Protocol of the Session on September 12, 2002

Das Prinzip des Förderns und Forderns gilt aber nicht nur für die Arbeitslosen, sondern es gilt gleichermaßen für die Betriebe. In Berlin sind zur Zeit über 290 000 Menschen arbeitslos, also arbeitssuchend, zuzüglich der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Für diese Menschen brauchen wir eine schnelle und effiziente Eingliederung in Arbeit. Mit dem Ausbau der Arbeitsämter zu Job-Centern, das wir übrigens in Berlin in einem Bezirk haben – in Pankow –, wird eine ganzheitliche Beratung und Unterstützung eröffnet. Somit haben auch erwerbsfähige Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger wesentlich größere Chancen zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt – wie das Berliner Modell bereits beweist. Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe macht endlich Schluss mit dem Drehtüreffekt.

Die Personalserviceagentur als vermittlungsorientierte Integrationsfirma wird eine tragfähige Brücke in den ersten Arbeitsmarkt sein. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten natürlich tariflich geregelt werden.

Die Ich-AG bzw. Familien-AG sind ebenfalls Instrumente, diese Mal Instrumente gegen die Schwarzarbeit und ein Weg von der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit. Auch in Berlin kann die Zahl der Selbstständigen noch gesteigert werden, da werden Sie mir noch Recht geben!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Zuruf des Abg. Dr. Lindner (FDP)]

Gründerinnen und Gründer einer Ich-AG beziehungsweise Familien-AG werden in den Schutz der Sozialversicherung einbezogen, das ist auch eine ganz wichtige Entscheidung. Zur Entlastung der Beitragskosten wird dem bisher Arbeitslosen über 3 Jahre hinweg ein jährlich abnehmender Zuschuss gewährt.

Arbeitsförderung soll mehr als bisher zu Chancengleichheit auch von Frauen und Männern beitragen und die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit von Arbeitslosen mit Familienpflichten besser unterstützen.

Die Arbeitsämter sollen zur Stärkung der Dezentralisierung regionale Arbeitsmarktprogramme durchführen. Hierbei kann in Berlin eine Verknüpfung mit den bezirklichen Beschäftigungs

bündnissen – von Rot-Rot weiter finanziert, Herr Lindner – hergestellt werden. Die Verantwortung der Sozialpartner für den Arbeitsmarkt bleibt in einem Selbstverwaltungsgremium ebenfalls bestehen.

Den Arbeitgebern wird eine zentrale Verantwortung für Beschäftigung und Abbau der Arbeitslosigkeit zugewiesen – auch das ist neu. Hierbei ist die Verpflichtung der Arbeitsämter zu Beschäftigungsberatung für Arbeitgeber sinnvoll und notwendig. Die Arbeitgeber müssen betriebliche Beschäftigungsbilanzen erstellen, die dazu beitragen, dass Mitnahmeeffekte und Missbräuche vermieden werden. So wird Beschäftigung gesichert und geschaffen.

Am 1. November soll bereits – also es passiert was – das Kreditprogramm für gesunde mittelständische ostdeutsche Firmen als Finanzierungsanreiz für neue Arbeitsplätze gestartet werden

[Dr. Lindner (FDP): Was habt ihr denn in den letzten dreieinhalb Jahren gemacht?]

Gemäß den Vorschlägen der Hartz- Kommission kann bei Einstellung eines Arbeitslosen ein Kredit von bis zu 100 000 $ zur Verfügung gestellt werden. Das geht keineswegs an der Realität des ostdeutschen Arbeitsmarktes vorbei, wie von FDP-Vize Rainer Brüderle kommentiert, sondern mit diesem Programm reagiert die Bundesregierung auf die Tatsache, dass die ostdeutschen Unternehmen über eine dünne Kapitaldecke verfügen – immer gefordert, jetzt endlich wird was dafür getan!

[Dr. Lindner (FDP): Na endlich, nach 4 Jahren!]

Aber nicht erst nach 16 Jahren!

[Beifall bei der SPD und der PDS – Matz (FDP): Aber 4 Jahre zum Aufwachen sind schon lange! – Dr. Lindner (FDP): Die Gelegenheit kriegt ihr nie wieder! – Zuruf des Abg. Doering (PDS)]

Die Bundesregierung wird nun umgehend mit der Vorbereitung der gesetzgeberischen Schritte beginnen, damit auch nach dem 22. September, unabhängig wie die Wahl ausgeht, der Gesetzentwurf am 10. Oktober eingebracht werden kann und die Maßnahmen zügig umgesetzt werden können.

In Berlin werden wir zeitnah die Voraussetzungen schaffen, die nötig sind, um die Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik auf den Weg zu bringen und den Reformprozess der Bundesanstalt für Arbeit zu begleiten, um den Erwerbslosen in unserer Stadt eine Perspektive zu geben. Lassen Sie uns eines der großen Probleme der Gesellschaft gemeinsam angehen, dann werden wir es schon schaffen!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön! – Für die Fraktion der CDU hat das Wort der Abgeordnete Dr. Steffel – bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Grosse, Sie haben kritisiert, dass ich als Fraktionsvorsitzender zu diesemThema spreche. Es ist richtig! Das Thema ist uns so wichtig, dass wir in der Tat der Auffassung sind, dass es nicht nur richtig ist, dass sich die Fraktionsspitzen damit intensiv beschäftigen, sondern der Senat anwesend sein sollte und insbesondere der Regierende Bürgermeister sich die Zeit nehmen sollte, der Debatte beizuwohnen.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf des Abg. Gaebler (SPD) – Zuruf des Abg. Brauer (PDS)]

Der Mut der rot-roten Koalition, insbesondere der SPD, ist schon beachtenswert. Die PDS hat ja gerade im Bundestag gegen das Hartz-Modell gestimmt, insofern bin ich gespannt auf den Redebeitrag des kleineren Koalitionspartners hier in Berlin. Aber die Sozialdemokraten scheinen in der Tat der Auffassung zu sein, dass eine Debatte über die Arbeitsmarktpolitik und über

die Bilanz der rot-grünen Bundesregierung in diesem wichtigen Teil deutscher Politik hier kurz vor der Bundestagswahl hilfreich sein könnte. [Frau Dr. Klotz (Grüne): Natürlich!]

Dass Sie glauben, mit Ihrer Bilanz im Wahlkampf punkten zu können, verwundert mich, aber ich nutze das sehr gerne, um mich sehr intensiv – nicht nur mit der Hartz-Kommission, aber insbesondere auch mit den Vorschlägen – mit den Problemen auf dem Arbeitsmarkt auseinanderzusetzen.

In einem sollten wir uns einig sein: Die bessere Vermittlung und effizientere Verwaltung von Arbeitslosigkeit, von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland, wird niemals ausreichen, um die Probleme des deutschen Wirtschaftssystems und des Arbeitsmarkts zu lösen, da bei 9 000 offenen Stellen in Berlin 300 000 Arbeitslose und 270 000 Sozialhilfeempfänger keine bessere Perspektive haben, ob Sie besser, effizienter, schneller oder langsamer verwalten.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf der Frau Abg. Dr. Klotz (Grüne)]

Statt die strukturellen Probleme des Arbeitsmarkts in Deutschland zu bekämpfen, hat diese Bundesregierung vier Jahre das Gegenteil getan. Sie hat eine Steuerreform gegen kleine und mittlere Unternehmen verabschiedet. Sie hat mit Ökosteuer, mit Tabaksteuer, mit Versicherungssteuer, mit vielem anderen mehr Verbraucher, Konsumenten, aber auch die Unternehmen in Deutschland belastet und im internationalen Wettbewerb einseitig benachteiligt.

[Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Sie hat bürokratische Belastungen – Scheinselbstständigkeitsgesetz, 630-DM-Gesetz, Betriebsverfassungsgesetz, Recht auf Teilzeit u. a. – in vier Jahren vorgenommen, die nicht dazu beitragen, dass Unternehmen in Deutschland mehr Arbeitsplätze schaffen, sondern dass immer mehr Arbeitsplätze bei uns in Deutschland abgebaut werden. Das Ergebnis ist eindeutig, Deutschland ist Schlusslicht beim Wachstum in Europa, die Arbeitslosigkeit ist mitten im Sommer auf über 4 Millionen Menschen gestiegen, übrigens obwohl 800 000 Arbeitnehmer altersbedingt, also demographisch, aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind. Wenn das nicht geschehen wäre, hätten wir fast 5 Millionen Arbeitslose nach vier Jahren Rot-Grün.

[Zuruf von der CDU: Hört, hört!]

Auch in Berlin ist die Situation sehr Besorgnis erregend. 300 000 Berlinerinnen und Berliner sind ohne Arbeit. Das ist die mit Abstand höchste Zahl seit der deutschen Wiedervereinigung nach 16 Monaten Wowereit.

[Liebich (PDS): Eine Frechheit!]

Mehr als 270 000 Menschen leben von Sozialhilfe. Rückläufige Investitionen, Existenzgründungen, die immer weniger stattfinden, lassen eine Verbesserung der Situation nicht erwarten. Statt dessen haben wir Rekordzahlen bei Insolvenzen, übrigens bei privaten Insolvenzen, mit all den furchtbaren persönlichen Konsequenzen, aber auch bei Insolvenzen gerade von kleinen und mittleren Unternehmen in Berlin. Die Ausbildungssituation in Berlin ist katastrophal. Uns fehlen 7 500 Ausbildungsplätze. Der Senat senkt die Mittel von 15 Millionen $ über 10 Millionen in diesem Jahr auf 8 Milionen, also fast 50 %, im nächsten Jahr.

[Kittelmann (CDU): Unerhört! – Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Wir haben deshalb, meine Damen und Herren von der Koalition, ein Sofortprogramm vorgeschlagen. Wir haben das bereits in der letzten Debatte hier erörtert. Wir haben gesagt: Heben wir die Haushaltssperre auf, damit unsere Handwerker endlich wieder Arbeit kriegen.

[Beifall bei der CDU – Gelächter bei der PDS]

Machen Sie einen Bürokratie-TÜV, schaffen Sie Gesetze ab, befristen Sie neue Gesetze. Liberalisieren Sie endlich die Ladenöffnungszeiten in Berlin.

[Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

Tun Sie alles, damit Berlin die Chancen durch die EU-Osterweiterung wirklich nutzt und gerade bei Logistik und Finanzen, aber auch bei Dienstleistungen die Osterweiterung zu Arbeitsplätzen in Berlin führt. Privatisieren Sie endlich die Berliner Messe, blokkieren Sie diese sinnvolle Privatisierung nicht durch ideologische Vorbehalte.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Zurufe von der PDS]

Und vor allen Dingen, nehmen Sie den Kampf gegen Schwarzarbeit ernsthaft in Angriff, und sorgen Sie durch beschränkte Ausschreibungen und eine andere Vergabepolitik für weniger Arbeitslose im Berliner Handwerk und in der Bauwirtschaft und für mehr Arbeitnehmer aus Berlin auf den Berliner Baustellen.

[Beifall bei der CDU]

Vom Senat hört man stattdessen gar nichts. Das macht die Arbeit in der Opposition schwierig, weil wir uns mit gar nichts auseinander setzen können, sondern wir können nur eigene Vorschläge machen und hoffen, dass Sie diese Vorschläge aufgreifen. [Zurufe von der SPD]

Statt die Hausarbeiten in Berlin zu machen, wollen Sie mit uns heute über ein bundespolitisches Wahlkampfmanöver diskutieren. Das können wir tun, das tun wir auch. Aber unabhängig davon, welche Rolle die Kommission im Bundestagswahlkampf spielt, bin ich in einem sehr sicher, Sie werden durch die bessere Vermittlung und Verwaltung von Stellen nicht mehr Arbeitsplätze schaffen, denn Arbeitsplätze schaffen Unternehmer, schaffen Existenzgründer, schafft insbesondere unser Mittelstand. Dazu steht überhaupt nichts in diesem Hartz-Papier, nicht ein Satz!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Lassen Sie uns die Vorschläge im Einzelnen anschauen. Es wird vorgeschlagen, Arbeitslose sollen in Personalserviceagenturen eingestellt werden. Das bedeutet im Ergebnis Verstaatlichung der Arbeitslosigkeit. Es hilft überhaupt nichts, wenn die Arbeitsverwaltung und damit faktisch der Staat Arbeitslose einstellt. Es ändert sich nichts, wenn ich Arbeitslose umtaufe in Angestellte des Arbeitsamtes und Arbeitslosengeld künftig als Gehalt bezeichne. Dies schafft keinen einzigen Arbeitsplatz. Das ist keine Problemlösung, das ist Planwirtschaft.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Die so genannte Ich-AG macht den Arbeitslosen zum Scheinselbständigen, der mit staatlicher Unterstützung handwerkliche Tätigkeiten und Dienstleistungen ausüben soll.