem Titel „Berlin ist das Allerletzte – Absagen in höchsten Tönen“. Diese Absagen reichen vom 18. Jahrhundert bis in die Neuzeit. Zitiert werden u. a. Heinrich Heine, Arthur Schopenhauer, Theodor Storm, Frank Wedekind, Felix MendelssohnBartholdy, Lessing, Tschechow, E. T. A. Hoffmann. Da wir hier ja ganz unter uns sind, bitte ich Sie sehr herzlich, die Erwähnung dieses berlinkritischen Buches, seiner Zitate und die Zitierten höchst vertraulich zu behandeln, damit sie nicht in falsche Köpfe geraten, etwa die der Nordrhein-Westfalen, die schon lange erfolglos Argumente suchen, um den überfälligen Nachzug der Bundesministerien nach Berlin zu verhindern. Also: Bitte absolute Diskretion, keine Transparenz!
Zwei Kritiker möchte ich zitieren, zunächst den russischen Dichter Andrei Bely, ein Emigrant in den Zwanzigerjahren. Sein Berlinbild war einerseits – andererseits. Ich zitiere:
Einerseits: Alles ist klar, nüchtern, verständlich, zivilisiert, organisiert – andererseits: Berlin ist ein organisierter systematisch realisierter Albtraum.
Ein Albtraum, meine Damen und Herren, ist Berlin heute nicht mehr, darin dürften wir uns einig sein, eher ein Phönix aus der Kriegs- und Nachkriegsasche. Denn wir leben in einer ebenso anregenden, wie aufregenden, in einer gefährdeten, wie in sich ruhenden Stadt, mit vielen Zentren, die jedem sein Quartier, seinen Charakter, seine Vorlieben, leider auch manchmal die für Gewalt lässt. Stimmt also noch, was ein anderer russischer Dichter, Ilja Ehrenburg, 1927 feststellte? Ich zitiere:
Auch das stimmt nicht, zum Glück. Laut einer neuesten Umfrage ist Berlin nach Köln die glücklichste Stadt der Republik. Ich bezweifele allerdings, dass wir Politischen daran schuld sind. Das Verdienst gebührt wohl unserer Herkunft, die nicht kampflos war, ihren verheilten Wunden, ihrem Freiheitswillen, ihrer Offenheit, ihrer Unspießigkeit, ihrer einmaligen Kulturlandschaft. – So weit, so glücklich.
Viele Menschen in Berlin interessieren sich für das Stadtgesicht. Manche sind enttäuscht. Berlin hat durch Krieg und eine brutale, maßstablose Nachkriegspolitik an Gesicht verloren, das meiste unwiederbringlich – bis in die Achtzigerjahre arbeitete die Abrissbirne sich an Altbauten ab. Nicht die Politik, die Hausbesetzer retteten SO 36. Und es war nur die ökonomische Schwäche der DDR, die Schlimmeres verhinderte. Wo diese Abrissbirne nicht zerstörte, dort spielt sich heute das Leben vor allem Jüngerer ab, ob in Friedrichhain, Kreuzberg, Neukölln, ob Prenzlauer Berg, ob Mitte oder Charlottenburg. Auch in anderen Teilen Europas geschah Vergleichbares. Eine rühmliche Ausnahme machte Polen, Danzig und Warschau sind die berühmten Beispiele dafür. Der russische Nobelpreisträger Brodsky spricht von dem
… grässlichen Baustil der Nachkriegszeit, der dem europäischen Stadtbild mehr Schaden zugefügt hat als die Luftwaffe.
Diese Legislaturperiode wird deshalb daran gemessen werden, wie sie es mit der Stadtoberfläche hält. Werden es auch künftig nur die Investoren sein, die das Stadtbild bestimmen, oder werden wir Urbanität, Menschlichkeit, soziale Aspekte in den künftigen Neubauten finden? Ich habe Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der modernen Architektur. Ich erwarte, dass diese Leistungsfähigkeit von der öffentlichen Hand abgefordert wird. Und ich erinnere an die prominenten Brachen: das leere Kulturforum am Potsdamer Platz, der Schinkelplatz in Mitte ohne Bauakademie oder die unselige Banalität des Checkpoint Charlie. Es ist vor allem die Architektur, die über Herkunft und Geist der Stadt Auskunft gibt. Ich hoffe auf geschärftes Problembewusstsein des neuen Senats.
Ich schließe nicht mit einem naiven „vivat, crescat, floreat“, auf die Zukunft. Wir leben zwar in einer vergleichsweise glücklichen Zeit, ohne Krieg, ohne Diktatur, in Frieden mit allen Nachbarn, in der neuen, alten Hauptstadt, deren Ausstrahlung und Selbstbewusstsein viel Aufmerksamkeit findet. Lassen Sie uns eine lange Sekunde dafür dankbar sein und hoffen, dass uns soziale und ökonomische Verwerfungen erspart bleiben! Nehmen wir den Mund nicht zu voll, halten wir es mit dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész, der in unserer Stadt wohnt! Zitat:
Ihn zu bewältigen, bedarf es keiner Vision, sondern ideologiefreier politischer Vernunft bei der Verwirklichung der Werte unserer Verfassung. Ich sehe uns alle in der Pflicht, dieser Stadt zu dienen. – Vielen Dank!