Protocol of the Session on August 29, 2002

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute sind viele Beiträge mit einem Zitat eröffnet worden. Auch ich will meinen Beitrag mit einem Zitat beginnen.

Wir haben

so heißt in einem Papier der Bürgerrechtsbewegung aus dem letzten Jahr mit dem Titel „Wir haben es satt“ –

in der Revolution von 1989 Kopf und Kragen riskiert, um das verhasste System von Bütteln und Spitzeln der DDR zu überwinden.

Als vor 13 Jahren die Bürgerrechtsbewegungen die Stasi-Zentralen stürmten, konnten sie sich sicherlich schwerlich vorstellen, dass wir heute, 12 Jahre nach der Vereinigung, immer noch darum streiten, ob Mitglieder der Legislative sich ihrer Verantwortung aus dem System der DDR stellen müssen oder sich verweigern können. Zum zweiten Mal in der jüngeren deutschen Geschichte müssen wir uns mit den Verflechtungen, den persönlichen Schicksalen von Menschen auseinandersetzen, die eine aktive Rolle in der Stabilisierung eines untergegangenen Staates darstellten. Wir müssen uns auseinandersetzen mit persönlichen und gesellschaftlichen Aufarbeitungen, mit dem Transfer politischer Verantwortung in eine neue Gesellschaft und den Konsequenzen, die aus der Verantwortung resultieren, mit der Frage, wie in einer Demokratie alte und neue Rolle miteinander vereinbart werden können. Beide Prozesse, so unterschiedlich und zum Teil unvergleichbar auch ihre politischen Ausgangspunkte waren, zeigen doch gleiche Muster: wegducken, einmauern, durchwursteln.

Sie, Frau Schubert, hatten mal in einem Interview in der „Morgenpost“ angeregt, dass zur Aufarbeitung auch der jüngeren deutschen Geschichte die Wahrheitskommission, die zur Überwindung des Apartheidssystems in Südafrika eingesetzt worden war, doch ein gängiges und gutes Modell gewesen sei. Aber ich glaube, dass auch selbst so ein Modell voraussetzt, dass diejenigen, die sich in einem alten System befunden und aktiv bewegt haben, dazu beitragen, dass diese Mauern, die dadurch aufgestellt worden sind, überwunden worden sind und dass vor allen Dingen Kenntnisse und Erfahrungen in einem solchen System und auch in einem solchen Aufarbeitungsprozess vermittelt werden. Wir hatten in dem ersten Aufarbeitungsprozess, den wir nach 1945 miterleben konnten – ich habe ihn jedenfalls bei meinen Eltern noch miterlebt –, feststellen müssen, dass es 23 Jahre gedauert hat, bis sich der Unmut über Verleugnung und Verflechtung Bahn gebrochen hat, und wir haben jetzt zu dieser Zeit noch eine Chance, es schneller zu schaffen, auch wenn viel Zeit vergangen ist. Aber es setzt voraus, dass wir zwei aktive Seiten in einem solchen Prozess haben: die eine, die versucht zu verstehen und vielleicht auch zu verurteilen und zu bewerten, und eine aber auch, die sich der Aufarbeitung stellt. Wer soll denn die Zusammenhänge erklären, wenn nicht diejenigen, die sich aktiv in ihnen bewegt haben? – Allenthalben wird die Spaltung der Stadt in Ost und West zu Recht beklagt. Mir ist allerdings unverständlich, wie die, die am lautesten anprangern, meinen, sie überwinden zu können, wenn ihre eigene individuelle Verantwortung in dem so notwendigen Prozess der Aufarbeitung und des Verstehens hinter einer Mauer der Verweigerung versteckt wird.

[Beifall bei den Grünen]

Sie überwinden damit keine Risse, sie kitten nicht mal Risse zu, sie vertiefen sie damit.

7 Mitglieder dieses Hauses, so teilte der Präsident heute mit, verweigern sich der freiwilligen Überprüfung.

[Cramer (Grüne): Unglaublich!]

(A) (C)

(B) (D)

Wieso machen wir uns eigentlich hier in diesem Hause die Mühe, einstimmig und abgestimmt mit allen Fraktionen ein Verfahren zu verabschieden, wenn einige Abgeordnete meinen, sich durch Verweigerung aus der Verantwortung stehlen zu können?

[Beifall bei den Grünen – Dr. Lindner (FDP): Weil sie gespitzelt haben!]

Alle Seiten müssten doch jetzt mit einem Abstand von 12 Jahren endlich einmal erkennen, dass es nicht darum geht, unabhängig von dem jeweiligen Beitrag, den jeder geleistet hat, mit dem Finger auf jeden zu zeigen, der in Kontakt mit der Stasi stand. Es geht nicht darum, individuelle Schuld zu bewerten oder Strafen zu verhängen, es geht – und das müssen Sie, meine Damen und Herren von der PDS, vielleicht auch einmal für sich akzeptieren auch für diesen Teil – darum, Transparenz herzustellen. Dies gilt für die Aufarbeitung der Stasi- Vergangenheit genauso wie für die Aufarbeitung des Bankenskandals. Es geht darum, Geschichte zu begreifen, es geht darum, der Verdrossenheit der Bevölkerung gegenüber den politischen Institutionen entgegenzuwirken und wirklich, so wie Sie es für sich immer predigen, eine Gesellschaft zu bauen. Aber dazu muss man auch das eigene persönliche Schicksal, glaube ich, mit in die Waagschale werfen.

Der Senat hätte die Chance gehabt, mit der Überprüfung der Senatoren einen ersten Schritt in diese Richtung zu gehen. Aber auch diese Chance ist vergeigt. Statt mit allen Beteiligten die Ergebnisse der Überprüfung zu diskutieren, haben Sie mit durchsichtigen Manövern versucht, die offene Auseinandersetzung darüber zu verhindern.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Meinen Sie, es bleibt verborgen, wenn Sie am 23. Juli in Ihrem Zwischenbericht noch eine Verlängerung der Frist zur Vorlage der Ergebnisse bis zum 30. September verlangen und nach dem Rücktritt von Herrn Gysi plötzlich heute den – wen überrascht es – Persilschein präsentieren?

[Liebich (PDS): Quatsch!]

Sie haben uns Grünen in dem Zusammenhang um die Senatorenüberprüfung immer vorgeworfen, wir hätten mit unseren Vorschlägen zu der Überprüfung versucht, eine Lex Gysi zu schaffen. Aber die, meine Damen und Herren Senatoren, das haben Sie heute mit Ihrem Bericht deutlich gemacht, haben einzig und allein Sie schaffen wollen, und zwar eine Lex pro Gysi.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Ich frage mich, wie diejenigen, die sich verweigern, eigentlich den Mitarbeitern des öffentlichen Diensts diesen Luxus der Verweigerung noch länger erklären wollen. Die Mitarbeiter des öffentlichen Diensts hat es getroffen, und es trifft sie auch heute noch. Sie wurden und werden überprüft, ob sie wollen oder nicht, und bei dem geringsten Verdacht sind sie ihren Job los. Und die Damen und Herren Abgeordneten werden erst gefragt, ob denn die Überprüfung stattfinden darf, und können sich dann auch noch den Luxus erlauben, trotz übereinstimmender Beschlüsse dieses Hauses nein zu sagen.

Wir haben als Abgeordnete eine besondere Vertrauensstellung, die auch besonders geschützt ist. Wir unterliegen besonderen Verschwiegenheitspflichten und -rechten. Wir können über das, was uns Bürgerinnen anvertraut haben, schweigen, wir müssen sogar darüber schweigen. Darauf muss sich aber auch jeder und jede verlassen können. Und deshalb muss auch jeder und jede wissen, wer es mit der Vertrautheit des Wortes nicht so genau genommen hat und mit Geheimdiensten zusammengearbeitet hat, gar Dinge verraten hat. Ich will hier nicht alle Geheimdienste auf eine Stufe stellen. Aber die Arbeitsweisen der Geheimdienste unterscheiden sich wenig, wenn auch die Ziele durchaus andere sind. Deshalb ist es egal, das haben wir in unserem Gesetzesentwurf auch so eingebracht, ob die Zusammenarbeit mit der Stasi, dem BND, dem iranischen oder irakischen Geheimdienst oder auch dem brandenburgischen Verfas

sungsschutz stattgefunden hat. Das interessiert in diesem Zusammenhang. Vielleicht ist es vielen Bürgerinnen und Bürgern egal, aber wissen müssen sie es, um entscheiden zu können, ob sie das notwendige Vertrauen zu denjenigen haben, denen sie sich anvertrauen wollen, denen sie Dinge mitteilen wollen. Uns ist klar, dass hinsichtlich der übrigen Geheimdienste neben der Stasi nicht die Erkenntnisquellen zur Überprüfung vorhanden sind wie hinsichtlich der Stasi. Aber es können auch in anderen Zusammenhängen Tatsachen auftauchen. Wir haben das gerade gesehen. In Brandenburg sind Sachen, die die Presse weitgehend recherchiert hat und die Gegenstand von Untersuchungen waren, sehr schnell hochgekommen. Warum sollen nicht auch Abgeordnete in solch eine Sache verwickelt gewesen sein und diese Verwicklung Bedeutung im Zusammenhang mit der Vertrautheit, die Bürger den Abgeordneten entgegenbringen, haben? Es können diese Tatsachen auftauchen. In einem solchen Fall muss der Ehrenrat, der hier das Gremium ist, das sich mit diesen Angelegenheiten beschäftigen soll, auch Handlungsmöglichkeiten haben.

Es ist peinlich, dass trotz dieser übereinstimmenden Beschlüsse die freiwillige Überprüfung nicht zu klappen scheint. Deshalb haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf – übrigens dem 15. und nicht dem 13., wie es fälschlicherweise in der Vorlage heißt – versucht, ein Verfahren zu implementieren, das es möglich macht, bei Vorliegen hinreichender Verdachtsmomente und offenkundiger Anknüpfungstatsachen die Möglichkeit zu schaffen, dass der Ehrenrat, der hier als das berufene Gremium agieren soll, auch gegen den Willen der Betroffenen Auskünfte einholen und sich mit diesen Vorgängen befassen kann.

Dieser Entwurf orientiert sich an der entsprechenden Bundesregelung. Im Bundestag ist es das Abgeordnetengesetz, das in § 44 b eine ähnliche, zum Teil gleichlautende Regelung vorsieht. Es zeigt sich auch da, dass es immer wieder notwendig ist, bei Auftauchen von Tatsachen zu agieren und die Überprüfung einzuleiten und auch eine gesetzliche Grundlage dafür zu haben, um die notwendigen Daten, die erhoben und entgegengenommen werden müssen, auszuwerten und sie in einer adäquaten Art und Weise zu überprüfen. Wesentliche Aussage in diesem Bezug ist, dass diese Regelung bereits Gegenstand von verfassungsrechtlichen Entscheidungen gewesen ist und vom Bundesverfassungsgericht auch als verfassungskonform angesehen wurde.

Berlin ist auch 12 Jahre nach der Einheit in weiten Bereichen eine geteilte Stadt. Das beginnt bei den unterschiedlichen Arbeitszeiten in Ost und West für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und endet nicht zuletzt bei einer neu zu erkennenden Fixierung von Jugendlichen auf die jeweilige Stadthälfte, aus der sie stammen. Wer aber tatsächlich die innere Einheit der Stadt schaffen will, muss handeln. Wenn es, wie hier, in diesem Zusammenhang nicht freiwillig geht, bei Verdacht letztendlich auch ohne Zustimmung! – Danke!

[Beifall bei den Grünen und der CDU]

Vielen Dank, Herr Kollege Ratzmann! – Für die SPD hat das Wort der Herr Kollege Benneter. – Entschuldigung! Herr Dr. Lindner hat einen Antrag zur Geschäftsordnung!

Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, dass, während wir über dieses Thema sprechen, nicht ein einziger Senator der PDS anwesend ist. Ich beantrage Sitzungsunterbrechung, bis wenigstens die P D S - S e n a t o r e n wieder auf der Bank sitzen.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Zuruf des Abg. Benneter (SPD)]

Ist das ein weiterer Antrag, Herr Kollege Benneter?

(A) (C)

(B) (D)

Der Antrag ist gestellt. – Wer zunächst für den Antrag des Herrn Dr. Lindner ist, gebe ein Zeichen! – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das erste war die Mehrheit. – Jetzt kommt der Kollege Benneter mit einem Antrag?

[Benneter (SPD): Ich hatte einen weitergehenden Antrag gestellt!]

Die Sitzung ist unterbrochen bis zum Erscheinen der Senatoren.

[Unterbrechung der Sitzung von 19.44 Uhr bis 19.47 Uhr]

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir fahren fort in der Sitzung. – Das Wort hat nach unserer Wortmeldungsliste der Kollege Benneter. – Bitte schön!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein weitergehender Geschäftsordnungsantrag bezog sich darauf, dass ich es wirklich für eine Ungeheuerlichkeit halte, dass die PDSSenatorinnen und PDS-Senatoren unter eine Art Generalverdacht von Ihnen, Herr Dr. Lindner, gestellt worden sind!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Hier geht es um eine Änderung des Landesabgeordnetengesetzes. Insofern weiß ich nicht, warum hier überhaupt die gesamte Senatsbank vollständig anwesend sein muss, um dies unter uns diskutieren zu können.

Herr Ratzmann, ich möchte zu Ihren Argumenten kommen. Sie haben hier vieles vorgetragen, wofür ich auch viel Verständnis habe. Dies alles verträgt sich aber nicht mit meiner Vorstellung, auch nicht mit der Vorstellung meiner Fraktion vom freien Mandat, das wir hier auszuüben haben und das wir ausüben. Gerade in diesem Kontext mit dem freien Mandat hat sich dieses Abgeordnetenhaus auch auf Ihren Antrag hin – wenn Sie sich richtig erinnern – im Januar dieses Jahres eine entsprechende Ordnung gegeben und ein Ehrenratsverfahren bis in alle Details bestimmt, das ausreichen sollte und ausreichen muss und das mit unserer Vorstellung vom freien Mandat vereinbar ist.

Diesen Grundsatz des freien Mandats sollten gerade Sie, Herr Ratzmann, besonders hoch halten. Er bedeutet, dass nicht nur die Ausübung dieses Mandats nicht unzulässig beeinflusst werden darf. Dieses freie Mandat wird auch in seinem gesamten Bestand gegen jeden unfreiwilligen Verlust gesichert, wenn Sie sich die entsprechende verfassungsrechtliche Kommentierung dazu ansehen.

[Wieland (Grüne): Die kennen wir! Die beantragen wir auch nicht!]

Es ist keine Abberufung möglich.

[Wieland (Grüne): Reden Sie zum Thema!]

Ich komme schon dazu, Herr Kollege! Herr Kollege Wieland, nun gedulden Sie sich! Ich wollte Sie nur noch einmal darauf hinweisen, welche wesentlichen Grundsätze das freie Mandat ausmachen. – Wir alle wissen, dass die Ausnahmesituation vom Wechsel DDR zur Bundesrepublik, von Diktatur zu demokratischen Verhältnissen auch vom Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise dazu erkoren war, hier die Legitimation von Abgeordneten gegebenenfalls in Frage stellen zu können, allerdings nur unter ganz eingeschränkten Voraussetzungen. Diese eingeschränkten Voraussetzungen hat der Bundestag sich vor zehn Jahren gegeben, und das Berliner Abgeordnetenhaus hat es immer für richtig gehalten – auch mit Ihrer Unterstützung, auf Ihren Antrag hin, wenn Sie sich erinnern –, hier ein anderes, ein freiwilliges Ehrenratsverfahren durchzuführen, was mit dem freien Mandat zu vereinbaren ist. Die Verfahrensregeln, die Beteiligungsrechte, auch die abschließenden Verfahrensfeststellungen, all dies ist in unserer Entscheidung zum Ehrenrat im Einzelnen abgesichert und abgestimmt. Insoweit schützt das Verfahren, das wir hier eingerichtet haben, auch den Abgeordnetenstatus. Darauf sollten auch Sie, die Bündnisgrünen, großen Wert legen.

[Wieland (Grüne): Darauf kommt es ja gar nicht an!]

Das Berliner Abgeordnetenhaus ist damit jedenfalls immer gut gefahren, und in den Fällen, in denen es aus den Erkenntnissen über die Stasi-Überprüfungen dann zu Vorhaltungen gegenüber Abgeordneten gekommen ist, hat es seine entsprechenden Wirkungen gezeigt. Einen moralischen Druck kann man durchaus ausüben, und den üben wir auch mit dem freiwilligen Ehrengerichtsverfahren aus. Ich halte es durchaus auch für angebracht, dass die sieben Abgeordneten, die sich bisher einer solchen freiwilligen Überprüfung nicht unterziehen wollen – aus Schlamperei oder aber aus grundsätzlichen Erwägungen –, jedenfalls auch genannt werden können, dass damit aber dann die Zwangsmöglichkeiten beendet sind, die auf solche Abgeordneten ausgeübt werden sollen.

Herr Kollege Ratzmann! Sie werden mit diesem neuerlichen Antrag, mit einer zwangsweisen Stasi-Überprüfung, die Bedeutungslosigkeit der Bürgerrechtsbewegung nicht rückgängig machen können. Das ist nun mal so. Das ist eine Tragik dieser Bewegung.