Protocol of the Session on June 8, 2006

Wir wissen, dass es schlecht um den Bildungsstandort Berlin steht. Wir wissen, dass das Potential der Schüler nicht ausgeschöpft wird. Wir wissen auch, dass die Schulen die Kinder nicht optimal fördern. Die Gewalt an Schulen hat zugenommen. Es gibt zu wenig Ganztagstagsschulen. Die Nachmittage werden deshalb von den Schülern nicht sinnvoll ausgenutzt. Da brauchen wir mehr. Wir wissen auch, dass ein Großteil der Schüler bei der Einschulung nur unzureichend Deutsch spricht. Wir wissen um die desolate Situation in vielen Elternhäusern. Und Sie wissen das alle auch ganz genau. Obwohl Sie dieses wissen und obwohl Sie seit fünf Jahren in dieser Verantwortung stehen, lieber Herr Senator, hat sich an dieser Situation wenig bis gar nichts geändert.

Sie haben die Vorklassen gemeinsam mit den Kollegen von den Grünen abgeschafft. Im Hinblick auf die flexible Schulanfangsphase, die im Prinzip richtig ist – das sage ich ausdrücklich –, ist diese Entscheidung eine katastrophale Entscheidung. Wissen Sie eigentlich, wie viele Schulanfänger in diesem Jahr die Schule mit unzureichenden Deutschkenntnissen beginnen? Das sind 25 %, ein Viertel, etwa 6 000 Schüler, die in diesem Jahr mit schlechten und unzureichenden Deutschkenntnissen eingeschult werden.

Frau Kollegin! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mutlu?

Nein! Das gestatte ich jetzt nicht. Ich habe nur noch drei Minuten Zeit. Hinterher vielleicht! – Das sind 240 Schulklassen mit 25 Kindern. Herr Senator, Sie schieben Reformen an, ohne die richtigen Rahmenbedingungen zu definieren. Ich sage Ihnen hier voraus, dass die flexible Schulanfangsphase ein Flop wird. Es stimmt hinten und vorn nicht.

[Beifall bei der FDP]

Jetzt reden Sie – das ärgert mich wirklich – davon, mit der Einheitsschule gäbe es mehr Chancengerechtigkeit. Durch den Wegfall der Vorklassen haben unsere Kinder in Berlin seit zwei Jahren schlechtere Startchancen. Dafür haben

Sie, die Herren und Damen vor mir, gesorgt. Diese Verantwortung tragen Sie.

Die FDP setzt auf Leistung. Wir wollen alle Schüler im Rahmen ihrer Möglichkeit fördern. Junge Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen müssen auch individuell gefördert werden, damit sie ihr Leben in Eigenverantwortung meistern können.

[Liebich (Linkspartei.PDS): Ich habe nicht gesagt, dass es den Einheitsschüler gibt!]

Lesen Sie es nach! Den gibt es nicht.

[Beifall bei der FDP]

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Frau Kollegin Senftleben! – Das Wort hat Herr Liebich!

Es war so kurz vor Ende, dass ich mich jetzt mit meiner Intervention beeilen musste. Das möchte ich aber doch nicht im Raum stehen lassen. Es würde zwar Ihrem Bild entsprechen, die PDS nähme an, dass es den Einheitsschüler gäbe. Deshalb zitiere ich noch einmal, was ich vorhin gesagt habe, damit es auch die FDP zumindest richtig kritisieren kann: Ich frage mich manchmal, wer in diesem Land eigentlich die Einheitsschule will. Sind wir es, die wir sagen, jedes Kind ist etwas Besonderes, es hat unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, und egal, ob seine Eltern bildungsfern oder bildungsnah, ob sie reich oder arm sind, wir wollen eine integrative Schule, die diesen verschiedenen Kindern gerecht wird und jeden individuell fördert. Oder ist die

Ich gestehe allerdings ein, dass ich beim geduldigen Anhören der Debatte an der einen oder anderen Stelle immer das Gefühl bekomme, dass bei jeder Bildungsfragen nahezu jeder und jede Experte oder Expertin ist und dass das Gefühl sehr häufig die Rationalität übersteigt. Man will immer das Gute, ohne genau zu erkennen, ob das überhaupt noch eine logische Struktur hat.

Ich bin zum Glück nicht verantwortlich für die Formulierung von Aktuellen Stunden. Das Haus hat sich entschieden für das Thema „Bildung braucht Verantwortung! – Senat lässt Schulen aus dem Ruder laufen“. Auch die Kollegin Senftleben, ich bin da ganz nahe bei ihr – Entschuldigen Sie bitte! Ich wollte Ihnen nicht schaden. –, kommt gleich am Anfang mit der Eigenverantwortung. „Ruder laufen“ bedeutet anlegen, Scharniere anlegen, den Takt angeben. Dieses Bild ausgesprochen bei den Freunden von Bündnis 90 zu finden – das verblüfft mich.

Erstens: Wer glaubt, Veränderungen, Reformen in der Bildungspolitik könnten binnen einer Legislaturperiode beendet und entsprechende Ergebnisse ablesbar sein, spricht die Unwahrheit oder hat gar keine Ahnung. Bildungspolitische Reformen brauchen Klarheit, Konstanz und Zeit, um wirken zu können. Ich bestreite gar nicht – ich komme gleich darauf zu sprechen –, dass es Probleme gibt. Aber ich unterstreiche ganz entschieden, dass diese Koalition in dieser Legislaturperiode in ganz entscheidenden Punkten fundamentale Reformen in Berlin angestoßen und umgesetzt hat.

Einheitsschule nicht eher das, was die Vertreter der CDU und der FDP verlangen, dass die Kinder noch vor Schulbeginn passgerecht gemacht und dann möglichst schnell in Schubladen gesteckt werden? Keine Einheitsschule, sondern eine Schule für alle, in der der Einzelne zählt, das ist unser Vorschlag.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]

Danke schön, Kollege Liebich! – Frau Senftleben wird darauf antworten wollen, tut es und hat das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Darauf muss ich antworten, wenn gesagt wird, wir wollen die Kinder vor Schulbeginn passgerecht machen. – Herr Liebich! Sie können auch meine Rede noch einmal nachlesen. In einem Punkt sind wir uns einig: Jeder Schüler muss nach seinen Begabungen und Fähigkeiten gefördert werden. D’accord? Genau das haben Sie eben gesagt. Und das habe ich in meiner Rede vorhin ebenfalls mehrfach betont. Das muss auch so sein.

[Frau Dr. Tesch (SPD): Das wollen wir doch alle!]

Das schaffen wir im Augenblick nicht, weil unser Bildungssystem an vielen Dingen krankt. Sie schlagen einen anderen Weg ein als wir. Sie sagen: Alle in eine Schule. Wir setzen auf Eigenverantwortung. Wir sagen ganz klar: Die Schulen sollen den Weg finden, wie die Ziele, die vom Land, vom Staat definiert werden, zu erreichen sind. Das ist der eklatante Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir setzen auf Eigenverantwortung und nicht auf die Allmacht des Staates, nicht darauf, dass wir es in dieser Stadt für alle besser wissen. Nein, die Schulen sollen es vor Ort selbst entscheiden! – Sie bzw. Ihre Fraktion scheuen sich bisher in jeglicher Form, den Schulen nur in geringer Weise mehr Freiheit zu geben.

[Liebich (Linkspartei.PDS): Das Schulgesetz ist ein Ausweis dafür!]

Die Anträge zur Eigenverantwortung haben entweder wir gestellt oder teilweise auch die Grünen. Gucken Sie nach! Wenn es darum geht, Vertretungsunterricht zu budgetieren oder den Schulen ein Budget zu gestatten, sind Sie es, die Angst davor haben. Ihre Fraktion sagt: Wollen wir nicht, haben wir noch nie gehabt, werden wir auch nicht hinkriegen. Ich bitte Sie, fair im Umgang zu sein. Wir wollen keine passgerechten Kinder vorher schon in irgendwelche Schachteln packen und sie hinterher marschieren lassen.

[Beifall bei der FDP]

Danke, Frau Kollegin Senftleben! – Nun erhält der Senat das Wort. – Herr Senator Böger! – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Abgeordnetenhaus debattiert zum wiederholten Mal über Bildungspolitik im Land Berlin. Das ist vom Grundsatz her sehr gut, weil Bildung das zentrale Feld ist, an dem sich nach meiner festen Überzeugung die Zukunft Deutschlands ent

scheidet. Dann ist es sehr gut, dass ein Parlament über diese Frage diskutiert.

[Ratzmann (Grüne): Ich erklär’ Ihnen das mal!]

Aber sei es drum! Sie haben gesprochen und eine Bilanz gezogen. Das steht jedem zu. Gestatten Sie jetzt mir, dass ich in dem einen oder anderen Punkt die Bilanz der knapp fünfjährigen Legislaturperiode in den Fragen von Bildung darstelle.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Wer beständig anderes erzählt, lügt sich in die Tasche.

Der Punkt, den diese Koalition fundamental geändert hat, ist das Begreifen und die Konzeption, dass der Kindergarten die erste – und ich sage, fast die wichtigste – Bildungseinrichtung in diesem Lande ist.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS – Dr. Lindner (FDP): Die ist schön teuer geworden!]

Dann hat diese Koalition – weil alles auch Geld kostet – entschieden, dass ab 1. Januar 2007 das letzte Kitajahr – von viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren – für alle Kinder nicht nur für fünf Stunden, sondern, wenn es den Bedarf gibt, auch für sieben Stunden am Tag absolut kostenfrei ist. Das ist auch eine richtige und Weg weisende Maßnahme.

(C

Da ich sehr häufig in den Schulen bin, weiß ich selbstverständlich: Eine Reform anzulegen heißt noch nicht, dass sie wirkt, und es heißt auch nicht, Schwierigkeiten zu

bestreiten. Meint denn irgendeiner im Hause, ich gäbe nicht lieber noch mehr Ressourcen in die Schulen oder hätte nicht gern in den Schulanfangsphasen eine Doppelsteckung? – Ja, das muss mir niemand als Wunsch vortragen. Der Unterschied zu verantwortungsvoller Politik ist, dass wir nicht nur Wünsche haben, sondern Dinge realisieren müssen in einem Land, das Haushaltsnotlageland ist. Deswegen finde ich diese Schritte richtig und gut. Es ist auch richtig – und ich danke der Koalition und dem Parlament dafür –, zu finanzieren, dass in den Grundschulen, in denen Kinder aus sozial belasteten Quartieren bzw. mehr als 40 % nichtdeutscher Herkunftssprache sind, die Einrichtungsfrequenz in den Klassen 1 und 2 bei 20 Kindern liegt.

Von der CDU ist hier noch ein Beispiel gebracht und gesagt worden, der mittlere Schulabschluss sei den Bach hinuntergegangen. Wer ist schuld? – Na klar, das ist doch einfach: Der Böger ist schuld. Es ist doch wurst, was passiert, ob Toilettenpapier fehlt, in Mathematik nichts gewusst wird, schuld ist immer einer: Klaus Böger.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS – Frau Dr. Klotz (Grüne): Nachdem Sie vorher die Kosten erhöht haben!]

Wir waren die ersten – und ich habe es verantwortet –, die gefragt haben, wie der Sprachstand ist. Nachdem 20 Jahre lang ein Tuch des Schweigens darüber gelegen hat, geben Sie denjenigen die Schuld, die nach dem Sprachstand fragen, und halten ihnen vor, nach drei Jahren sei das noch nicht verbessert. So illusionär bin ich nicht. Diese Koalition hat bestimmte Dinge auf den Punkt gebracht und nachgefragt, was ist. Und das war gut und richtig so.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Wenn jetzt immer geklagt wird: und die Vorklasse, und die Vorklasse! – dann ärgert mich das, weil das unter Ihren wirklichen Fähigkeiten liegt. Wir haben mit „Bärenstark“ und „Deutsch plus“ exakte Daten darüber erhoben, was das eine Jahr Vorklasse – drei oder vier Stunden, das war alles – und was der Kindergarten bewirkt haben. Wir konnten dabei feststellen, dass es keine klare Zuweisung gibt, dass die Vorklasse Wunder bewirkt hat. Im Gegenteil – weil sie viel zu kurzfristig und nur für ein Jahr angelegt ist, hat sie bei den Kindern, bei denen Verbesserungen zu erwarten gewesen wären, keine Verbesserungen gebracht.

Ich bestreite gar nicht, dass das letzte kostenfreie Kitajahr zu wenig ist, wenn das der einzige Schritt der vorschulischen Bildung ist. Wir brauchen die Bereitschaft der Eltern, das Bildungsangebot zu realisieren. Die Kinder sollen möglichst frühzeitig, das heißt, ab drei Jahre, die Kita besuchen.

[Dr. Lindner (FDP): Schön teuer!]

Ich habe großen Respekt vor den Tausenden von Erzieherinnen und Erziehern, die sich unter nicht ganz leichten Rahmenbedingungen auf den Weg gemacht haben, ihre Arbeit zu verbessern. Ich war heute Morgen mit einigen Journalistinnen und Journalisten in einer Kita und habe gesehen, wie Sprachförderung betrieben wird. Respekt! Ich bin ganz sicher, dass wir auf einem guten Weg sind, unseren Kindern eine bessere Sprachfähigkeit – und zwar, Frau Senftleben, in der deutschen Sprache – zu geben. Auch diese Koalition – vielleicht ist das der Punkt, von dem Herr Liebich meinte, er hätte davon nie zu träumen gewagt – hat die Grundentscheidung gefällt, dass Deutsch Lernen nicht eine Zumutung, sondern der entscheidende Korridor ist, um im Bildungssystem Erfolg zu haben.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS – Zuruf der Frau Abg. Senftleben (FDP)]