Sie selbst, Herr Gysi, haben einfach das falsche Ressort übernommen. Das spüren Sie täglich zunehmend auch selbst. Auch wenn Sie sich noch solche Mühe geben, alles, was Sie zum Thema Wirtschaft zu sagen haben, klingt für mich auf merkwürdige Weise oberflächlich und vielfach inkompetent.
Davon abgesehen wissen Sie selbst, was für ein Signal für die Unternehmen des In- und Auslandes allein Ihre Amtsübernahme bedeutete.
Das hat sich bedauerlicherweise, Herr Regierender Bürgermeister, auch in der Regierungserklärung niedergeschlagen, die besonders bei dem Kapitel Wirtschaft und Arbeitsplätze eigenartig unkonkret und unverbindlich geblieben ist. Außer der OneStop-Agency – zweifellos notwendig, aber nichts Neues – haben Sie uns nichts Neues angeboten.
Kein Wort haben Sie zu den öffentlichen Investitionen verloren, kein Wort zur innerstädtischen Infrastruktur, kein Wort zu Steuern und Abgaben, kaum ein Wort zu unserem Mittelstand, zu unseren Dienstleistern und kleineren Unternehmen, kein Wort zur Entbürokratisierung, Privatisierung und Deregulierung, kaum etwas zum Berlinmarketing. Die Worte Aufbruch, Gründer, Existenzgründer, Handwerk, Aufschwung, Ausbildung und Ausbildungsplätze tauchen in Ihrer gesamten Regierungserklärung nicht an einer Stelle auf.
Das ist übrigens der Schwerpunkt unserer Kritik. In dieser Koalition weht keineswegs der Geist des Aufbruchs oder des Neubeginns. Sie stellen Berlin bis heute ausschließlich als Sanierungsfall dar. Das tun Sie unablässig bereits seit mehr als einem Jahr. Damit haben Sie nicht nur die Stimmung in Berlin ruiniert, sondern auch die Stimmung für Berlin. Wo ein Berliner heutzutage hinkommt, wird er fast bemitleidend angeschaut. Derzeit findet, Herr Regierender Bürgermeister, ein gigantischer Entsolidarisierungsprozess in der ganzen Republik gegenüber den Berlinern statt.
Sie haben die Stadt kaputtgeredet – nach innen wie nach außen. Ihre angebliche Sparpolitik, die man besser eine Raubbaupolitik an der Zukunft Berlins nennen müsste, macht die Stadt unattraktiver. Berlin ist kein Steinbruch, den man ungestraft abbauen darf, um einmalig Kies zu gewinnen.
Berlin ist und war schon immer eine Stadt im Übergang, im Aufbruch. Berlin ist nicht die Stadt der Buchhalter, sondern die Stadt der Pioniere, der Förderer, der Gründer, der unternehmerischen Menschen, der wirtschaftlichen, kulturellen und hoffentlich auch politischen Avantgarde.
Berlin darf keine graue, kollektivistische, jammernde Stadt sein, sondern eine vielfältige, internationale und pluralistische Metropole mit Attraktivität für die kreativsten und besten Köpfe aus dem In- und Ausland.
Deshalb, Herr Regierender Bürgermeister, verläuft hier die eigentliche Trennlinie zwischen uns, zwischen unserem Gesellschaftsentwurf und Ihrem.
Für Sie ist Berlin offensichtlich ausschließlich ein Sanierungsfall. Für uns ist Berlin die zukunftsfähige, Experimentier- und Modellstadt für ganz Deutschland, für die ganze Republik.
Wo Sie abbauen, da müsste eigentlich aufgebaut werden: in der Forschung, der Kultur, der Bildung, der Medizin, im Sport, im Marketing und vor allen Dingen in der Wirtschaft. Davon sprechen Sie zwar teilweise, aber Sie denunzieren Ihre eigenen Worte durch Ihre Taten.
Wie Sie festgestellt haben, Herr Wowereit, haben wir in Berlin bedauerlicherweise 270 000 Arbeitslose und 290 000 Sozialhilfeempfänger. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir diese Menschen – wenn irgendwie möglich – wieder in das Erwerbsleben eingliedern müssen.
Für die Arbeitslosigkeit in Berlin geben die Bundesanstalt, der Bund und Berlin weit über 4 Milliarden § pro Jahr aus. Für die Sozialhilfe geben wir in Berlin über 2 Milliarden § pro Jahr aus. Also muss die Schaffung neuer Arbeitsplätze die oberste Priorität in und für Berlin haben. Damit helfen wir erstens diesen Menschen aus ungewünschten, nicht selbst gewählten Abhängigkeiten heraus, verbessern zweitens die Stimmung in der Stadt und könnten drittens – nur so – die Finanzprobleme Berlins mittelfristig lösen. Arbeitsplätze und Steuerzahler braucht diese Stadt.
Aber was beschließen Sie stattdessen? – Sie schließen das Klinikum Steglitz. Sie schließen mehrere Theater. Das kostet Arbeitsplätze. Sie streichen beim Tourismusmarketing und bei Partner für Berlin. Das kostet Arbeitsplätze. Sie verzichten auf Olympia und auf den Zukunftsfonds. Auch das kostet Arbeitsplätze. Sie gefährden den Flughafenausbau. Sie beenden die Eigenheimförderung. Sie erhöhen Steuern und Abgaben. Und auch das alles kostet Arbeitsplätze. Überall Abbau statt Aufbau, Vernichtung statt Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Ihr Ziel ist – so sagen Sie – die Haushaltssanierung. So weit, so gut. Aber Sie haben nicht begriffen, dass dies niemals Selbstzweck sein kann, sondern immer nur Mittel zum Zweck.
Wer die Einnahmeseite so bewusst vernachlässigt, wer sich so wenig Gedanken darum macht, wie Unternehmen in die Stadt kommen, wie steuerkräftige Bürger in die Stadt kommen bzw.
bleiben, wie wir Arbeitsplätze schaffen, wie wir Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger reduzieren, der hat am Ende weder einen sanierten Haushalt noch Zukunftschancen. Das ist die Parallele.
Wir brauchen in Berlin eine Sonderkonjunktur. Wir brauchen eine positive Abkopplung vom bundesweiten Wirtschaftswachstum. Wir brauchen – hier wiederhole ich mich gerne – ein Berliner Wirtschaftswunder.
Das ist weder mit Rot-Rot in Berlin noch mit Rot-Grün im Bund zu schaffen. Wir haben gesehen, was die rot-grüne Regierung aus der Bundesrepublik Deutschland gemacht hat: Das Wachstum ist eingebrochen. Aus sinkender Arbeitslosigkeit wurde – trotz Aufblähung der Mittel für den zweiten Arbeitsmarkt und manipulierter Statistiken – eine steigende. Die Sozialabgaben klettern. Die Zahl der Pleiten hat dramatisch zugenommen. Die Energiepreise wurden nach oben getrieben. Investitionen wurden gedrosselt. Hilfen für den Mittelstand, die neuen Länder, die Landwirtschaft wurden gekürzt. Die Rentenerhöhungen liegen unter der Inflation. Bei der Krankenkasse reden wir erstmalig über Bundeszuschüsse. Die Steuerquote steigt – wie die Abgaben des Bundes und die Schulden. Die Menschen müssen heute länger im Jahr für weniger Geld arbeiten. Sie müssen länger für den Staat arbeiten, und was ihnen bleibt, das ist weniger als 1998 vor dem Regierungswechsel. Deutschland ist beschämendes Schlusslicht in Europa. Nur um Haaresbreite sind wir der Blamage entgangen, als erstes Land einen blauen Brief aus Brüssel zu bekommen. Das ist die traurige Bilanz nach drei Jahren Rot-Grün.
Besonders dramatisch wird der Abschwung bei Schröders Chefsache Ost sichtbar. Seit 1998 sank dort die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer um rund 200 000 erstmals unter 5 Millionen. Dafür stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Osten Deutschlands um über 35 Prozent und die der arbeitslosen Jugendlichen um 15 Prozent.
Nicht nur in Berlin, sondern auch im Bund brauchen wir einen Kurswechsel. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Kurswechsel im Herbst kommen wird und dass die erste Bundesregierung, die von Beginn an aus der deutschen Hauptstadt Berlin regiert, die Regierung Stoiber/Westerwelle sein wird.
Sie reduzieren Politik auf den Rotstift und haben sich ideologisch gegen Werte, Vielfalt, Pluralität und Liberalität festgelegt. Unser Gegenentwurf heißt: die Steuern Berlins erhöhen und die Arbeitslosigkeit entschlossen bekämpfen. Das verlangt – neben Sparsamkeit – Deregulierung, Privatisierung und Entbürokratisierung, vor allem wirtschaftlichen Sachverstand, klare Ziele und Mut zur Zukunft dieser Stadt.
Warum, Herr Wirtschaftssenator, bewerben Sie sich nicht zum Beispiel um den Weltwirtschaftsgipfel in Berlin?
Warum machen Sie Berlin nicht zur Modellstadt für kleinere und mittlere Unternehmen? Warum schaffen Sie nicht endlich ein Drittel aller Gesetze und Verordnungen ersatzlos ab und befristen alle neuen Vorschriften automatisch auf maximal fünf Jahre? Warum machen Sie Berlin nicht zu einem Modellversuch bei den Ladenöffnungszeiten, zur großen Tourismus- und Einkaufsmetropole Deutschlands – vielleicht sogar Europas? Warum starten Sie nicht vor der EU-Osteerweiterung von Berlin aus eine OstWest-Wirtschaftsinitiative?
Ich habe versucht, Ihnen das zu erklären. Die Sanierung und der Aufbau der Stadt bis 1998/1999/2000 war eine so bedeutende Aufgabe, dass wir uns alle mit diesen Fragen viel zu wenig
beschäftigt haben. Wir waren zu stark mit der Gegenwart und der Vergangenheit beschäftigt. Das müssen wir gemeinsam ändern.
Das Setzen auf eine wirtschaftliche Eigendynamik enthebt uns nicht der Verpflichtung, eine Realvision für diese Stadt darzustellen. Visionslosigkeit bei gleichzeitigen Staatseingriffen ist nicht mehr als ein Computer ohne Software, ist intellektuelle Geisterfahrerei.
Die Berlinerinnen und Berliner – ob alteingesessen oder neu, jung oder alt – müssen sich in Berlin wohl und geborgen fühlen können. Bei aller Modernisierung wollen wir das Unverwechselbare und Liebenswerte an Berlin erhalten. Bei allem wirtschaftlichen Aufschwung wollen wir die Schwachen und Alten in unsere Mitte nehmen. Bei allem notwendigen Wachstum wollen wir eine tolerante, menschliche Metropole mit sozialem Antlitz bleiben. Gobales Denken und Kiezgefühl sind für uns keine Gegensätze.