Das Wort zur Begründung der Großen Anfrage hat die Fraktion der CDU mit einer Redezeit von bis zu fünf Minuten. Herr Steuer hat das Wort. – Bitte sehr!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zwei Monaten hat der Bildungssenator dem Senat ein Konzept für eine neue Schulstruktur in Berlin vorgelegt, und er ist damit gescheitert. Daraufhin kündigte er an, dass er im Dezember, also in diesem Monat, ein abgestimmtes Konzept vorlegen werde. Heute wäre die Möglichkeit dazu gewesen, aber Sie haben nichts vorgelegt, denn Sie schaffen es in der Koalition einfach nicht, zu einem gemeinsamen Konzept zu kommen.
Stattdessen stellen Linkspartei und die vereinigte Linke in der SPD ein Papier vor, in dem sie dem eigenen Senator in zentralen Punkten klar widersprechen. Dass die Koalition in der Schulstrukturfrage tief zerstritten ist, kann ihr
Problem bleiben, aber dass Sie mit diesem Streit seit Wochen Eltern, Schüler und Lehrer in dieser Stadt verunsichern und terrorisieren, ist unverantwortlich und ein Skandal.
Wir gehen anders vor. Die CDU hat vor einem Jahr eine Kommission eingesetzt, die mit Experten, Politik, Verbandsvertretern und Schulpraktikern ein Konzept erarbeitet hat, das wir im Januar vorstellen wollen. Und wir haben das geschafft, ohne Porzellan in der Öffentlichkeit zu zerschlagen und alle im Schulbereich Tätigen, Eltern und Schüler zu verunsichern.
Heute fordern wir Sie auf: Legen Sie endlich einen diskussionsfähigen Vorschlag vor! Hören Sie endlich auf, im Schulsystem herumzumurksen und nun auch noch die sechste und siebente Schulreform einzuführen! Wenn Sie schon so ängstlich und kleinkariert im Denken sind, dass Sie es nicht wie in Hamburg zu einem dauerhaften Konsens aller Parteien kommen lassen, dann legen Sie Ihre Ideen doch endlich auf den Tisch des Parlaments, damit wir uns alle eine Meinung bilden können und die Verunsicherung in Berlin schnell beendet wird. Um Sie endlich dazu zu zwingen, Ihre Konzepte hier zu diskutieren, wo sie hingehören, warten wir heute auf Ihre Antwort zu unserer Großen Anfrage.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Steuer! – Zur Beantwortung der Großen Anfrage hat jetzt der Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Herr Prof. Dr. Zöllner, das Wort. – Bitte sehr!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kernziel der Bildungspolitik dieses Senats ist es, die Chancen für alle Kinder und Jugendlichen zu erhöhen, indem wir die Abhängigkeit des Bildungserfolges vom sozialen Hintergrund der Kinder verringern und sogleich die Stärken aller bestmöglich fördern.
[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Mieke Senftleben (FDP): Genau das haben Sie nicht erreicht!]
Wir müssen einen Paradigmenwechsel in den Schulen schaffen, hin zu einer optimalen Förderung jedes einzelnen Kindes – das ist das Zugeständnis, dass wir noch eine Aufgabe vor uns haben.
Was hat das mit der Schulstrukturfrage zu tun? – Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, dass es einen Beschluss des Abgeordnetenhauses im Mai dieses Jahres gab, der mich beauftragt hat, bis Ende des Jahres einen Bericht vorzulegen, der Vorschläge enthalten soll – ich zitiere – zur
Weiterentwicklung der Schulstruktur als Schritt zu mehr individueller Förderung und gemeinschaftlichem Lernen.
Das heißt, die Linie ist vorgegeben. Diesem Auftrag werde ich nachkommen, und ich werde konkrete Vorschläge unterbreiten, nachdem ich Ihnen die Eckpunkte, an denen entlang diese Vorschläge erstellt werden, bereits vorgestellt habe.
Um allerdings einen fundierten Vorschlag machen zu können, der nicht nur an den Schreibtischen meiner Senatsverwaltung entsteht und aus Betroffenen wirklich Beteiligte macht, der das Wissen, die Erfahrung, aber auch die Intentionen der Schulen mit einbezieht, bedarf es des Dialoges und der Klärung im Vorfeld, ob das, was man will, tatsächlich umsetzbar ist. Die bisherigen Reaktionen der unterschiedlichen Verbände, Organisationen und Gremien zeigen mir, dass dieser Weg von Transparenz und tatsächlicher demokratischer Beteiligung – und nicht verbaler Lippenbekenntnisse – zu einem frühen Zeitpunkt richtig war und richtig ist. Deshalb wird ein sehr ausführlich diskutierter Vorschlag von mir im Januar vorgelegt werden.
Entscheidend ist, was drin ist und nicht, was auf dem Türschild steht. Guter Unterricht kann grundsätzlich in jeder Schulstruktur stattfinden. Auch gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer sind mindestens so wichtig für guten Unterricht und für schulischen Erfolg der Kinder wie eine Schulstruktur. Dennoch müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass wir in Berlin an die Grenzen einer stark zersplitterten Schulstruktur stoßen. Sie verstärkt ohne Zweifel soziale Ungleichheit und baut sie nicht ab. Deshalb bleiben viele Jugendliche auf der Strecke.
Wir stehen in Berlin vor drei drängenden Herausforderungen. Erstens hat die von Jahr zu Jahr gesunkene Akzeptanz der Hauptschule dazu geführt, dass in Berlin im laufenden Schuljahr nur noch etwas über 6 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler zur Hauptschule gewechselt sind. Im Schuljahr 2007/2008 waren es weniger als 8 Prozent. Die Tendenz ist also kontinuierlich fallend.
Wir können absehen, wann es weniger als 5 Prozent sein werden. In den wenigen Ländern, die noch an der Hauptschule festhalten, geht dagegen noch rund ein Drittel der Schülerschaft nach der Grundschule in die Hauptschule über.
Die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit hat in den Gymnasien zu einer Verdichtung des Lernens geführt. Nicht alle Schülerinnen und Schüler sind dieser Herausforderung gewachsen, obwohl sie durchaus die Voraus
setzungen zum Erwerb des Abiturs haben. Nicht alle, die das Abitur anstreben, wollen es in zwölf Jahren machen, sondern sie möchten sich dreizehn Jahre dafür Zeit nehmen. Dafür müssen wir passgenaue Wege finden. Die Aufgabe von uns als Staat ist es, Angebote für unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten zu machen und nicht Vorgaben, die zwingend sind.
Wir wollen und müssen mehr Schülerinnen und Schüler zum Abitur führen, und zwar ohne Absenkung der Leistungsstandards. Nur so können wir einem künftigen Mangel an hochqualifizierten Fachkräften vorbeugen. Für eine Stadt wie Berlin, die auf hochwertige Dienstleistungen und Wissenschaft setzt, muss das besonders wichtig sein. Das vorausgeschickt, möchte ich jetzt Ihre konkreten Fragen im Zusammenhang beantworten.
Keiner bestreitet ernsthaft, dass Chancengleichheit durch einen möglichst langen gemeinsamen Weg in einem integrativen System, das unterschiedliche Formen der Differenzierung zulässt und Individualisierung letzten Endes voraussetzt, erreicht wird. Die Gemeinschaftsschule ist dabei ein wichtiges Modellprojekt, um integrative Formen des Lernens und Unterrichtens zu entwickeln. Die von mir in einer längerfristigen Perspektive vorgeschlagene Regionalschule könnte diese Elemente übernehmen und als integrative Schulart mit individuellen, von den Einzelschulen zu entscheidenden Differenzierungsansätzen das zentrale und attraktive Schulangebot für den Sekundarstufe-I-Bereich darstellen. Sie würde alle Bildungsabschlüsse bis hin zum Abitur nach zwölf oder dreizehn Jahren ermöglichen und zugleich eine optimale Förderung eines jeden Kindes in seiner Unterschiedlichkeit entscheidend verbessern. Daneben würde sich ein weiterentwickeltes Gymnasium stellen.
Eine Reform der Schulstruktur kann aber nur gelingen, wenn sie auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruht. Wir müssen den Willen der Eltern ernst nehmen. Deshalb gilt es aus meiner Sicht, das Gymnasium ebenfalls weiterzuentwickeln und es nicht abzuschaffen.
Auch beim Zugang zum Gymnasium muss der Elternwillen adäquat berücksichtigt werden. Am Ende einer Strukturdebatte ist es deshalb nicht wünschenswert, dass es Probleme gibt, die durch die bestehenden Strukturen nicht gelöst werden können. Die notwendige Diskussion muss zielorientiert sein und sich daran messen lassen, dass sie Lösungen bietet und gerechte Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler schafft.
Ich halte die Debatte über die Struktur für notwendig und richtig. Wir müssen sie jetzt führen, sie darf notwendige pädagogische Reformen nicht ausblenden, und sie darf sich nicht in einer ideologischen Kurzatmigkeit erschöpfen. Sie muss einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens in den Lösungen anstreben.
Die Berliner Grundschule bietet dabei mit einer gemeinsamen sechsjährigen Lernzeit und guten Rahmenbedingungen eine hervorragende Ausgangslage für die Weiterentwicklung der Schulstruktur auch im Bereich der Sekundarstufen. Mit einem Zusammenführen von Haupt- und Realschulen und auch gleich mit den Gesamtschulen setze ich dabei auf eine attraktive neue und integrative Schulart. Das ist ein Schritt, um der Zersplitterung des Schulsystems entgegenzuwirken. Sie kann ein Beispiel dafür sein, wie eine Schule organisiert sein muss, die alle fördert und tatsächlich keinen zurücklässt.
Eine Schule, die praxisorientiertes Lernen durch institutionalisierte Kooperation von Schule und Wirtschaft etabliert, die duales Lernen im Ganztagsangebot flächendeckend einführt, die vorhandene Profilbildungen sichert und weiterentwickelt, Differenzierung und Individualisierung systematisch in den Unterricht holt und es schafft, den Lernvoraussetzungen aller Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden und zugleich allen Schülerinnen und Schülern Bildungswege bis hin zur allgemeinen Hochschulreife ohne Brüche und ohne Umwege ermöglicht. Das sind Kernpunkte eines Konzepts, das es im Einzelnen zu entwickeln gilt. Das tun wir gemeinsam mit allen Beteiligten, insbesondere mit den Leiterinnen und Leitern der Haupt- und Realschulen, die mich übrigens dabei nachdrücklich unterstützen – sowohl in der Notwendigkeit als auch in dem Weg.
In den vielen Gesprächen, die ich seit der Vorstellung meiner Eckpunkte mit Lehrerinnen und Lehrern, Schulleiterinnen und Schulleitern, Gewerkschaften und Gremien geführt habe, bekomme ich fast durchgängig ein Plädoyer dafür, die Zusammenfassung der Haupt- und Realschulen und Gesamtschulen in einem Schritt zu vollziehen. Ich nehme diese Anregung ernst.
Sollte das Abgeordnetenhaus einem solchen Vorschlag mehrheitlich folgen und letzten Endes den Senat mit der Umsetzung beauftragen – ich hoffe, es gibt dafür eine breite Mehrheit! –, werden wir einen umfassenden Unterstützungsprozess für die Schulen in Gang setzen, damit sie für diese Veränderungen gut gerüstet sind.
Wir werden deutlich machen, dass sich nicht nur Real- und Hauptschulen bewegen, sondern auch die anderen Schularten. Das gilt ausdrücklich auch für das Gymnasium. Das Gymnasium muss ebenfalls veränderte Lehr- und Lernformen hin zu mehr Individualisierung entwickeln und in die Lage versetzt werden, ohne Abschulen alle Schülerinnen und Schüler zu fördern.
Aber auch die Zusammenarbeit von Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I muss z. B. durch einen systematischen Lehreraustausch in beide Richtungen und durch die Qualifizierung der Klassen 5 und 6 im Über
Noch eine konkrete Antwort auf eine Ihrer Fragen, Herr Steuer: Der Abiturstandard wird mit mir nicht abgesenkt werden. Um mehr Schülerinnen und Schülern den Weg zur allgemeinen Hochschulreife zu eröffnen, müssen sie noch mehr in ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, das Abitur in zwölf und dreizehn Jahren zu erwerben. Durch die Vielzahl des Bildungsangebots sollen sie sich entscheiden, ob sie bereits in der gymnasialen Oberstufe eine berufliche Orientierung anstreben oder lieber eine allgemeinbildende gymnasiale Oberstufe besuchen möchten.
Das Ziel, mehr Schülerinnen und Schüler zur allgemeinen Hochschulreife zu führen, ergibt sich aus den Anforderungen eines sich international orientierenden, globalen Marktes, auf dem sich Deutschland in vielen Sparten in Zukunft behaupten muss. Dafür wird eine kleine Elite nicht ausreichen. Vielmehr müssen wir Schülerinnen und Schülern insgesamt ein höheres Maß an Bildung ermöglichen. Dass dies möglich ist, zeigen uns andere europäische Länder. Eine integrative Schulform, die alle Bildungsabschlüsse bis hin zur allgemeinen Hochschulreife bietet, ist aus meiner Sicht ein guter Weg, um nicht nur leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler besser als bisher zu fördern, sondern in gleichem Maß auch die leistungsstarken. Es gilt, das zu erreichen.
In diesem Zusammenhang, Herr Steuer: Aus meiner Sicht kann von Streit und Verunsicherung keine Rede sein. Wir tragen keinen Streit aus; jedenfalls bin ich an ideologischen Auseinandersetzungen nicht interessiert. Nach meiner Ansicht führen wir eine engagierte Diskussion, in der sich alle einbringen und einen Schritt nach vorne machen wollen. Wir tun das gemeinsam mit den Beteiligten. Dabei spüre ich – für mich überraschend – viel Rückenwind bezüglich der von mir vorgestellten Eckpunkte. Ich lade Sie alle – auch die Oppositionsfraktionen – herzlich ein: Lassen Sie uns im Interesse der Kinder und Jugendlichen in dieser Stadt einen gemeinsamen richtigen Weg finden!
Um die Kinder und Jugendlichen geht es. Andere Länder zeigen, dass ein gemeinsamer Ansatz möglich ist. – Ich bedanke mich!