Protocol of the Session on June 2, 2005

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 69. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter ganz herzlich.

Bevor wir zum Geschäftlichen und zur laufenden Tagesordnung kommen, habe ich noch eine Angelegenheit aus der 68. Sitzung abzuarbeiten. Der Kollege Dr. Lindner hat im Plenum in Form eines Zurufes zu einem Redner gesagt: „Eine alte kommunistische Dreckschleuder sind Sie!“ Herr Kollege Lindner! Diese Äußerung ist unparlamentarisch, sie erfüllt außerdem einen Straftatbestand. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]

Aus gegebenem Anlass mache ich darauf aufmerksam, dass bei besonders schweren Verstößen gegen die Ordnung, und um einen solchen handelt es sich dabei offensichtlich, auch auf Ausschluss von der Sitzung erkannt werden kann.

[Pewestorff (PDS): Das würde dem Parlament nur gut tun! – Zuruf der Frau Abg. Dr. Klotz (Grüne)]

Ich rufe jetzt das Geschäftliche auf. Die Fraktion der CDU erklärt folgende Anträge für erledigt:

Stand der Umsetzung der Grundstückskauffälle im Ostteil der Stadt und in West-Staaken nach dem Verkaufsgesetz vom März 1990, Drucksache 15/1326,

Ablehnung einer Maut für die Nutzung von Wasserstraßen, Drucksache 15/2772.

Am Montag sind vier Anträge auf Durchführung einer

Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der PDS zum Thema: „Mehr Demokratie in den Bezirken – Bürgerbeteiligung stärken“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Die BVG vor dem Streik – kein Plan, keine Wettbewerbsfähigkeit, keine Zukunft für Berlin größtes Nahverkehrsunternehmen?“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „BVG, Charité, BSR, Wasserbetriebe – Rot-Rot taucht ab und überlässt landeseigene Unternehmen sich selbst!“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Steuervereinfachung und Steuersenkung für Wachstum und Arbeitsplätze statt rot-roter Steuererhöhungsorgie mit 4 % mehr Mehrwertsteuer!“.

Im Ältestenrat konnte eine Verständigung auf ein gemeinsames Thema nicht erreicht werden. Ich rufe deshalb zur Begründung der Aktualität auf. Wer hat für die Fraktion der SPD oder der PDS das Wort?

[Doering (PDS): Herr Zimmermann!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen der SPD, der PDS, der Grünen und der FDP haben vor einiger Zeit einen Antrag eingebracht, mit dem wir gemeinsam die Verfassung und das Gesetz ändern wollen, um in den Bezirken eine stärkere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Das ist seit langem unser erklärtes Ziel. Es ist uns nun gelungen, zwischen diesen vier Fraktionen in den wesentlichen Punkten eine Einigung herzustellen.

Wir sollten nicht die Schlussberatung der Ausschüsse abwarten, weil die aktuelle Debatte auch in anderen Feldern, auf anderen Ebenen der Gebietskörperschaften eine große Rolle gespielt hat. Ich nenne nur das Stichwort EUVerfassung. Das ist innerhalb der Europäischen Union ein großes Thema. Wenn wir die Erhöhung der Teilhaberechte, die Stärkung der politischen Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger im Parlament beraten, dann ist es richtig, dass das Abgeordnetenhaus das jetzt und aktuell und an prominenter Stelle debattiert. – Danke schön!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Für die Fraktion der CDU begründet der Kollege Kaczmarek. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir schlagen Ihnen heute als Thema für die Aktuelle Stunde den bevorstehenden Streik der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BVG vor.

Berlin droht seit langer Zeit wieder ein Verkehrsstreik. Nicht der Streik an sich ist das Einmalige, sondern die Forderungen und die Streikziele der BVGer. Ein Streik nicht etwa für Lohnerhöhungen, kürzere Arbeitszeiten und verbesserte Pausenregelungen, nein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BVG wollen für einen Tarifvertrag streiken, der ihnen bis zu 8 % Lohneinbußen zumutet. Dabei handelt es sich nicht um besser verdienende Bankmanager oder Vorstandsmitglieder, die ein Minus von 8 % vielleicht leicht wegstecken könnten, sondern um Busfahrer, U-Bahnfahrer und Stellwerker, die nicht zu den Großverdienern der Stadt zählen. Das ist bemerkenswert und zeigt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BVG die Zeichen der Zeit sehr wohl erkannt haben. Sie sind bereit, schmerzhafte persönliche Opfer zu erbringen, um ihr und unser Unternehmen BVG zu retten, um

Die Sanierung der BVG erfordert einen möglichst breiten Konsens unter Einbeziehung von Geschäftsführung, Aufsichtsrat, Politik und Personalvertretung. Dass die Verhandlungen über diesen dringend nötigen Tarifvertrag schon seit langem stocken, nun wiederum festgefahren sind, ist ein Zeichen für die Sprachlosigkeit zwischen Senat, BVG-Spitze und Arbeitnehmern. Diese lange Zeit des Stillstands hat Land und BVG bares Geld gekostet. Der Senat sah tatenlos zu. Der Zielpunkt „schwarze Null“, aber ohne Entschuldung bis 2008 ist so nicht mehr zu erreichen. Den Vorschlag eines runden Tisches, den die

CDU-Fraktion ins Parlament eingebracht hat, hat die Mehrheit dieses Hauses brüsk angelehnt.

Dazu kommt, dass der Senat als Eigentümer offenkundig keine Idee hat, wie es mit der BVG weitergehen soll. Was die Stadt vom Senat erwartet, ist eine detaillierte und ernsthafte Prüfung aller Handlungsalternativen. Was wären die Folgen der Trennung von Infrastruktur und Betrieb? Wie kann die Umgestaltung der Anstalt öffentlichen Rechts etwa in eine Aktiengesellschaft vollzogen werden? Wäre es sinnvoll, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BVG in den unmittelbaren Landesdienst zu übernehmen? – Nichts davon ist ernsthaft geprüft worden. Was die BVG-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter jetzt brauchen, ist vor allem Vertrauen – Vertrauen in die Berechenbarkeit von Politik und Vorstand, Vertrauen in die Seriosität von Zusagen des Eigentümers und der Geschäftsleitung. Nur dann werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit sein, weitere Opfer auf sich zu nehmen.

Die CDU-Fraktion will keine Zerschlagung oder Auflösung der BVG. Wir wollen auch keinen Megamonopolisten aus Bahn und BVG. Wir wollen einen leistungsfähigen Verkehrsbetrieb, der vergleichbare Strukturen und Kosten wie private Unternehmen hat. Wir wollen eine BVG, die von politischen Lasten und Sonderregelungen des öffentlichen Dienstes befreit ist. Wir wollen eine BVG, die langfristig für private Beteiligungen attraktiv ist und die sich im Wettbewerb behaupten kann. Über den richtigen Weg dorthin wollen wir heute mit Ihnen diskutieren. – Vielen Dank!

ihre Arbeitsplätze zu retten. Das verdient unsere Anerkennung.

[Beifall bei der CDU]

Wenn schon die Arbeitnehmer und Gewerkschaften erhebliche Einschnitte in die Besitzstände zugestehen, dann, so könnte man meinen, könnte eine Einigung nicht weit entfernt sein. Auch der Arbeitgeberverband hat seinen Segen gegeben. Alles könnte so einfach sein, gäbe es nicht im Senat einen Mann, der wieder eine neue Folge der wohl nur bei ihm beliebten Serie „Thilo gegen den Rest der Welt“ aufführen will. Und so blockiert er die Einigung, droht mit dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband und legt sich mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen an. Der Arbeitgeberverband kritisiert Sarrazin für seine – ich zitiere hier – „nutzlose Eskalation“.

Aber diese Eskalation ist Teil einer SPD-Linie. Als Erstes mussten wir konstatieren, dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die BVG dem Staatsbahnen-Miniaturdiktator Mehdorn zum Fraß vorwerfen wollte. Dieser Versuch ist Gott sei Dank gescheitert. Dann redete der Finanzsenator und Aufsichtsratsvorsitzende Sarrazin sorglos vom „Ein-Euro-Geschäft“, das er gern mit irgendjemandem machen wolle, um die BVG loszuwerden, und sagte, dass er auch gern dazu bereit wäre, noch einige Millionen dazu zu geben, nur um sie loszuwerden. Die Verhandlungen über den Spartentarifvertrag schleppen sich schon weit über ein Jahr hin. Da ist es doch kein Wunder, dass sich der Widerstand der BVG-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter verhärtet und dass die Überzeugung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um sich greift: Das hat ohnehin alles keinen Sinn, am Ende werden wir sowieso abgewickelt. – Die BVG braucht kein sinnloses Aufmuskeln, keine Verbalkraftmeierei – übrigens von keiner Seite –, sondern die BVG-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter brauchen Respekt vor der Leistung des Einzelnen, Anerkennung der Bemühungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Konzentration aller Kräfte und eine Lösung mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und nicht frontal gegen sie. Die Erfahrung – auch die jüngste – zeigt: Die BVG-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bereit, Opfer zu bringen, wenn sie sich auf das gegebene Wort verlassen können. Das konnten sie bei früheren Senaten und bei dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Bei Klaus Wowereit können sie es leider nicht.

[Dr. Lindner (FDP): Ihr habt es denen hinten und vorne reingeschoben!]

[Pewestorff (PDS): Zur Aktualität!]

[Beifall bei der CDU]

Danke schön, Herr Kollege Kaczmarek! – Für die Fraktion der Grünen hat der Kollege Eßer das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zimmermann! Mehr direkte Demokratie ist ein starkes Anliegen der Grünen und auch mir selbst ein Herzensanliegen. Wenn hier endlich etwas vorankommt, dann kann ich das nur begrüßen.

[Hoff (PDS): Aber... !]

Aber, Herr Hoff, wenn ich in die Zeitung schaue und sehe, wie sich die Konflikte in der Stadt, insbesondere die Konflikte des Senats mit den Belegschaften unserer Landesunternehmen von der Charité bis zur BVG zuspitzen, dann komme ich doch zu dem Resultat: Die Regierungsfraktionen sollten sich bei der Wahl ihrer Themen für die Aktuelle Stunde nicht in zeitlose Schönheit flüchten, sondern sich der aktuellen Auseinandersetzung stellen, auch wenn das vielleicht unangenehm für sie wird.

[Beifall bei den Grünen]

Deshalb schlägt Ihnen die Fraktion der Grünen eindringlich vor, sich nicht vor unserem Vorschlag zu drücken und heute über das Thema „BVG, Charité, BSR, Wasserbetriebe – Rot-Rot taucht ab und überlässt landeseigene Unternehmen sich selbst!“ zu diskutieren.

Nur der Senat und das Parlament haben die Möglichkeit und die Befugnisse, die Neuordnung der gesamten Krankenhauslandschaft mit einer abgestimmten und kooperativen Konzeption von Vivantes und Charité zu entwickeln und umzusetzen. Wenn die Unternehmensleitungen nicht darüber hinauskommen, Herr Wechselberg, Absichtserklärungen abzugeben, dann liegt es doch an uns, in Eigentümerverantwortung Ergebnisse herbeizuführen. Nur der

Senat und dieses Parlament können eine Neuordnung des öffentlichen Nahverkehrs so vornehmen, dass das Unternehmen BVG auch im europäischen Wettbewerb Bestand hat. Da müssen Eigentümerverantwortung, Exekutivtätigkeit des Senats, aber auch Gesetzesänderungen, die wir hier im Parlament machen müssen, Hand in Hand gehen und ineinander greifen. Erst in diesem Gesamtzusammenhang kann überhaupt eine Zukunftsperspektive deutlich werden, für die zu kämpfen und auch Opfer zu bringen sich lohnt und die zu erreichen vielleicht auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Stolz erfüllen könnte. Wir brauchen diesen von Ihnen immer angemahnten Mentalitätswechsel, dass an die Stelle der Identifikation mit der Vergangenheit und der Angst vor jeder Veränderung der Gedanke tritt, dass ich mich mit der Zukunft dieses Unternehmens identifiziere und dem Weg, den es dann geht. Dazu gehört – da gebe ich Ihnen Recht, Herr Kaczmarek – eine Perspektive für die Zukunft und eine Sicherheit für die Zukunft, die dazu führen, dass man sich darauf verlassen kann und dann diesen Wechsel in der Haltung und in den Köpfen der Menschen zu Stande bringt.

Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir sind für alles Mögliche oft gescholten worden. Die Konzeptionen von SPD und PDS erführen wir gerne. Es ist fünf vor zwölf, wie Sie sicherlich alle merken.

[Klemm (PDS): Sie wollen nur alles verkaufen!]

Entlassungen von 1 500 Menschen stehen bei der Charité im Raum. Bei der BVG werden Lohnkürzungen bis zu 30 % für notwendig gehalten. Gegen die hohen Wasserpreise protestieren immer mehr Menschen in der Stadt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich viele unserer Landesunternehmen in einer Existenzkrise befinden und bei den Personalkosten Einschnitte erforderlich sind, wenn sie auch am Ende des Jahrzehnts noch existieren sollen. Ich hoffe immer noch, dass diese ernste Lage auch den Gewerkschaften sehr bewusst ist. Sie, Herr Kaczmarek, sollten nicht so populistische Reden im Hinblick auf den beginnenden Bundestagswahlkampf halten, wie Sie das eben gemacht haben.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Mindestens in der ersten Hälfte Ihrer Rede – nicht in der zweiten – feiern Landowsky und Diepgen fröhliche Urständ. Sie wissen, diese erste Hälfte Ihrer Rede hat kurze Beine, weil Sie damit nicht weit kommen. Sie wissen genau, das Angebot der Gewerkschaften reicht zurzeit nicht aus. Auf der anderen Seite kann sich der Senat aber auch nicht verstecken, die Sanierungserfordernisse der Unternehmen – da gebe ich Ihnen, Herr Kaczmarek, im zweiten Teil Ihrer Rede Recht – auf die Personalkosten reduzieren und die Verantwortung für die Lösung dieser Fragen einzig und allein den Geschäftsführungen der Unternehmen zuschieben, wie wir das täglich in der Presse lesen können. Man muss doch mit politischer Blindheit geschlagen sein, wenn man nicht erkennt, dass man auf diese Weise dafür sorgt, dass zwei Züge aufeinander zurasen, die niemand mehr stoppen kann und nach deren Zusammenstoß sich alle Beteiligten in einer heillos verfahrenen Situation wiederfinden werden. Es ist Aufgabe des Senats in seiner Gesamtverantwortung, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, um aus dieser Situation herauszukommen.

Wir möchten heute gerne die Konzeptionen von SPD und PDS zur Zukunft der Landesunternehmen kennen lernen und diskutieren.

[Beifall bei den Grünen]

Es liegt doch auf der Hand, dass man das Feld der Verhandlungen über Lohnfragen hinaus öffnen muss, wenn man aus der Sackgasse herauskommen will. Es ist offenkundig, dass zur Sanierung der Unternehmen mehr gehört als Personalkostensenkung. Es sind politische Weichenstellungen weit über Lohnfragen hinaus notwendig, wenn die Unternehmen – Charité, Vivantes, BSR, BVG – eine Zukunftsperspektive haben sollen.

[Zuruf des Abg. Wechselberg (PDS)]

[Beifall bei den Grünen]