Protocol of the Session on March 3, 2011

Der Titel der Aktuellen Stunde heißt „Rot-rote Bildungsreformitis hat Kinder und Eltern völlig aus den Augen verloren“. Das sehe ich auch so. Aber die Eltern und Kinder standen hier noch nicht im Mittelpunkt, in keinem der vorangegangenen Beiträge.

[Björn Jotzo (FDP): Bei uns schon! – Mieke Senftleben (FDP): Sie haben nicht zugehört, Frau Jantzen!]

Ich kann Ihnen allen nur empfehlen, den Berliner Familienbericht, der im Januar an Herrn Wowereit und Herrn Zöllner übergeben worden ist und den alle Fraktionen zur Kenntnis bekommen haben, intensiv zu lesen. Dort finden Sie eine Fülle von Aussagen von Eltern, was ihnen in dieser Stadt gefällt und was nicht. Kitaplatzmangel wird

dort angesprochen, auch die Frage der Schule, dass man nicht das Gefühl hat, die Kinder seien dort gut aufgehoben. Dort finden Sie eine Reihe von Hinweisen und die könnten Sie mit in die nächste Legislaturperiode nehmen.

[Beifall bei den Grünen]

Ich fasse kurz zusammen: Was brauchen Kinder? – Kinder brauchen vor allen Dingen Kinder, mit denen sie spielen, Erfahrungen machen und ihre sozialen und kognitiven Fähigkeiten ausbilden können. Sie brauchen gute Kitas ergänzend zu der Bildung in der Familie, damit Bildungschancen tatsächlich gerechter verteilt werden und Bildungsbenachteiligungen ausgeglichen werden können. Sie brauchen eine anregende Lernumgebung, und sie brauchen vor allen Dingen Zeit von Erwachsenen, die sie unterstützen und die sie in ihrer Lernfreude aktivieren. Sie brauchen Eltern, die Zeit für sie haben und sich gut um sie kümmern können. In der Regel tun dies die meisten Eltern.

Was brauchen Eltern, damit sie Zeit für ihre Kinder haben und sich gut kümmern können? – Sie brauchen in erster Linie eine Erwerbsarbeit, mit der sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie bestreiten können. Dafür ist Vereinbarkeit von Beruf und Familie extrem wichtig. Das hat sich die SPD zu Recht auf die Fahne geschrieben – auch die Linkspartei. Nur, wie sieht es in der Praxis aus? – „Tausche Brautkleid gegen Kitaplatz“ ist schon als Beispiel benannt worden. Auch wenn das Kind in der Schule ist, haben Eltern nicht immer die Garantie, dass es gut betreut und gut aufgehoben ist. Eltern stehen oft vor dem Problem, dass ihr Kind morgens nicht in die Schule will und Bauchschmerzen hat, weil es in der Schule gehänselt oder nicht respektiert wird. So können Kinder nicht gut lernen. Es ist noch viel zu tun, damit wir wirklich eine gute Förderung für Kinder bekommen.

[Beifall bei den Grünen]

Ich komme zu den einzelnen Unterthemen. Kitaplatzmangel: Meine Kollegin Pop hat das Wesentliche dazu bereits gesagt. Ich möchte aber noch einmal darauf hinweisen, dass dem Senat spätestens seit 2009 bekannt gewesen ist, was auf uns zukommt und dass es diesen Platzmangel gibt. Es sind einmal die vielen Schreiben, die Frau Herrmann dazu verfasst hat, es ist die Diskussion im Unterausschuss Tagesbetreuung des Landesjugendhilfeausschusses, auf den Erzieher- und Erzieherinnenmangel ist diverse Male durch Kleine Anfragen aufmerksam gemacht worden und noch im November letzten Jahres hat Herr Zöllner auf Kleine Anfragen geantwortet, wir hätten dieses Problem nicht oder wir könnten mit den eingeleiteten Maßnahmen tatsächlich den Erziehermangel beseitigen und damit den Kitaplatzmangel beheben. Dass das nicht so ist, haben alle gewusst, die in der Praxis tätig sind. Das wussten Sie auch selbst.

Die Datenlage im Land Berlin ist eine Katastrophe, was die Kita angeht. Die Kitaentwicklungsplanung, die es in diesem Land einmal gegeben hat, ist vor fünf Jahren aufgegeben worden, als die Kitaeigenbetriebe eingeführt worden sind. Die meisten Bezirke haben überhaupt keine

Menschen mehr, die eine Kitaentwicklungsplanung machen können, mit der Ausnahme von FriedrichshainKreuzberg, das als einziger Bezirk dafür Personal behalten hat.

[Zuruf von Lars Oberg (SPD)]

Ich kenne ein Schreiben der Staatssekretärin Zinke, die Frau Herrmann für ihre vorausschauende Jugendhilfeplanung lobt. Das lobe ich mir auch.

[Beifall bei den Grünen]

Ich wünsche mir in der Tat von anderen Bezirken ähnlich vorausschauende Planung. – Wenn Sie jetzt erst anfangen, eine gesamtstädtische Planung zu machen, dann ist es dafür eigentlich schon zu spät. Ich hoffe, dass wir im April endlich einmal Zahlen erhalten, auf deren Grundlage wir valide Aussagen treffen können und uns nicht weiter streiten müssen.

Was bei alledem zu kurz kommt, ist die Qualität der Kindertagesbetreuung, die wir uns alle wünschen und die dringend notwendig ist.

[Mieke Senftleben (FDP): Masse und Klasse!]

Das Gutscheinsystem beruht darauf, dass es ein größeres Angebot gibt und Kitas um Qualität in den Wettbewerb treten. Wenn kein Wettbewerb mehr vorhanden ist, brauchen sie sich auch nicht großartig um Qualität kümmern. Wer bleibt dann ganz auf der Strecke? – Das sind genau die Kinder, die Sie alle besser fördern wollen. Das sind die Kinder, die zu Hause nicht ausreichend gefördert werden können und wo die Eltern nicht die Zeit, die Gelegenheit oder das Wissen haben, tatsächlich Plätze für ihre Kinder zu finden. Die bleiben außen vor. Die bleiben in der Kita außen vor und dann auch in den guten Schulen. Denn hier herrscht das gleiche Prinzip: Wer selbst bildungsorientiert ist und die Wege kennt, wie er zu seinem Recht kommt, wird immer einen Kitaplatz für sein Kind finden. Der wird auch einen Platz an der Schule bekommen, an der das Kind angemeldet wird und von der die Eltern erwarten, dass ihr Kind dort nach seinen Begabungen und Fähigkeiten bestmöglich gefördert wird. Diese Eltern klagen sich nämlich im Ernstfall ein, wenn sie ihre Plätze nicht dort bekommen sollen, wo sie sie gern bekommen würden. Die Verlierer in diesem ganzen Spiel sind die Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien, wo die Eltern diese Möglichkeit nicht haben. Das ist hier schon gesagt worden, und das sehe ich auch so. Eine arabische, türkische oder eine Mutter, die selbst noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss gemacht hat, die bei zwei oder drei Kindertagesstätten die Antwort bekommt, es sei kein Platz frei oder auch nur in der Zeitung liest, es gebe keine Plätze,

[Zuruf von Lars Oberg (SPD)]

wird nicht noch einmal hingehen. Die wird ihr Kind nicht anmelden.

Frau Jantzen! Ihre Redezeit ist beendet. Kommen Sie bitte zum Schluss!

Ich wollte gerade zu meinem Schlusssatz kommen. – Damit erreichen Sie gerade das eben nicht, was Sie von Rot-Rot sich auf die Fahnen geschrieben haben, nämlich mehr Bildungsgerechtigkeit und bessere Bildungschancen für alle zu schaffen und gerade die benachteiligten Kinder in die Kitas zu bringen. Das finde ich dann sehr traurig.

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Jantzen! – Für den Senat hat jetzt der Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung das Wort, Herr Prof. Dr. Zöllner – bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Reformitis, Kitaplatzmangel, Betreuungsdefizite, Hortlücke, Beratungsdefizite – sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Offensichtlich verfällt man, wenn man keine eigenen Konzepte hat,

[Mieke Senftleben (FDP): Uns das vorwerfen!]

in Panikmache.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Dr. Margrit Barth (Linksfraktion): Genau das ist es! – Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Frau Senftleben, lassen Sie uns doch sachlich sein! – Ich zumindest kann mich in dieser Legislaturperiode nur an zwei Maßnahmen erinnern, die man als Reformen im Schulbereich bezeichnen kann. Das sind die Einführung des Bildungsprogramms in den Kindertagesstätten und zweitens die Schulstrukturreform in der Sekundarstufe I. Beide Reformen – und das ist völlig klar – sind kein Selbstzweck, sondern bildungspolitisch und pädagogisch erforderlich und – meine Damen und Herren von der FDP und von der CDU – offensichtlich in Berlin unumstritten. Und das ärgert Sie fürchterlich.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und bei der Linksfraktion – Mieke Senftleben (FDP): Überhaupt nicht! – Björn Jotzo (FDP): So ein Unsinn!]

Mit der Einführung des Bildungsprogramms für Kindertagesstätten sind die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher ohne Zweifel gestiegen. Um eine bestmögliche kindliche Bildung zu ermöglichen, haben diese Koalition und dieser Senat im Jahr 2010 den Personalschlüssel zur Betreuung unserer Kinder mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbessert. Wir sollten uns einig sein, dass die Kita eine Bildungseinrichtung ist, und wir wol

len, dass alle Kinder so frühzeitig wie möglich diese Einrichtung besuchen.

[Mieke Senftleben (FDP): Das ist ein Anspruch!]

Also haben wir eine der Zugangsschwellen abgeschafft und die Beitragsfreiheit eingeführt. Auch dieses hat enorme finanzielle Auswirkungen. Aber es ist, nach unserer Überzeugung zumindest, sehr gut angelegtes Geld.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und bei der Linksfraktion]

Eine bessere Betreuungsrelation, mehr Qualität in den Kitas und die Beitragsfreiheit, natürlich sind dies alles Maßnahmen, die zu einem Mehrbedarf von Erzieherinnen und Erziehern führen. Darauf ist schon hingewiesen worden. Jede gute Tat rächt sich. Natürlich gibt es dann einen erhöhten Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern. Dennoch ist das kein Grund, einen Erziehernotstand auszurufen. Es ist unverantwortlich, in diesem Zusammenhang von allgemeinen Betreuungsdefiziten zu sprechen.

Der Senat hat ein Sofortprogramm aufgestellt, mit dem neben der Erhöhung der Ausbildungskapazitäten und dem Werben für die berufsbegleitende Erzieherausbildung auch der Seiteneinstieg in den Beruf des Erziehers ermöglicht wird. Ich meine übrigens, das wird sogar der Qualität in diesem Bereich dienen. Allein zwischen April und Dezember 2010 genehmigte die Kitaaufsicht den Einsatz von ca. 400 Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern, die die berufsbegleitende Ausbildung aufgenommen haben oder demnächst aufnehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere von der FDP! Reden wir doch nicht immer nur von mehr Netto vom Brutto! Die Beitragsfreiheit ist nicht nur sozial gerecht, sie ist eine wirkliche wirtschaftliche Entlastung für die Eltern in Berlin,

[Mieke Senftleben (FDP): Das ist klar!]

durchschnittlich 680 Euro im Jahr, bei einigen Eltern sogar bis 4 000 Euro im Jahr. Die Steuererleichterungen Ihrer Partei mit einer Entlastung von 7 Euro im Monat sind dagegen ein Witz.

[Dr. Margrit Barth (Linksfraktion): Lächerlich! – Beifall von Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion)]

Und es ist genau die Lücke, die die Leistungsträger in dieser Gesellschaft darstellen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Björn Jotzo (FDP): Sorgen Sie endlich für Qualität!]

Eine der Auswirkungen dieser familienfreundlichen Senatspolitik scheint mir eine wachsende Nachfrage nach Kitas zu sein. Die Frage ist: Haben wir genügend Plätze für Kinder? Bei solchen Informationen sollte man sich konkrete Zahlen vorlegen lassen und nicht wieder einer neuen Sau nachlaufen, die durchs Dorf gejagt wird.

[Mieke Senftleben (FDP): Nicht jeder Sau!]

Die Zahlen besagen, dass wir am Stichtag, dem 31. Dezember 2010 120 576 Kinder in unseren Kitas hat

ten, die Kitaaufsicht aber 141 759 genehmigte Plätze in ihrer Statistik hat. Erstens: Mindestens 120 000 Frauen in Berlin mussten ihr Brautkleid nicht tauschen. Wir haben aus diesen Zahlen höchstens dem Eindruck, dass wir eher zu viel als zu wenig Kitaplätze haben. Selbst wenn man in diesem Fall berücksichtigt, dass nicht alle Plätze im Augenblick nutzbar sind, und möglicherweise einige Plätze nicht benutzt werden können, weil es ohne Zweifel in einigen Fällen Schwierigkeiten gibt, Erzieherinnen und Erzieher zu gewinnen, kann es sich letzten Endes nur um eine Problematik in einigen Bezirken handeln, die einen haben zu viel, die anderen zu wenig.

[Mieke Senftleben (FDP): Bisschen zynisch, was Sie hier reden! Kann das sein?]

Übrigens in Richtung der Grünen und zu dem, was Frau Pop vorher gesagt hat: Die Zuständigkeit der Bezirke für diesen Bereich wird nicht dadurch ausgehebelt, dass eine verantwortliche Bezirksstadträtin laut dann nach dem Senat ruft, wenn sie ihre eigenen Schulaufgaben nicht gemacht hat.

[Elfi Jantzen (Grüne): Sie hat ihre Schulaufgaben gemacht!]

Sie hat sich das möglicherweise angewöhnt, nachdem sie schon diese Schwierigkeiten mit dem Bau von Schulgebäuden hatte.