Protocol of the Session on November 9, 2006

Obwohl es also schon diesen Thüringer Gesetzesentwurf gibt, haben Union, SPD und Bündnisgrüne einen weiteren Entwurf im Bundestag eingebracht – für mich unverständlich, denn offenbar war man sich im Bundesrat bereits einig. Dass es einen weiteren Antrag zum selben Sachverhalt gibt, ist nicht ungewöhnlich. Doch es ist verantwortungslos, dass der neue Entwurf die faktische Abschaffung der verdachtsunabhängigen Regelüberprüfung vorsieht. Nur noch Personen in gesellschaftlich oder politisch herausgehobenen Positionen, wie zum Beispiel Regierungsmitglieder oder Berufsrichter, sollen nach dem Gesetzentwurf überprüft werden dürfen, und dieses auch nur noch, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht auf eine Stasi-Tätigkeit vorliegen. Besonders bei herausgehobenen Positionen ist das öffentliche Interesse sehr groß, das ist keine Frage. Das ist aber noch lange kein Grund dafür, die Regelüberprüfung abzuschaffen. Welche Relevanz die Regelüberprüfung bis heute hat, zeigen die Überprüfungszahlen des vergangenen Jahres. 2005 wurden insgesamt 118 210 Personen überprüft. Bei 2,9 % der Fälle wurden belastende Hinweise gefunden. Das sind 3 452 Fälle. Das zeigt doch, dass von verminderter Relevanz hier noch eine ganze Weile keine Rede sein kann. Mittlerweile scheint aber auch den Kolleginnen und Kollegen im Bundestag klarzuwerden, dass das Gesetz in der

vorliegenden Form nicht tragbar ist. Die Tatsache, dass die Abstimmung über den oben genannten Entwurf von der Tagesordnung der morgigen Bundestagssitzung abgesetzt wurde, ist ein positives Signal.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es ist insbesondere zu begrüßen, dass man noch über eine Verlängerung der Frist um weitere fünf Jahre nachdenkt. Aber damit wäre es nicht getan; auch dann wird das Problem wahrscheinlich nicht vom Tisch sein. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dafür sorgen, dass auch in fünf Jahren kein automatischer Schlussstrich gezogen und die Regelüberprüfung klammheimlich abgeschafft wird. Denkbar ist hier ein Verlängerungsautomatismus, wenn nichts anderes beschlossen wird.

[Andreas Gram (CDU): Gut!]

Damit hat man alle Freiheit, je nach Sachlage neu zu entscheiden. Aber im Zweifel muss hier immer gelten: Transparenz vor Täterschutz.

Als Berliner tragen wir eine besondere Verantwortung, denn Berlin war Hauptstadt der DDR und damit Herrschaftszentrum des SED-Unrechtsregimes,

[Christian Gaebler (SPD): Was ist mit der Redezeit?]

und Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.

Herr Kollege! Sie müssen jetzt Ihren letzten Satz finden!

Es geht hier nicht um strafrechtliche Verjährungsfristen oder um das Wissen darum, wer für die Stasi andere Menschen bespitzelt hat und daher für bestimmte Tätigkeiten nicht geeignet ist. Hier geht es um die moralische Verantwortung gegenüber den vielen Stasi-Opfern. Sie verjährt nie. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Vielen Dank! – Das Wort hat jetzt Herr Dr. Felgentreu von der SPD-Fraktion. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein merkwürdiger Antrag, über den wir heute zu beraten und zu beschließen haben. Üblicherweise beschließt das Abgeordnetenhaus Gesetze und Aufforderungen an den Senat. Hin und wieder kommen auch Resolutionen dazu.

Auch der Antrag der FDP, den Thüringer Gesetzentwurf zur Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes zu unterstützen, liest sich zunächst wie eine Resolution. Dabei freut

es uns natürlich, dass die FDP Unterstützung für die Haltung des Senats im Bundesrat zum Ausdruck bringt. Denn der Senat hat dem Thüringer Entwurf in leicht abgewandelter Form bereits zugestimmt.

[Zuruf von Andreas Gram (CDU)]

Allerdings, Herr Gram, könnte der Ansatz der FDP, den Senat durch eigene Anträge für tätiges Handeln zu loben, die Koalition in erheblichen Zugzwang bringen. Wenn wir der FDP folgten, müssten wir in Zukunft wohl ungleich öfter auch selbst entsprechende Anträge einbringen, haben wir doch wesentlich öfter als die Opposition Anlass, das Handeln des Senats zu loben.

[Andreas Gram (CDU): Wird sich zeigen!]

Im letzten Absatz erkennen wir aber, dass es der FDP um mehr geht. Das Abgeordnetenhaus soll die Berliner Bundestagsabgeordneten auffordern, auch im Bundestag der Thüringer Initiative zu folgen. Damit allerdings haben wir aus sachlichen und formalen Gründen unsere Probleme. Zunächst einmal steht es uns gar nicht zu, auf die Entscheidungsfindung eines anderen Parlaments direkt Einfluss zu nehmen. Nicht wir haben diese Bundestagsabgeordneten delegiert, sondern das Volk von Berlin. Und wir haben nicht die Aufgabe, das Handeln der Bundestagsabgeordneten zu kontrollieren, sondern das des Senats. Nachdem nun aber CDU, SPD und Grüne im Bundestag längst einen Alternativantrag zu dem Gesetzentwurf des Bundesrats eingebracht haben, und nachdem Berlin in dieser Auseinandersetzung ganz klar die Position des Bundesrats unterstützt, bewegt sich ein zusätzlicher Appell des Abgeordnetenhauses an die Berliner Bundestagsabgeordneten in einer Grauzone zwischen Taktlosigkeit und Lächerlichkeit. Wir sollten davon die Finger lassen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Zuruf von Christoph Meyer (FDP)]

Gestatten Sie mir dennoch ein Wort zur Sache: In seiner geltenden Fassung sieht das Gesetz vor, dass mit Ablauf dieses Jahres die Akten der Birthler-Behörde nicht mehr zur Überprüfung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst herangezogen werden dürfen. Der Bundesrat will deshalb die bisherige Regelanfrage entfristen, damit kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung von DDR-Unrecht gezogen wird. Die Bundestagsmehrheit will diese Entfristung im Wesentlichen auf Personen beschränken, die öffentliche Ämter bekleiden. Sie argumentiert mit der rechtsstaatlichen Logik der Verjährung. Beide Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung. Der Senat hat sich aber ganz klar aufseiten des Bundesrats positioniert. Und die SPD-Fraktion begrüßt und unterstützt diese Entscheidung.

Das heißt aber noch lange nicht, dass wir auch dem Antrag der FDP zustimmen werden. Dieser Antrag ist nicht nur überflüssig, sondern auch in einer Weise manipulativ, die nur mit Ablehnung beantwortet werden kann. – Lieber Kollege Lindner! Nach fünf Jahren Erfahrung mit RotRot dachte ich, auch die FDP hätte verstanden, dass StasiThemen nicht geeignet sind, diese Koalition auseinanderzudividieren. Niemand kann und will der Linksfraktion

die oftmals schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheit ersparen. Auch in der öffentlichen Debatte über die DDR-Diktatur darf es keinen Schlussstrich geben. Aber zu keinem Zeitpunkt hat der Koalitionspartner der SPD eine Entsolidarisierung mit den Opfern des DDR-Unrechts oder gar eine Begünstigung der Täter abverlangt, im Gegenteil. Der Antrag der FDP ist deshalb vollkommen ungeeignet, die SPD in Verlegenheit zu bringen. Wenn wir ihn heute ablehnen, dann deswegen, weil wir nicht damit anfangen werden, Selbstverständlichkeiten immer wieder zu bekräftigen.

Die SPD wird auch in Zukunft für die Aufarbeitung und Verfolgung des Unrechts der DDR-Staatssicherheit eintreten. Sie wird auch in Zukunft die Politik dieses Regierenden Bürgermeisters unterstützen. Auf neunmalkluge Oppositionsanträge verzichten wir dabei dankend.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank! – Das Wort für die CDU-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Gram.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Der Antrag der FDP-Fraktion findet unsere uneingeschränkte Unterstützung.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Uwe Doering (Linksfraktion): Oh!]

Lassen Sie mich kurz darlegen, warum es in dieser Frage für uns keine Alternative geben kann. Es geht hier vereinfacht gesagt darum, ob es im Jahr 2006 – also 16 Jahre nach Ende der DDR – an der Zeit ist, unter die Aufklärung einer Mitarbeit bei der Staatssicherheit bis auf Ausnahmen einen Schlussstrich zu ziehen, oder ob weiterhin dem Anspruch der Menschen auf vollständige Information Rechnung getragen werden muss. Sicherlich ist der Zeitraum von 16 Jahren eine lange Zeit. In solchen Zeiten ändern sich Menschen und auch Meinungen. Prof. Richard Schröder hat dies in einem lesenswerten „Tagesspiegel“-Artikel in den vergangenen Tagen beschrieben. Richtig ist, dass das Gemeinwesen mit den Tätern der DDR-Diktatur, seien sie hauptamtlich oder inoffiziell, anders umgehen muss, als diese selbst agierten, nämlich rechtsstaatlich. Zum Rechtsstaat, lieber Kollege Dr. Felgentreu, gehört nun einmal das Verzeihen und die Verjährung. Das steht außer Frage. Das war wahrscheinlich auch die Auffassung, die die Fraktionen – darunter auch die CDU – bewogen haben, den Gesetzentwurf im Bundestag einzubringen. Ich bin froh, dass wir heute dazu beitragen können, hier einen Prozess des Überdenkens zu begleiten. Die Frage, die sich im Kern stellt, ist: Wann ist die Zeit reif für einen Schlussstrich? Hier können wir uns Schröders Auffassung nicht anschließen. Noch ist dieser Zeitpunkt nicht gekommen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Immer noch gibt es spektakuläre Enthüllungen der Tätigkeit für die Stasi. Jüngstes Beispiel ist hierfür der ehemalige Leiter des Hotels Adlon. An der Reaktion der Öffentlichkeit konnten wir erkennen, dass es hier auch nach 16 Jahren noch keine Abgeklärtheit gibt. Aufgrund der Dimension der vom MfS begangenen Verbrechen verwundert dies nicht. Natürlich – das sage ich ausdrücklich – sind es vorwiegend die Opfer, die immer noch Aufklärung und Transparenz einfordern. Aber es sind eben nicht nur die Opfer, für die eine Aufklärung von großer Bedeutung ist. Es sind weite Teile der Bevölkerung, für die nach wie vor von großem Belang ist, dass eine verlässliche und authentische Aufarbeitung dessen stattfindet, was damals war und heute noch ist.

Hier neigt sich für mich die Abwägung klar zugunsten der Betroffenen und der Öffentlichkeit statt zugunsten der Täter von damals und heute, welcher Kategorie auch immer man sie zuordnen mag. Es ist leider mitnichten so, dass sich das Thema Staatssicherheit erledigt hat, gerade nicht in Berlin. Denken wir an die Ereignisse in Hohenschönhausen, wo Veranstaltungen und Führungen gezielt von MfS-Kadern gestört wurden und dies vor Ort von anwesenden Mitgliedern der Linksfraktion widerspruchslos hingenommen wurde. Wir haben uns im Verfassungsschutzausschuss in öffentlicher Sitzung mit der Frage beschäftigt, ob diese fortwährenden Strukturen von staatlicher Seite beobachtet werden sollen. Die endgültige Entscheidung hierüber steht noch aus.

[Stefan Liebich (Linksfraktion): Was hat das mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zu tun?]

Die ehemaligen Stasi-Spitzel sind heute nicht minder aktiv. Sie sind vernetzt, betreiben verschiedene Organisationen. Die bekannteste ist wohl die GRH. Sie agieren auch – und das darf nicht vergessen werden – politisch. So werden Schulen angeschrieben und Initiativen gestartet, die das Ziel verfolgen, die Verbrechen der DDR-Diktatur zu verharmlosen. Senator Körting und die Regierungsfraktionen halten dies für harmlose Geschichtsklitterung alter Männer. Die CDU-Fraktion sieht hiergegen klare verfassungsfeindliche Tendenzen. Wie auch immer: Virulent ist das Problem in jedem Fall.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Wir wollen nicht, dass über Derartiges in Zukunft nur noch eingeschränkt berichtet werden darf. Es muss auch künftig möglich bleiben, Ross und Reiter zu nennen und seine Argumente ohne Restriktionen vorzutragen. Ich kann nicht ausschließen, dass die CDU-Fraktion diese Frage in einigen Jahren anders bewertet. Heute jedenfalls sollten wir alles unternehmen – und, lieber Kollege Dr. Felgentreu, da werden Sie mit mir konform gehen, wenn ich Ihre Worte vorhin richtig verstanden habe –, um die Möglichkeit einer Aufklärung der Mitarbeit bei der Stasi öffentlich zu machen.

[Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Was hat das alles mit dem FDP-Antrag zu tun?]

Jeder mag, wenn solche Tatsachen an die Öffentlichkeit geraten, seine Schlussfolgerungen selbst ziehen. Die In

formationen jedoch müssen abfragbar bleiben. Deshalb werben wir für die Unterstützung des Anliegens des Ministerpräsidenten Althaus in Thüringen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Vielen Dank, Herr Kollege Gram! – Das Wort hat jetzt Herr Liebich von der Linksfraktion.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Gram! Sie haben jetzt versucht, hier einen Pappkameraden aufzubauen, der mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Debatte dazu überhaupt nichts zu tun hat.

[Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Wir diskutieren im Moment eine ganz andere Frage. Herr Felgentreu hat es gesagt. Die FDP hat dazu ein einigermaßen ungewöhnliches Verfahren gewählt, nämlich das Abstimmungsverhalten des Landes Berlin im Bundesrat zu begrüßen. Wenn das zur Regel werden sollte, freue ich mich schon auf den entsprechenden Antrag, wenn wir dann eine Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns auf Bundesebene fordern oder Vermögensteuern erheben wollen.

[Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Abgesehen vom eigenartigen Verfahren: Die FDP will, dass das Abgeordnetenhaus in der derzeit auf Bundesebene kontrovers und heftig geführten Debatte zum StasiUnterlagengesetz Stellung bezieht, und das per Sofortabstimmung. Sie gehen sogar so weit – Herr Felgentreu hat darauf hingewiesen –, und das interessanterweise nur in der Begründung Ihres Antrags, den Berliner Abgeordneten im Bundestag zu empfehlen, den Antrag von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Der Hinweis sei mir gestattet, liebe Kollegen von der FDP, dass sich die Abgeordneten des Bundestags in erster Linie in politischen Fraktionen zusammenfinden und deshalb der Appell an die Berliner Abgeordneten einigermaßen weltfremd ist.

Liebe Kollegen! Ich finde, dass Sie es sich zu einfach machen. Der Blick in die bundesweite Mediendebatte zeigt, dass es sehr schwer ist, hier schwarz und weiß scharf voneinander zu trennen. Um die „Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat gegen Diktatur, Unterdrückung und Bespitzelung“, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren, um sie geht es in der gegenwärtigen Debatte nicht. Ich zitiere Thomas Rogalla aus der „Berliner Zeitung“:

Es ist seit 15 Jahren bekannt, dass das StasiUnterlagengesetz für die Überprüfung das Verfallsdatum 2007 enthält. Dafür gab es von Anfang an gute Gründe: Das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit, den politischen Willen der DDRBürger, die Stasi-Mitarbeiter einmal der Überprüfung aussetzen zu lassen, aber nicht jedem IM le

benslang seine Verfehlung vom Rechtsweg her vorzuhalten. Ein Ende der Überprüfung würde auch keinen Schlussstrich bedeuten, denn eine Regelanfrage gab es nie. Laut Stasi-Unterlagengesetz dürfen die MfS-Akten zur Überprüfung genutzt werden, was Behörden, Parlamente oder etwa der Sport stets unterschiedlich genutzt haben, manche gar nicht.

Um einen anderen Kommentator zu zitieren, Wolfgang Gast von der „taz“: