Protocol of the Session on February 14, 2008

[Christian Gaebler (SPD): In der Wirklichkeit!]

Ich darf Sie an die derzeitige Situation erinnern: In Berlin gibt es aktuell deutlich weniger als 100 000 Industriebeschäftigte. In Breslau gab es allein in den letzten zwei Jahren 125 000 neue Industriearbeitsplätze. Berlin ist davon weit entfernt, und Sie reden von der Wiederauferstehung des Industriestandorts Berlin. Ich kann mir dabei nur an den Kopf fassen.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Noch ein zweiter Vergleich: Die Berliner Kreativwirtschaft hat inzwischen über 150 000 Beschäftigte und die Berliner Gesundheitswirtschaft 180 000. Man kann nicht oft genug betonen – Herr Jahnke, Ihre Ausführungen reichen bei Weitem nicht aus –, dass der Vergleich „Industrie versus Dienstleistung“ veraltet ist. Heute geht es um Cluster. Das, was Sie hier zelebrieren, ist der alte marxistische Gegensatz zwischen produktivem Industriesektor und unproduktivem Dienstleistungssektor. Das ist unproduktiv für die Stadt. Dieser galoppierende Rückwärtsgang ist beängstigend.

[Beifall bei den Grünen]

Es scheint Ihnen ein inneres Bedürfnis zu sein, gerade während der Berlinale diese Große Anfrage zu behandeln; ursprünglich war sie sogar als Aktuelle Stunde vorgesehen. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn Sie das anders gemacht hätten. Wir hätten auch in zwei Wochen darüber reden können.

Nach Ihren eigenen Maßstäben – deren Sinnhaftigkeit ich gerade dargestellt habe – hat Ihre Wirtschaftspolitik versagt. Die Wirtschaft hat Ihnen entsprechende Zahlen präsentiert. Obwohl die Kreativwirtschaft noch andere Förderbedingungen bräuchte, sind in den letzten Jahren deutlich mehr Fördermittel in die Kreativwirtschaft geflossen, als von Ihnen prognostiziert. Die stärker industrielastigen Kompetenzfelder sind im Expansionsvolumen deutlich hinterhergehinkt. Bei der zentralen Kenngröße für industrielle Entwicklung, dem Wachstum, hinkt Berlin seit Jahren hinter dem Bundestrend hinterher. Auch der aktuell etwas geringere Abstand zwischen Berlin und dem Bundestrend bedeutet keine echte Entwarnung. Jeder Ökonom – auch Sie, Herr Jahnke – weiß, dass es völlig normal ist, dass wirtschaftlich schwache Regionen in Zeiten der Konjunkturerholung, des Booms den Abstand verringern können. Von echter Aufholentwicklung kann man nur sprechen, wenn Regionen über den Durchschnitt hinausgehen. Davon ist Berlin weit entfernt. Demnächst wird es sich zeigen: Der Konjunkturabschwung kommt, und wir werden sehen, ob Berlin wieder hinten steht. Der helle Streifen am Horizont wird sich für Berlin wieder verfinstern, zumindest wenn es so bleibt, wie es bisher war, und Sie die Weichen nicht richtig stellen.

Wir haben mit schwierigen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Das Fördergefälle zwischen Berlin und Brandenburg hat sich mit der neuen Förderperiode verstärkt. Die Fachkräfte anzusprechen, reicht nicht. Das eigentliche

Thema ist die Fachkräfteentwicklung, die Wichtigkeit von Fachkräften zur Ansiedlung und Bestandspflege. Dieses Thema ist hier im Haus und im Senat noch gar nicht angekommen.

[Beifall bei den Grünen]

Am Montag haben wir im Rahmen der Anhörung noch einmal gehört, dass die dramatischen Arbeitsplatzverluste vor zwei Jahren – JVC, Samsung u.a. – keine organisatorischen Konsequenzen seitens des Senats nach sich gezogen haben. Nach wie vor ist die Bestandspflege kein Thema. Das einzige Engagement, auf das der Senat verweisen kann, ist ein Auftritt des Regierenden Bürgermeisters auf einer Industriekonferenz. Das reicht nicht aus.

[Beifall bei den Grünen und der FDP – Beifall von Uwe Goetze (CDU)]

Sie verpassen weitere Chancen. Auch das haben wir am Montag noch einmal gehört. Berlin Partner freut sich, dass sich der Solarstandort Berlin entwickelt. Inzwischen gibt es in diesem Bereich eine Nachfrage. Unternehmen wollen nach Berlin kommen. Berlin Partner hat sogar festgestellt, dass Berlin über das wachstumsstärkste Cluster an Produzenten, Zulieferern und Dienstleistern europaweit verfügt.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Donnerwetter!]

Das waren die Fakten. Was macht der Senat damit? – Nichts! Seit Jahren kämpfen wir darum, dass Berlin eine Unterstützung oder Förderung im Bereich Umwelt und Energie entwickelt. Es gibt nach wie vor keine Kompetenzfeldförderung im Land Berlin für umwelt- und energieorientierte Unternehmen.

[Steffen Zillich (Linksfraktion): Das ist Quatsch! Machen Sie sich kundig!]

Warum gibt es das nicht? – Weil der Senat auf ein Gutachten verweist, das er von Boston Consulting hat machen lassen, und die hätten das nicht erkennen können. Wenn wir nicht auf Boston Consulting, sondern auf die Realität schauen, kommen wir voran.

Auch die Chancen für Wirtschaft und Arbeit im Bereich des regionalen Biomarktes haben Sie verschlafen. Das ist auch eine schreckliche unendliche Geschichte. Berlin war einmal größter Landwirt Europas und verfügte über 12 000 Milchkühe.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Wir hatten auch mal einen Kaiser!]

Die Berliner Stadtgüter wurden veräußert. Wir haben jahrelang darüber diskutiert, gerungen und gestritten, welche große Chance es für den regionalen Biomarkt gewesen wäre, wenn man wenigstens Teile der Stadtgüter auf regionale Bioproduktion und ökologische Landwirtschaft umgestellt hätte. Was haben Sie gemacht? – Nichts! Kein einziger Liter Milch ist in die ökologische Landwirtschaft übergegangen. Komplette Fehlanzeige! Was ist die Konsequenz? – Wir haben einen Herbst und einen Winter erlebt, in denen die regionale Biomilchproduktion dermaßen im Keller war, dass nur noch der Tagesbedarf gedeckt

werden konnte. Ich wollte dem ausscheidenden Staatssekretär Strauch zum Abschied einen Korb mit Milchprodukten aus der Region schenken und musste leider unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückkehren, weil es momentan einen Engpass gibt. Es hat mehrfach entsprechende Anfragen seitens der gläsernen Molkerei, die regionale Biomilch verarbeitet, gegeben. Die Stadtgüter hatten kein Interesse. Sie haben keine Nachfolgemöglichkeit geschaffen. So gehen Sie mit den Chancen der Berliner Wirtschaft im Bereich der regionalen Biomilch um.

[Beifall bei den Grünen – Zuruf von Uwe Doering (Linksfraktion)]

Herr Doering, die rot-rote Koalition hat im Rahmen der Großen Anfrage nach der Entwicklung des regionalen Biomarkts gefragt. Deshalb dachte ich, dass Sie das als Teil der Industriepolitik begreifen. Aus diesem Grund bin ich darauf eingegangen. Wenn Sie das jetzt revidieren, spricht das für sich bzw. gegen Sie. Sie sehen also kein Potenzial für die Bioproduktion in der Region BerlinBrandenburg. Das spricht gegen Ihre Standortpolitik. Wenn Sie kein Bio brauchen, ist es nachvollziehbar, dass Sie unsere ebenfalls wichtige Forderung, die gentechnikfreie Region, die eine Voraussetzung der ökologischen Landwirtschaft ist, stillschweigend beerdigt haben.

Ihre Redezeit ist abgelaufen, Frau Paus!

Ihre Industriepolitik stößt auch ein weiteres Innovationspotenzial der Berliner Wirtschaft ab, nämlich die Frauen. Auch das haben wir am Montag ausführlich diskutiert. Frauen werden durch diese Art von Politik extrem abgeschreckt, und damit vergeben sie auch Chancen. – Herr Senator Wolf! In ehrlichen Momenten haben Sie auch schon mal zugegeben, dass die Gründungsbilanz Berlins, insbesondere was das Thema „Ausgründungen aus Hochschulen“ angeht, miserabel ist. Aber auch hier sind nach wie vor keine Anstrengungen von Ihnen zu erkennen.

Sehr geehrte Frau Paus! Ich habe bereits etwas gesagt. Bitte kommen Sie jetzt zum Ende!

Fazit: Erfolgreiche Wirtschafts- und Standortpolitik sieht anders aus. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen – Beifall von Christoph Meyer (FDP)]

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Thiel das Wort. – Bitte!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Zahlen hört, die uns Senator Wolf vorgetragen hat – er sprach von einer stabilisierenden Tendenz –, dann kann ich nur hoffen, dass sie sich auch bewahrheiten mögen, denn wer hätte etwas dagegen, wenn es mit industriellen Arbeitsplätzen in der Stadt langsam wieder bergauf gehen würde?

Es gibt auch einige Erfolge, die man nicht kleinreden sollte, obwohl sie vom Gesamtpotenzial her immer noch viel zu bescheiden und zu klein sind. Wenn ich als Köpenicker nach Adlershof blicke, dann kann ich nicht umhin zu sagen: Ich habe die Hoffnung, dass es dort zu einer selbsttragenden und sich weiter ausweitenden Standortentwicklung kommt, sodass sich das Land dort weiter herausziehen kann und gute Ansätze gelegt worden sind.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Das ist die Münchhausen-Theorie!]

Nicht unbedingt Münchhausen! – Ich habe Kontakt zu Adlershof und weiß, welche Pläne sie dort hegen. Ich weiß auch, dass sie dort entsprechend tätig sind, um mit eigenen Kräften weiter zu wachsen – was man nur unterstützen kann.

[Beifall bei der FDP]

Dass wir uns da nicht ganz herausziehen können, liegt auf der Hand.

In der letzten Zeit hat mich bei den Reden der meisten Wirtschaftspolitiker erfreut, dass es anscheinend zu einer Rückbesinnung darauf kommt, dass eine Stadt wie Berlin ohne industrielle Arbeitsplätze keine vorstellbare Zukunft hat. Verschiedene Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass es vor einigen Jahren nicht so selbstverständlich war, dass man sagen durfte: Wir brauchen Arbeitsplätze im produktiven Bereich, im produzierenden und industriellen Bereich. – Dann wurde man angeguckt wie ein Faktotum aus dem letzten Jahrhundert nach dem Motto: Du bist nicht mit der Zeit gegangen. – Mittlerweile scheint es aber gar nicht mehr so strittig zu sein. Wir brauchen in Berlin mehr Arbeitsplätze. Mehr Arbeitsplätze bekommen wir vor allen Dingen dadurch, dass wir Wirtschaftswachstum in dieser Stadt ermöglichen und nicht verhindern. Wirtschaftswachstum ist in Berlin noch am ehesten im produzierenden Bereich ausbaufähig. Deswegen gehört es dazu, sich neben der Bestandserhaltung und -erweiterung und den Existenzgründungen um mehr Neuansiedlungen zu bemühen bzw. mehr Neuansiedlungen nach Berlin zu holen.

Was wir nicht brauchen, ist eine klassische Industriepolitik – so, wie sie leider in einigen anderen europäischen Ländern wieder gemacht wird, beispielsweise in Frankreich. Das ist hochgefährlich, denn wir alle, die wir uns damit beschäftigen, wissen: Immer dann, wenn sich die Politik in ein Wirtschaftssegment einmischt, kommt es

zwangsläufig zu Wettbewerbsverzerrungen und Staatsinterventionen. Das wollen Marktwirtschaftler nicht.

[Beifall bei der FDP]

Was wir brauchen, ist eine die Bedingungen für den Wirtschaftsstandort insgesamt fördernde Politik. Ich will drei Schwerpunkte etwas erläutern. Einmal geht es um das bei uns Liberalen sehr beliebte Thema: Die Rahmenbedingungen müssen sich verbessern.

Ein paar Unterpunkte dazu: Die Infrastrukturentwicklung in dieser Stadt muss systematisch, und zwar für die ganze Stadt, betrieben werden. Herr Senator Wolf! Hier habe ich Ihre klare Position gegen den Blödsinn der Umweltzone vermisst. Ich habe Sie mehrfach dazu eingeladen, sich dazu zu positionieren. Hier hätten Sie klar sagen müssen: Dieses Verfahren bringt so, wie es gemacht wird, ökologisch nichts. – Der Kollege Henner Schmidt kann Ihnen das aus ökologischer Sicht besser erklären als ich. Und ökonomisch ist es einfach Blödsinn, was dort gemacht worden ist.

[Beifall bei der FDP]

Was wir auch brauchen – wir haben es bis heute nicht in der Stadt –, ist ein gesamtstädtisches Flächenvorratsmanagement. Die Bezirke entwickeln so, wie sie möchten, bestimmte Sachen nach B-Plänen, dann nehmen sie sie wieder zurück. Der Senat guckt und sagt: Ja, ist gut. – Oder: Ist nicht gut. – Aber es gibt kein in sich abgestimmtes Konzept für ganz Berlin. Auch da liegt eine Aufgabe, die gelöst werden muss.

Ein Thema scheint ein bisschen von der Tagesordnung gerutscht zu sein, obwohl es in den letzten zwei Jahren immer ganz oben stand – Stichwort Verwaltungsreform. Bis heute ist noch immer nicht geklärt, wer letztlich die Entscheidungsgewalt hat. Wir haben zwölf Bezirke, zwölf unterschiedliche Strukturen. Ich weiß, das soll sich im Laufe des Jahres – wie alles – verbessern und ändern. Trotzdem haben wir immer noch Kompetenzgerangel. Bezirke verfolgen eigene Interessen. In der zentralen Ansiedlungspolitik muss mit den Bezirken jeweils einzeln verhandelt werden. Noch schlimmer wird es, wenn jemand über mehrere Bezirke übergreifend unternehmerisch tätig werden will. Dann muss er mit jedem Bezirk einzeln reden. Das gehört abgeschafft. Hier müssen klare Strukturen und klare Kompetenzen her. Wir meinen, man muss die Aufgaben und damit auch die Zuständigkeiten neu verteilen.

[Beifall bei der FDP]

Bildungspolitik – auch dazu ist heute schon gesprochen worden – sollte man nicht nur den Bildungspolitikern überlassen. Hier ist auch die Wirtschaft gefordert.

[Beifall von Wolfgang Brauer (Linksfraktion)]

Danke schön! – Es gibt sehr begrüßenswerte Projekte in der Stadt, wo Wirtschaftsunternehmen eine Kooperation mit Schulen übernommen haben, damit Schülerinnen und Schüler z. B eine Zeitlang ein Praktikum in diesen Unternehmen machen können, um überhaupt einmal das Be

rufs- und Arbeitsleben kennenzulernen. Auch hier wünsche ich mir mehr Engagement vonseiten der Politik, das zu fördern und zu ermöglichen, wie überhaupt eine Vernetzung von Politik und Wirtschaft – nicht nur auf Ihrer Ebene, Herr Senator Wolf, sondern vor allen Dingen auf der Ebene des Regierenden Bürgermeisters – in dieser Stadt zwingend notwendig ist.

Ein letzter Punkt, der ideologisch mit der Mehrheit verhindert wurde: Stichwort PPP-Projekte. – Auch hier ist gerade im Interesse des Wirtschaftsstandorts Berlin dafür zu sorgen, dass modellhaft die Chance eröffnet wird, bestimmte öffentliche Aufgaben mithilfe von privaten Interessenten und privatem Kapital durchzuführen.

[Beifall bei der FDP]