Protocol of the Session on November 11, 2004

[Zurufe von der CDU und der FDP]

lassen Sie mich doch erst einmal ausreden –, das Ganze werde 100 Milliarden DM kosten. Mit dieser Schätzung war er weit von dem entfernt, was die Einheit zu Recht an solidarischem Ausgleich bislang gekostet hat. Aber er war der Wahrheit näher als alle anderen – das darf nicht vergessen werden.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Zurufe von der CDU]

Ich bin der Auffassung, dass bei allen Fehlern, die gemacht worden sind – beispielsweise im Zusammenhang mit der Treuhand –, es sich letzten Endes um eine Erfolgsgeschichte handelt. Aber die psychologische Ausgangssituation für uns alle, für das gesamte Volk wäre eine andere gewesen, wenn man von vornherein gesagt

hätte: Die deutsche Einheit wird eine außerordentliche Anstrengung für uns alle werden. – Dann wäre es uns leichter gefallen, all das zu leisten, was geleistet worden ist und was noch geleistet werden muss.

[Beifall bei der SPD und der PDS – Beifall des Abg. Ratzmann (Grüne)]

Wir sind jetzt in den Mühen der Ebene, schon seit 15 Jahren: Arbeitslosigkeit, die Abwanderung der jungen Menschen aus den neuen Bundesländern. Es gehört auch zur Wahrheit, dass die Produktivität in den neuen Bundesländern im Durchschnitt bei 77 % der Produktivität in den alten Bundesländern liegt.

[Niedergesäß (CDU): Das ist ein blöder Vergleich!]

Das kann man nicht von heute auf morgen ändern. Aber die Infrastrukturinvestitionen, die Verbesserungen, die ein ganz praktisches Stück Lebensqualität für die neuen Bundsländer sind, die fallen jedem, der dorthin fährt, ins Auge. Das ist eine große solidarische Leistung, die innerhalb unseres Landes für die neuen Bundesländer erbracht worden ist.

Problematisch wäre es aus meiner Sicht, wenn es auf der einen Seite in den neuen Bundesländern hieße: Das hat alles nichts genützt. Was ist denn besser geworden? – und auf der anderen Seite in den alten Bundesländern: Das viele Geld, das als innerdeutscher Solidarausgleich und als Ersatz für die Reparationen, die die ehemalige DDR zahlen musste, tut uns Leid. – Wir müssen die Geduld aufbringen, diesen Weg fortzusetzen. Wir werden uns noch länger gedulden müssen, das ist heute absehbar. Es wird auch noch 10 bis 15 Jahre dauern, bis diese Prozesse, die sehr langwierig sind – beispielsweise der Aufbau eines Mittelstandes in den neuen Bundesländern –, abgeschlossen sind und das Volk die Situation als gleichwertig empfindet.

Ich glaube, eines wird uns zusammenschweißen – es sind immer die großen Herausforderungen, die dies tun, so, wie die Flut eine gewesen ist –: Die gesellschaftlichen Reformen, die in der ganzen Bundesrepublik angesagt sind, in Ost und West, die Veränderung des Sozialsystems, die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, aber auch des Bildungssystems, werden die Menschen zusammenschweißen. Wir werden uns gemeinsam anstrengen müssen, um zu neuen Lösungen zu gelangen. Diese große Aufgabe liegt vor uns allen. Diese große Aufgabe wird das Zusammenwachsen beschleunigen und letzten Endes vollenden.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Ich möchte noch eine zweite große Aufgabe benennen. Nachdem die Einheit Deutschlands und Europas so friedlich erkämpft worden ist, brauchen wir ein politisch einiges und handlungsfähiges Europa. Das bisher Vorhandene reicht für ein politisch handlungsfähiges Europa und ein Wiedererstarken des alten Kontinents nicht aus. Seit dem 1. Mai und dem Beitritt der zehn Länder aus Ost- und Mitteleuropa zur EU sind wir dabei einen gewaltigen Schritt vorangekommen. Hätte jemand vor 15 Jah

ren prophezeit, dass diese Länder heute Mitglied des westlichen Bündnisses seien, dass sie in der EU seien, dass ihre ökonomische Leistungsfähigkeit entsprechend groß ist, wir hätten es nicht für möglich gehalten. Dies ist der zweite Schritt, nachdem die Einheit unseres Landes hergestellt worden ist. Viele Aspekte gilt es aber noch zu besprechen: Was wird mit Russland? Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten?

Die Einigung Europas und die Reformen im eigenen Land, diese Aufgaben liegen vor uns. Ein Volk, das so glückliche Stunden und Jahre erlebt hat, wird auch dieses meistern. Aber wir müssen uns allen klar machen, dass es dazu außerordentlicher Anstrengungen bedarf. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Kollege Momper! – Es folgt die Fraktion der CDU. Der Kollege Zimmer hat das Wort. – Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 9. November 1989 stürzten die Bürger in der DDR und Ostberlin die SED-Diktatur. Das Datum 9. November ist ein Schicksalsdatum, das wie kein anderes die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Die Reichspogromnacht war mit der Ermordung der deutschen Juden und dem Niederbrennen der Synagogen eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.

Der 9. November 1989 war ein Freudentag, denn der Mauerfall bedeutete das Ende der Teilung und die Freiheit für die Deutschen in der ehemaligen DDR. Es ist sicherlich einer der hoffnungsvollsten Momente im vergangenen Jahrhundert gewesen. Heute wird deutlich, dass die Mauer neben ihrer todbringenden Wirkung vor allem aber auch ein Symbol der Trennung, sichtbar für jeden der Deutschen in Ost und West, gewesen ist. Mit ihrem Fall begann jedoch erst der Prozess der Wiedervereinigung, der heute, 15 Jahre später, noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Damals ging die friedliche Revolution vom Volk aus. Heute ist es vor allem auch Aufgabe der Regierenden, sie zu einem guten Ende zu führen. Die große Koalition hat unter der Führung von Eberhard Diepgen in den kritischen Jahren dafür wichtige Weichen gestellt. Natürlich hat dies Geld gekostet. Das ist auch ein Grund für die Verschuldung Berlins. Doch dies war gut investiertes Geld in die Zukunft unserer Stadt.

[Beifall bei der CDU]

Wir wollen heute nicht nur einen historischen Rückblick unternehmen, sondern wir wollen auch über die Frage reden, wie wir mit unserer Vergangenheit, mit Gedenkstätten und Mahnmalen in unserer Stadt umgehen. In der Rückschau lässt sich feststellen, dass wir ein hohes Tempo vorgelegt haben, wenn es darum ging, an den Äußerlichkeiten zu arbeiten. Doch mit dem Abriss der Mauer, mit dem Tilgen der Spuren der deutschen Teilung war es nicht getan. Nur langsam begreifen wir, dass wir dieses

Kapitel nun gründlich aufarbeiten müssen. Geschichte braucht ihre Zeit, um verarbeitet zu werden. Erst jetzt, 15 Jahre später, scheint es, als sei man an einem neuen Punkt angelangt, an dem man mehr als je zuvor an der inneren Einheit arbeiten muss.

Die eigentliche Arbeit beginnt jetzt, und sie ist eine Chance, die nicht verpasst werden darf, denn die Unterschiede zwischen Ost und West treten im Jahr 2004 immer noch deutlich zu Tage. Die Demonstrationen gegen die Einführung von Hartz IV sind noch nicht ganz vorüber. Während die Menschen in den neuen Ländern zu Tausenden auf die Straße gingen, ließen die Proteste die Bürger in den alten Bundesländern fast unbeteiligt. Dies hat seine Gründe, die vor allem in der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern und der damit verbundenen Angst vor der persönlichen Zukunft zu suchen sind.

Die zunehmende Radikalisierung der politischen Szene und die Wahlergebnisse von DVU, NPD aber auch PDS bei den letzten Wahlen in Brandenburg und Sachsen zeigen, dass sich viele Menschen von unserem demokratischen System nicht gut vertreten fühlen, sich mit zentralen Werten unserer Gesellschaft nicht identifizieren können und deswegen leichte Beute für die populistischen Versprechen radikaler Gruppierungen werden.

[Brauer (PDS): Das ist alles sehr einfarbig!]

Die Extremisten reden von Gleichheit, doch sie meinen Gleichheit für wenige und Ungleichheit für viele. Doch ist es nicht gerade die Freiheit, für die wir kämpfen müssen?

[Beifall bei der CDU – Brauer (PDS): Schwätzer!]

Genau zu diesem Zeitpunkt schlägt Bundesfinanzminister Eichel vor, den 3. Oktober, den Nationalfeiertag der Deutschen, abzuschaffen. Das ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern zeigt einen fahrlässigen Umgang mit dem Projekt deutsche Einheit. Wir betonen gerade an diesem Tag unsere Gemeinsamkeiten, erinnern uns an die Überwindung der deutschen Teilung in Frieden und Freiheit. Das ist in einem Land, in dem der Einigungsprozess noch viele Herausforderungen an uns alle stellt und stellen wird, von immenser Bedeutung für unsere Identität als Deutsche. Wir können eben nicht allein die öffentlichen Haushalte und das Verdienen von Geld zum Maßstab unserer gesellschaftlichen Entwicklung machen.

[Beifall bei der CDU]

Hierher passt auch der skandalöse Vorgang um die Entfernung der Fototafeln am Bundesfinanzministerium. Des Aufstands vom 17. Juni und vor allem seiner Opfer zu gedenken, muss uns Verpflichtung sein. Das kaum beachtete, kaum erkennbare Denkmal im Bürgersteig vor dem Finanzministerium wird diesem Anspruch nicht gerecht.

[Beifall bei der CDU – Beifall des Abg. Hahn (FDP)]

Was für eine Ironie: Die weithin sichtbare Kachelwand, die vom Geld des Steuerzahlers saniert wurde, darf vom Sieg des Sozialismus künden; doch die Bilder der Aufständischen müssen verschwinden.

[Beifall bei der CDU – Beifall des Abg. Hahn (FDP)]

Ich kann mich noch gut erinnern, dass Herr Wowereit in diesem Haus versprochen hat, sich für einen Kompromiss zum Erhalt der Tafeln einzusetzen. Nur getan haben Sie offensichtlich nichts, jedenfalls nichts Wirkungsvolles.

[Gram (CDU): Wie immer!]

Es bleiben leider nur vollmundige Versprechungen, aber keine Ergebnisse, Herr Wowereit.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Und worum geht es Eichel dabei? – Wiederum nur ums Geld. Die Argumentation seiner Anwälte im Prozess um die Entfernung der Fotos ist entlarvend: Man hätte in der Zeit, in der die Tafeln an der Fassade seines Amtssitzes hingen, rund 180 000        dieser Flächen für Plakatwerbung verdienen können. – Hier geht es nicht um die Frage einer Wirtschaftlichkeit. Es geht darum, was uns die Erinnerung an Deutsche, die für ihre Freiheit sterben mussten, wert ist.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Und nun zur Diskussion um die Gedenkstätte am Checkpoint Charlie: Man kann zu Frau Hildebrandt und ihrer Initiative stehen, wie man will, eines lässt sich nicht leugnen, nämlich die Tatsache, dass es ein Bedürfnis gibt, sich an die Mauertoten und die Schrecken der Sperranlagen zu erinnern. Fast alle Besucher dieses Ortes sind von der Vielzahl menschlicher Schicksale, die ihr Ende an der deutsch-deutschen Grenze fanden, ergriffen. Wir sind dabei, unsere eigene Geschichte zu begreifen und zu verarbeiten. Nur wenn uns das gelingt, haben wir auch eine Grundlage, um unsere Zukunft zu beschreiten.

Berlin spielt dabei eine besondere Rolle. Als Ort der Teilung und des Zusammenwachsens und als deutsche Hauptstadt haben wir eine Verpflichtung, der wir gerecht werden müssen. Natürlich haben wir in Berlin eine Vielzahl von Gedenkstätten und Orten der Erinnerung. Aber das Beispiel Checkpoint Charlie zeigt, dass dies in der derzeitigen Form nicht ausreicht.

Das Beispiel der Gedenksäule für Peter Fechter, des jungen Mannes, der vor den Augen der aufgebrachten und hilflosen Westberliner Bevölkerung qualvoll in den Sperranlagen des SED-Regimes verbluten musste, führt uns vor Augen, dass es nicht damit getan ist, eine Metallsäule an den Straßenrand zu stellen. Wenn nicht gerade am 17. Juni die offiziellen Kranzniederlegungen stattfinden, fristet dieser Ort ein unwürdiges Dasein. Eingekeilt zwischen parkenden Autos wird das Ehrenmal zu einer Stelle, an der Berlins Hunde ihr Geschäft verrichten dürfen. Das ist peinlich und schändlich.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Wir haben zudem die offizielle Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße. Es ist eine uninspirierte Anlage, die nicht im Entferntesten ihre Aufgaben erfüllen kann, nämlich an den Schrecken der Grenzanlagen, die sich quer durch ganz Deutschland zogen, zu erinnern.

[Brauer (PDS): Waren Sie mal da?]

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Einrichtungen wie die Gedenkstätte in Hohenschönhausen. Jeder, der sie schon einmal besucht hat, kann sich ihrer Wirkung nicht entziehen. Es jagt einem einen Schauer über den Rücken, die Gefängnisanlagen vor Augen zu haben und eine Ahnung davon zu bekommen, welches Grauen sich dort abgespielt hat. Aber diese Gedenkstätte ist fast versteckt. Jedenfalls ist sie so dezentral, dass ein Berlinbesucher sie nicht ohne Mühe finden und besuchen kann. Sie steht konzeptionell und strukturell völlig isoliert da.

Genau hier müssen wir ansetzen.

[Beifall bei der CDU – Beifall des Abg. Hahn (FDP)]

Das verstehe ich unter einem Gedenkstättenkonzept. Wir müssen diese Orte erreichbar machen. Wir müssen sie in einen pädagogischen Zusammenhang stellen und ihnen – siehe Fechter-Mahnmal – einen würdigen Rahmen geben. Schon allein mit der Einführung eines Busshuttles, mit dem der interessierte Berliner und Berlinbesucher diese Orte ohne Schwierigkeiten nacheinander besuchen könnte, wäre ein Schritt in die richtige Richtung getan. Aber so, wie wir es bislang handhaben, ist dies gegenüber den Opfern und den Menschen, die unter dem SED-Regime gelitten haben, völlig unangemessen.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]