Protocol of the Session on April 29, 2004

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Ich will mit einer seriösen Datengrundlage dazu beitragen, dass gute Nachrichten einer blühenden Stadt häufiger werden und das Abstürzen von Kiezen gestoppt werden kann.

Frau Jantzen! Der Handlungsdruck ist groß, das wissen wir alle. Deshalb ist es das gute Recht der Regierung, eine solche Grundlage auf den Tisch zu legen. Zu Ihrer Beruhigung: Bevor ich den Sozialstrukturatlas veröffentlicht habe, habe ich ihn mit den Bezirksvertretern diskutiert.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, ein paar Grundannahmen zum Sozialstrukturatlas erläutern, die immer wieder in der Diskussion sind. Der Atlas untersucht die Lebenslage der Bevölkerung auf der räumlichen Ebene bis hinein in die kleinen Sozialräume, hier Verkehrszellen genannt. Dabei geht es eben nicht um Lebensqualität, die z. B. durch Interviews hätte erfragt werden können. Es geht um harte Fakten wie Einkommen, Bildungsstand und Ausbildungsabschlüsse; demographische Daten, Sozialhilfebezug, Arbeitslosenquote und Familiengröße spielen hier eine Rolle. Diese Fakten sind entscheidend dafür, ob jemand in gesicherten Wohlstandsverhältnissen lebt oder von Armut bedroht ist.

Nun zum Armutsbegriff, den wir hier zu Grunde legen, weil auch das immer Diskussionsgegenstand ist, natürlich zu Recht. Wir orientieren uns mit unserem Ar

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Andererseits rücken nun diejenigen Bereiche in das Blickfeld, in denen sich die Sozialindizes besonders rapide verschlechtert haben. Das bedeutet nicht, dass diese Kieze bereits Problemkieze sind oder es werden. Spandau, Tempelhof oder Marzahn zeigen in der Entwicklung der letzten Jahre problematische Veränderungen, aber sie liegen immer noch im Mittelfeld der Rangliste, weil sie von einem sehr hohen Niveau ausgehen, anders als Friedrichshain-Kreuzberg. Allein die Sicht auf die einzelnen Verkehrszellen und deren dynamische Entwicklung eröffnet uns die Möglichkeit, die Unterschiede innerhalb der Bezirke aufzuweisen. Hier zeigt sich, dass Marzahn und Spandau Verkehrszellen haben, die beste Werte aufweisen, andererseits aber auch ausgesprochen problematische Verkehrszellen haben.

mutsbegriff an einer Empfehlung des Europäischen Rates. Wie in anderen bundesweiten Untersuchungen auch definieren wir in unserem Sozialstrukturatlas eine „relative Einkommensarmut“. Das heißt, alle diejenigen, die weniger als 50 % des Durchschnittseinkommens einer jeweiligen Region zur Verfügung haben, gelten als arm. Für Berlin bedeutet das 606 € für den Single. Weitere Haushaltsmitglieder werden mit unterschiedlichen Faktoren berechnet, Kinder z. B. mit 0,5. Eine allein erziehende Frau mit zwei Kindern gilt also als arm, wenn sie weniger als 1 200 € im Monat zur Verfügung hat. Nun kann man die Frage aufwerfen, ob das arm ist. – Natürlich ist das arm. Man muss dabei nicht hungern, das ist klar, und es ist auch keine Armut, die mit der in Rio oder den Schwellenländern vergleichbar ist. Aber für Berlin heißt das, dass eine dreiköpfige Familie mit diesem Einkommen von vielem ausgeschlossen ist, was für die meisten von uns selbstverständlich zum Lebensstandard gehört.

Aber ich sage auch, Geld allein macht bekanntermaßen nicht glücklich. Deshalb kann Armut je nach sozialer Einbindung durchaus unterschiedlich empfunden werden, gerade auch bei denen, die mit extrem wenig Geld leben müssen. Hier sind wir uns völlig einig, Frau Jantzen, dass Isolation, soziale Ausgrenzung oder aber Einbindung in intakte Sozialstrukturen einen großen Unterschied bedeuten. Nehmen wir z. B. Studierende. Diese fühlen sich sicherlich weniger arm dran, auch wenn sie sehr wenig Geld zur Verfügung haben, allein schon durch die Aussicht auf einen Job als Akademiker. Sie fühlen sich unter Garantie ganz anders als junge Migranten ohne Berufsausbildung, die ohne Zukunftsperspektive in der dritten Generation von Sozialhilfe leben müssen, oder Arbeitslose, die absolut keine Chance zur Veränderung ihrer Lebenssituation sehen. Darum geht es: Diese Verstetigung von Armutsverhältnissen muss uns Sorgen machen. Sie hat zugenommen und trägt erheblich zur Belastung der Kieze bei, was deutlich wird, wenn man sich allein die Zahlen in Kreuzberg, Wedding, Neukölln oder Schöneberg anschaut.

[Czaja (CDU): Sie haben Marzahn-Nord vergessen!]

Hier müssen und wollen wir handeln. Armutsrisiken wie Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, geringe Bildung, fehlende Berufsabschlüsse bilden dann auch den Sozialindex, nach dem die 298 Verkehrszellen erstellt worden sind.

Ein Ranking, wie es zum Beispiel der jüngste „Stern“ vorgenommen hat, wo es um die Zufriedenheit der Einwohner mit ihrer Stadt oder ihrem Kiez geht, würde möglicherweise eine ganz andere Rangfolge ergeben, aber das war nicht unser Erkenntnisinteresse. Es ging nicht um die gefühlte Lebenslage, sondern um die sozialen Verhältnisse, denn das ist der Impuls für politisches Handeln, und darum geht es dem Senat.

Dass der zweite Sozialstrukturatlas zudem dynamische Entwicklungen in der Stadt aufzeigen kann, ist eine neue Qualität. Die Daten zeigen: Berlin weist eine hohe Wanderungsdynamik auf. Die Quartiere, in denen die soziale Belastung hoch ist, sind davon überproportional be

troffen. Wir haben damit erstmals eine wissenschaftliche Grundlage für Veränderungen und können so die Qualität unserer Planungsgrundlage deutlich erhöhen.

Berlin weist eben wie andere europäische Metropolen auch sehr starke räumliche Ungleichheiten auf. Im zeitlichen Vergleich wird deutlich, dass die Unterschiede zwischen den Bezirken größer werden. Das heißt, die Schere geht auseinander. Bereiche mit einer guten Sozialstruktur stehen weiter vorn, Schlusslichter bleiben Schlusslichter.

[Czaja (CDU): Und weshalb ist das so?]

Weil Marzahn heute schon häufiger erwähnt worden ist und vor allem der Bereich Marzahn-Nord, sage ich: Ja, dort haben sich die Daten – so ist das in der Empirie, wer etwas davon versteht, Herr Hoffmann, der weiß das – verändert. Die Daten sind von 2002, und deshalb kann sich in dieser Zeit durchaus etwas ändern. So ist es in der Tat in diesem Kiez. Wir haben das noch einmal nachuntersucht. Dort hat sich viel verändert auf Grund der Schließung von Aussiedlerwohnheimen. Trotzdem ist die soziale Struktur in diesem Bereich nicht besser geworden.

[Zuruf des Abg. Czaja (CDU)]

Wichtig ist mir, dass wir verhindern, dass solche Bereiche weiter abrutschen und zu neuen sozialen Brennpunkten werden. Wir müssen deshalb gegensteuern.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Czaja (CDU)]

Ja, Herr Czaja, ich weiß, dass es Ihr Bezirk ist,

[Doering (PDS): Nein, ist nicht seiner! – Weitere Zurufe von der PDS]

ich weiß auch, dass Sie dort ganz besondere Lobbyinteressen haben.

[Czaja (CDU): Also, wenn dort jemand Lobbyinteressen hat, dann sollten Sie einmal Herrn Klett fragen!]

Bleiben Sie zunächst einmal ganz ruhig und verlassen Sie sich darauf, dass wir noch reichlich Gelegenheit haben werden im Fachausschuss über alle diese Fragen zu diskutieren.

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Mit dem Sozialstrukturatlas besteht die Möglichkeit, die regionale Ausrichtung der Projekte zu überprüfen und rechtzeitig gegenzusteuern, indem man schaut, welche Projekte hinzugenommen werden müssen, um neue soziale Brennpunkt zu verhindern.

Die sozialräumliche Betrachtung ist auch in der Neuordnungsagenda 2006 für die Verwaltungsreform eine wichtige Kategorie, an der sich Projekte messen müssen. Dies wird – bezogen auf mein Ressort – bedeuten, beim Modell Sozialamt 2005 darauf zu achten, dass wir zum Beispiel in Friedrichshain-Kreuzberg oder in Mitte anders und mehr Dienstleistungen und Beratungsangebote einsetzen müssen als etwa in Zehlendorf oder Köpenick. – Herr Lehmann! Hier geht es nicht um fiktive Sozialämter, sondern die vorhandenen. Für diese wird es deutliche Umbrüche geben, wenn das Hartz-Konzept umgesetzt wird.

Der Sozialstrukturatlas bietet uns gute Chancen, dort einzugreifen, wo es knirscht und den Bruch aufzuhalten beziehungsweise zu verhindern. Es geht nicht mehr mit der Gießkanne, das sage ich sehr ausdrücklich, wenn wir wirksam und gezielt soziale Ungleichheit bekämpfen wollen.

[Wellmann (CDU): Das wäre ja neu!]

Deshalb sind die Schlussfolgerungen das Entscheidende, das es hier zu diskutieren gilt. Die Probleme, mit denen wir es in Berlin zu tun haben, sind vielfältig, schwierig, aber – auch das wissen Sie – betreffen nicht Berlin allein. Manches werden wir deshalb auch nicht aus eigener Kraft lösen können. Das betrifft die seit einem Jahrzehnt bestehende hohe Arbeitslosigkeit, aber auch die lahmende Wirtschaft. Der Senat sieht dennoch eine der zentralen Aufgaben in kommunaler Beschäftigung – unter welcher Zuständigkeit und mit welchem Geldgeber auch immer. Ich denke, dass es in der Tat darauf ankommt, gemeinsam mit der Landesagentur zu erreichen, dass öffentlich geförderte Beschäftigung künftig problemorientierter ausgerichtet und möglicherweise mit Bereichen des Quartiersmanagements verbunden wird. Dafür will ich mich jedenfalls einsetzen.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Darüber hinaus wird sich der Senat auf die Bereiche konzentrieren, bei denen wir als Land entscheidende Interventionsmöglichkeiten haben, und diese stärker als bisher problemorientiert ausrichten. Dabei besteht Einvernehmen im Senat – vielleicht ist das gerade das Neue, Frau Jantzen –, dass wir dies gemeinsam und ressortübergreifend tun wollen. Der schon genannte Staatssekretärsausschuss „Soziale Stadt“ wird im Mai tagen und darüber beraten, welche Maßnahmen, Projekte und Programme der einzelnen Ressorts besonders geeignet sind, die sozialen Probleme in den Kiezen positiv zu beeinflussen und Lebenslage und -qualität der Menschen zu verbessern. Aus meiner Sicht dazu einige Punkte: Stadtteilzentrenarbeit, Nachbarschaftshäuser, Selbsthilfestrukturen, das alles sind Kristallisationspunkte für soziale Aktivitäten und bürgerschaftliches Engagement. Dies besser als bisher mit Quartiersmanagement zu verzahnen, halte ich für dringend erforderlich, um die Wirksamkeit zu verstärken.

Sicher ist im Quartiersmanagement nicht alles optimal gelaufen. Wer kann schon messen, was in bestimmten Kiezen inzwischen wäre, hätte es kein Quartiersmanagement gegeben? – Auch darüber können wir zunächst nicht viel sagen. Wichtig ist mir, dass es auf der anderen Seite eine Reihe von Erfolgen gibt. Diese zeigen sich vor allen Dingen dort, wo es gelungen ist, Bewohnerinnen und Bewohner zu aktivieren und sie zum Mittun zu mobilisieren. Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Voraussetzung für diese Arbeit.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Das Gleiche gilt für die Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes, auch wenn sie von der CDU immer als die große Sparbüchse der Sozial- und Gesundheitspolitik denunziert wird. Ich finde es richtig, dass wir von vornherein den sozialkompensatorischen Ansatz gewählt haben, das heißt, dass wir wollen, dass künftig die Leistungen des Gesundheitsdienstes denjenigen Menschen zugute kommen, die aus unterschiedlichen Gründen weniger Zugang zu den vorhandenen Angeboten der Gesundheitsversorgung haben. Hier hat der öffentliche Gesundheitsdienst eine wichtige Funktion, die wir befördern wollen. Frühes Eingreifen in den Kitas ist dabei ein wichtiger Aspekt. Es wird natürlich so sein, dass das Setting der Gesundheitsförderung in Kitagruppen mit einem hohen Migrantenanteil ein anders sein muss als etwa in Zehlendorf, wo man davon ausgehen kann, dass ein Großteil der Eltern die Gesundheitserziehung selbst übernimmt. Es geht nicht darum, bei der sozialräumlichen Mittelvergabe – die fordere ich in der Tat – den einen etwas wegzunehmen und über den anderen das Füllhorn auszugießen, sondern es geht darum, sinnvoller und problemorientierter die Mittel zu vergeben, die – wie wir alle wissen – nicht üppiger werden. Diese Überlegungen müssen bei dem neu abzuschließenden Ligavertrag berücksichtigt werden. Sie spielen in meinem Haus bei der Psychiatrieplanung eine Rolle, bei dem Kollegen Böger in der Jugendhilfeplanung beziehungsweise bei der Einrichtung der Ganztagsschulen. Sie müssen bei der Wirtschaftsförderung ebenso eine Rolle spielen wie bei der bezirklichen Kulturförderung. Nach wir vor ist es so, dass konzentrierte Sprachförderung die beste Möglichkeit ist, um sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Die Debatte um Bürgerhaushalte, wie sie in einzelnen Bezirken begonnen wurde, ist eine gute Möglichkeit, die Mittelvergabe transparenter zu machen und die Akteure in den Bezirken, aber auch in den einzelnen Kiezen zu motivieren, sich selber einzuschalten und mit bürgerlichem Engagement dort selbst aktiv zu werden. Ich finde es absolut nachvollziehbar, dass die Bezirke, die besondere Belastungen tragen – das sind eben zum großen Teil die In

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Mit dem Quartiersmanagement haben wir ein gutes Instrument an der Hand.

Das Quartiersmanagement bedeutet, keine fertigen Produkte von oben vorzugeben, sondern mit den Menschen und den Akteuren vor Ort gemeinsam Vorhaben zu erarbeiten und umzusetzen. Mit dem Quartiersfonds können wir erkennen, dass die Bewohner und Bewohnerinnen mit ihrem Gebiet sehr verantwortlich und wirtschaftlich mit den öffentlichen Geldern umgehen können. Sie wollen die Probleme vor ihrer Haustür anpacken und lösen. Hier müssen wir als Politiker und Politikerinnen den Rahmen auch finanziell sichern.

Die Armutsbekämpfung ist wichtig, und dabei sind alle gefragt und gefordert. – Herr Präsident, könnten Sie die CDU auffordern, ein bisschen leiser zu sein?

nenstadtbezirke –, einen bezirklichen Wertausgleich fordern, der sich anders als bisher an den Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit usw. orientiert. Wir haben bereits bei der Finanzierung der Stadtteilzentren erste Schritte gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden gemacht, und ich denke, das ist wirklich gut so.

Insgesamt will der Senat die finanziellen Mittel und personellen Ressourcen so verwenden, dass die Stadt nicht in einen Sog nach unten gerät, sondern weiterhin attraktiv bleibt, nicht nur für Investoren und Touristen, sondern vor allen Dingen auch für die Menschen, die hier leben. Dafür bietet der Sozialstrukturatlas eine gute Grundlage, auch – Herr Lehmann, da haben Sie in der Tat Recht – wenn er nicht alles erklären kann. Aber ich sage es Ihnen mal, wenn Sie mit Ihren Erklärungen anheben: Ich kann ja immer nur am Sonnabend auf den Markt auf den Kollwitzplatz gehen. Da treffe ich meine Pressesprecherin und Herrn Trittin und ansonsten Touristen. Und da kann ich einfach nur sagen: Auch Augenschein kann nicht alles erklären. Insofern sollten wir uns bemühen, uns an die Fakten zu halten, die hier vorgelegt sind. – Vielen Dank!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Vielen Dank, Frau Senatorin! – Wir kommen nun zur zweiten Rederunde, es sind bis zu 5 Minuten pro Fraktion vorgesehen. Es beginnt die SPD. Das Wort hat die Frau Kollegin Radziwill. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Opposition! Meckern, schlecht reden, ist keine Kunst. Die Kunst ist vielmehr, zeitnahe Lösungsansätze zu geben. Sie tragen mit Ihrem Meckern zum Unmut der Menschen in der Stadt, in den Quartieren und in den Kiezen Ihren Teil bei.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]

Der druckfrische Sozialstrukturatlas muss genau ausgewertet werden, das haben wir alle heute festgestellt, und auch die Ursachen müssen analysiert werden. Eine Ursache ist, Herr Hoffmann, kurz nach der Wende die schnelle Senkung der Zuschüsse für die Unternehmen. Sie wissen, als Folge sind damals in kurzer Zeit viele Fabrikarbeitsplätze abgeschafft worden. Das dürfen Sie, insbesondere in Richtung CDU und CDU-Wirtschaftspolitik, nie vergessen.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]