Meine Damen und Herren! Haben Sie alle die Möglichkeit gehabt, abzustimmen? – Das ist offenbar der Fall. dann setzen wir die Sitzung fort. – Ich bitte die Beisitzer, das Ergebnis auszuzählen.
Für die Beratung sind jeweils fünf Minuten vorgesehen. Es beginnt die Fraktion Die Linke. Das Wort hat der Kollege Brauer.
Meine Damen und Herren! Bevor der Abgeordnete Brauer beginnt, bitte ich Sie, doch wieder Platz zu nehmen, damit der Abgeordnete Brauer die Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema hat. Ich bitte alle, die noch irgendwo Nebengespräche führen, Platz zu nehmen! – Bitte, Sie haben das Wort.
Danke schön! – Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Im Vorfeld der Erarbeitung unseres Antrags wurden wir gelegentlich mit der Meinung konfrontiert, dass es dieses Themas doch genug sei, eine ideologische Debatte; die Geschichte sei abgeschlossen. Und im Übrigen habe am 8. Mai 1945 die Spaltung Europas begonnen, da gebe es nichts zu feiern.
Nichts ist meines Erachtens falscher als solche Äußerungen eines geteilten historischen Bewusstseins. Das deckt sich nur scheinbar mit der Frage des polnischen Publizisten Adam Krzeminski, ich zitiere: „War der 8. Mai eine Befreiung?“ Schließlich erinnere sich doch jedes europäische Land anders an den Zweiten Weltkrieg. – Als Pole hat Krzeminski z. B. angesichts des Hitler-Stalin-Pakts das Recht, diese Frage so zu formulieren. Wir Deutschen dagegen haben hier Zurückhaltung zu üben. Unsere Opfer sind nicht die von Stalins Schergen gemeuchelten polnischen Offiziere von Katyn. Wir haben zu sprechen z. B. über die 152 lebendigen Leibes verbrannten Einwohner des bjelorussischen Dörfchens Chatyn; da waren 76 Kinder dabei. Es ist richtig, der Toten von Dresden zu gedenken, aber dabei sind immer mit zu denken die totgebombten Einwohner z. B. von Guernica, Coventry und London. Deren Sterben ging dem Untergang Dresdens voraus.
Es ist richtig, der in den Fluten der Ostsee umgekommenen Flüchtlinge auf der sinkenden „Wilhelm Gustloff“ zu gedenken. Aber dem voraus ging das jammervolle Ertränken der Kinder der „City of Benares“ und vieler anderer Schiffe durch deutsche Torpedos. Natürlich dürfen wir die 23 von sowjetischen Soldaten erschossenen Zivilisten von Nemmersdorf nicht vergessen. Aber voraus ging dem z. B. die Ermordung von 33 771 Zivilisten, darunter vieler Kinder, innerhalb von 36 Stunden – das wurde seinerzeit genau protokolliert – in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew. Viele von ihnen wurden lebendigen Leibes eingegraben. „Es brennt das Herz vor Scham, es schweigt das Herz beklommen“, beschreibt der Dichter Becher diese psychische Situation, in die man gerät, wenn man sich in die Abgründe dieses deutschen Krieges, um Krzeminski beim Wort zu nehmen, begibt.
Es geht darum, dass heute, im Jahr 2010, nach dem von den deutschen Faschisten erträumten Endsieg und der erträumten Exekution ihres Generalplans Ost das polnische Volk z. B. vollkommen ausgelöscht wäre und in Europa kein einziger Bjelorusse, Russe und Ukrainer mehr leben würde. Davon, von jener Krankheit Faschismus, die unser Volk in den kollektiven Mörderwahnsinn trieb, wurden wir befreit. Wahr ist, dass dies gegen den heftigen Widerstand der Befreiten geschah. So mancher Patient verflucht seinen Arzt, der ihm das Leben rettet, als einen Schinder, weil der ihm Schmerzen bereitete.
Ich spreche jetzt nicht von den vielen Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes befreit wurden aus den Zuchthäusern und Konzentrationslagern, aus Kellerverstecken und Todesmärschen. Ich spreche nicht von den Wenigen,
die Widerstand ausgeübt haben. Ich spreche von unserem Volk, dem Volk der Mittäter, der Mitläufer und der unzähligen schweigend am Wege Stehenden. Dieses Volk wurde befreit von einer Last, die es nicht abzuschütteln vermochte und die es sich im Winter 1933 selbst auf die Schulter gelegt hatte. Zitat:
Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist; der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und den Grauen des Krieges.
Uns geht es nicht darum, in das Korsett der offiziellen Gedenktage aus formalen Gründen noch eine weitere Stange einzuziehen. Aber diesem Ereignis, dem 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung auch des deutschen Volks vom Faschismus ob seiner Singularität in der deutschen Geschichte, ist endlich Rechnung zu tragen.
Geschichte kann sich wiederholen. Am 1. Mai – das war vorhin Thema – war dies erst wieder auf der Bornholmer Straße zu sehen, und ich habe großen Respekt vor allen, die sich den Faschisten in unserer Stadt entgegenstellten und -setzten.
Die Völker wurden seiner Herr. Jedoch Ich wollte, daß ihr nicht schon triumphiert. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Brechts Befund stimmt immer noch, leider. Auch deshalb brauchen wir den 8. Mai als nationalen Gedenktag zum Wachhalten der kollektiven Erinnerung unseres Volkes. Um unseretwillen. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Brauer! – Für die CDUFraktion hat der Abgeordnete Dr. Lehmann-Brauns das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 8. Mai ist nicht nur ein naheliegendes, sondern auch ein kompliziertes Datum. Die Antragsteller haben zu Recht, aus
welchen Gründen auch immer, einen wichtigen Satz Richard von Weizsäckers in ihre Antragsbegründung geschrieben, einen Satz, der die Ambivalenz der Geschichte deutlich macht.
Mir liegt zunächst daran, namens meiner Fraktion und – ich nehme an – in Ihrer aller Namen festzustellen: Ja, der 8. Mai 1945 hat unser Volk von einer teuflischen, brutalen Herrschaft befreit, und nicht nur dieses Volk, sondern fast das ganze Europa, das riesige Russland eingeschlossen. Und er hat uns in Europa – welch großes, unschätzbares Glück – das Ende des Krieges gebracht. Deshalb wird seiner an vielen Orten des Kontinents zu Recht gedacht.
Der Antrag nimmt Bezug auf die weizsäckersche Rede. Wer sie vollständig liest, der stößt auf viele Formulierungen, die es rechtfertigen, von einem komplizierten Datum zu sprechen. Ich zitiere aus einer der zehn eng bedruckten Seiten:
Eine erstaunliche Distanzierung! Im Lauf seiner Rede breitet Weizsäcker ein ganzes Kaleidoskop von Tatsachen und Empfindungen aus, auf denen jenes Datum beruht. Er spart nicht die Folgen aus, die der 8. Mai für Millionen Menschen auf diesem Kontinent bedeutete. Sie haben das ja auch nicht getan, Herr Brauer! Er benennt die später auch durch Günter Grass z. B. enttabuisierten Vertreibungen der Deutschen, die massenhaften Vergewaltigungen, die aktuell zunehmend in Büchern behandelt werden, Zwangsarbeit, Folter, Hunger und Not – Folgen übrigens, die die russische Bevölkerung ihrerseits, ihre tapferen Soldaten, die Stalin den Vaterländischen Krieg gewonnen hatten, ertragen mussten. Diesen Stalin dürfen wir in der Diskussion nicht außen vor lassen, war er es doch, der 1939 das Bündnis mit Hitler geschlossen hatte, das zur gewaltsamen Teilung Polens führte. Aber auch dieser Teufelspakt der schlimmsten Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts beseitigt nicht die Schuld Nazideutschlands an dem Überfall auf Polen, Frankreich und Russland. Er ist für immer in unsere nationale Biografie eingebrannt.
Aber auch das erwähnt Weizsäcker in seiner Rede: Die Rote Armee unter der Knute Stalins befreite nicht nur halb Europa, sondern besetzte es dann auch. Ihr zum Opfer fielen z. B. die tapferen Polen, die Ungarn, Tschechoslowaken, die baltischen Staaten, deren Freiheitswunsch im Nachhinein immer wieder brutal unterdrückt wurde. Für sie dauerte die Befreiung am 8. Mai 1945 nur eine historische Sekunde, bevor sie nach der braunen Herrschaft Opfer der roten Diktatur wurden. Eine nachhaltige Befreiung gab es nur für die Menschen und Länder westlich der Elbe – immerhin! Aber bleiben wir bei Russland: Können wir wirklich davon ausgehen, dass die Millionen Gulagopfer den 8. Mai als Befreiung empfanden? – Erst das Jahr 1989/90 führte zu einer wirklich
Der vorliegende Antrag wird dieser verschlungenen Dialektik der historischen Entwicklung jedenfalls nicht gerecht. Wir glauben nicht, dass die Einführung eines Gedenktages die adäquate Antwort auf die differenten Empfindungen innerhalb der europäischen Länder wäre. Für meine Fraktion und für mich persönlich hat der 8. Mai 65 Jahre nach Kriegsende und 20 Jahre nach der Befreiung des ganzen Kontinents vor allem eine menschliche Bedeutung. Sie liegt in der kriegsfreien Möglichkeit für die Völker Europas, endlich frei zu sein, zueinanderzufinden, Freundschaft zu schließen. Ich habe persönlich diese Freundschaft von vielen russischen Menschen erfahren – ob in dem ehemaligen Stalingrad, heute Wolgograd, oder in Moskau oder in Berlin. Ich nehme gern diese Gelegenheit wahr, mich bei ihnen für Toleranz und Freundschaft gegenüber den Kriegsgegnern von einst öffentlich zu bedanken.
Die Gesellschaft ist sich über die teuflische Rolle Hitlers und des von ihm beherrschten Deutschlands einig. Jahr für Jahr gedenken wir – ob im Bezirk, ob im Land, ob in ganz Deutschland – des Datums. Ich habe mich von den Vorbereitungen in diesem Jahr persönlich überzeugen können. Offensichtlich ist den Antragstellern dieses Gedenken nicht ausreichend. Es soll irgendwie getoppt werden. Diesen Zusatzbedarf vermag meine Fraktion nicht zu erkennen. Den vorliegenden Antrag halten wir deshalb für gut gemeint, aber weder für erforderlich noch für geeignet, der komplizierten und in sich verschlungenen Weltgeschichte gerecht zu werden. – Vielen Dank!
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Lehmann-Brauns! – Jetzt hat Frau Abgeordnete Lange für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Lehmann-Brauns! Nicht im Ende des Krieges liegt die Ursache für Flucht und Vertreibung, sondern sie liegt bereits im Januar 1933.
Aber dieses Datum ist auch kein Datum, über das man polarisieren oder sich streiten sollte. Deswegen will ich mich heute mal an meinen Text halten.
Am 65. Jahrestag des Sieges über das Nazi-Regime gedenken wir des 8. Mais 1945 als eines Tages der Befreiung. Der 8. Mai ist ein Tag der Befreiung, der uns alle
von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit hat. Sie haben die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Herr Dr. Lehmann-Brauns, bereits zitiert. Für uns charakterisieren sie die Bedeutung des 8. Mais in der Geschichte. Nicht Kapitulation und Niederlage, sondern die Befreiung von der NS-Diktatur ist spätestens seit dieser Rede der Grundsatz unserer Erinnerungskultur. Das Dritte Reich hat ganz Europa mit Krieg überzogen und Menschen in Deutschland und Europa aus politischen und rassistischen Gründen verfolgt und systematisch ermordet. Gerade heute, am 6. Mai – gestatten Sie mir, dass ich daran noch einmal erinnere –, begannen die Plünderungen der Bibliotheken durch nationalsozialistische Studenten und Professoren. Es wurden diese Bücher dann am 10. Mai verbrannt. Und schon Heinrich Heine sagte: