Protocol of the Session on November 29, 2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie recht herzlich zur konstituierenden Sitzung der 15. Legislaturperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin.

Ich begrüße insbesondere unsere Ehrengäste, altgediente Parlamentarier sowie die anwesenden Stadtältesten von Berlin.

Wir haben auch ein Geburtstagskind unter uns. Zum heutigen G e b u r t s t a g g r a t u l i e r e ich ganz herzlich F r a u S e n a t o r i n J u l i a n e F r e i f r a u v o n F r i e s e n.

[Allgemeiner Beifall]

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Nach Artikel 54 Abs. 5 Satz 2 der Verfassung von Berlin tritt das Abgeordnetenhaus unter dem Vorsitz des ältesten Mitglieds des Hauses zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Mein Name ist Dr. Wolfgang Jungnickel. Ich wurde am 30. April 1928 geboren und frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das älter ist als ich. Wer traut sich? – Das ist nicht der Fall. Dann werde ich das Amt des Alterspräsidenten wahrnehmen.

Ich eröffne hiermit die 1. Sitzung der 15. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von Berlin.

Meine Damen und Herren! Alterspräsident zu sein ist ein Privileg und kein Verdienst. Und da es sich erübrigt, diesen Menschen durch Wahl zu inaugurieren, auch keine besonderen Kenntnisse nachgewiesen werden müssen, scheint das hier geübte Verfahren das beste zu sein.

[Heiterkeit links]

Dem Alterspräsidenten kann die kurzlebige Existenz seines Amtes auch zugemutet werden,

[Heiterkeit links]

und man ist, in der Annahme, es sei gefahrlos, geneigt, hinzunehmen, ihm eine hochpolitische Freiheit zuzugestehen, das Recht auf eine unkontrollierte Rede.

Früher, als man das Gebot des 11. 11. noch ernst nahm, wurden die zum Tode Verurteilten in die Bütt gestellt, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich frei zu reden. In der Politik ist das anders. Nur wer sich, trotz aller politischen Erfahrung, über die Risiken hinwegsetzt, von der Freiheit der Rede Gebrauch zu machen, obwohl er ja damit rechnen muss, am Leben zu bleiben, hat die Chance, diese schnell wieder dahin scheidende Phase einer Alterspräsidenlegislatur beim Schopfe zu packen, was hiermit geschehen soll.

Nun beginnt meine Rede.

[Heiterkeit]

Sie rückt Kulturpolitik in den Vordergrund. Und weil Kultur allgemein und die Zuordnung der Künste hinein in eine politische Gesellschaft keineswegs so ohne weiteres positiv miteinander korrespondieren und der Streit um Kultur und das weit verbreitete Ressentiment gegenüber den Künsten, insbesondere den zeitgenössischen, so spannungsgeladen sein kann und ist, dass Auseinandersetzungen in Fragen der Ästhetik und der politischen Kultur derart kontrovers werden können, dass sie in eine Art Kulturkampf einmünden, der seine Ursache im Verlust oder in der Abwesenheit von Verständnis und Einsicht in die Notwendigkeit von Kultur und der Bedeutung der Künste als vorantreibende Kraft hat, wobei doch die Künste schon des Öfteren, avantgardistisch, den entstehenden Denkstrukturen unbemerkt vorausliefen. Deshalb drohen viele Menschen aus Furcht vor neuen Entwicklungen, der Gefahr zu unterliegen, sich rückwärts gewandt zu orientieren, um in vorgeprägtem und überliefertem Schablonendenken Zuflucht zu suchen.

Politik geht derzeit, wie wir alle wissen, im Großen und Ganzen davon aus, dass kulturelle, politische, wirtschaftliche und auch gesellschaftliche Probleme nur in einer wie auch immer gearteten liberalen Gesellschaft zu lösen sind, und man spürt,

dass Politik zunehmend danach beurteilt wird, auf welch ein soziales und kulturelles Niveau sie sich einpendelt und wie es dem schwächsten seiner Mitglieder ergeht, und dass Politik geistige, humanitäre und materielle Armut nicht hinnehmen darf.

Der gegenwärtige Zustand signalisiert anderes und löst bei vielen Menschen Ratlosigkeit aus.

Es sind jedoch derzeit kaum akzeptable Denkmodelle in der politischen Diskussion, die eine wirkliche Weiterentwicklung der Gesellschaft mit ausreichenden und größer werdenden Freiräumen und einem Gewinn an sozialer Sicherheit gewährleisten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Kultur, Menschen- und Bürgerrechte, Solidargemeinschaft und die Freiheiten, wirtschaftliche eingeschlossen, scheinen in ihrer Abhängigkeit voneinander unmerklich, theoretisch und praktisch, zu verschmelzen. Diese Entwicklung ist zwingend, ihre Unumkehrbarkeit jedoch längst noch nicht gesichert. Dabei ist der Erfolg dieser Entwicklung von existentieller Bedeutung, denn das Nichterreichen oder der Verlust dieser sich immer noch weiter bildenden Gesamtheit würde früher oder später zu Verwerfungen führen, auch revolutionären, und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur aus ideologischen und fundamentalistischen Gründen, sondern auch aus Unsicherheit und dem Verlust von Hoffnung.

Sollte es nicht gelingen, mit den Hilfsmitteln der Politik Freiräume zu erhalten und neue zu schaffen, hätte eine liberale Gesellschaft auf Dauer keine Chance. Dann wäre Kritik in einem direkten Bezug zur sozialen und kulturellen Gesamtsituation angezeigt, die Reformen nach sich ziehen müsste. Und sollte Politik ursächlich Arbeitslosigkeit, Minderung von Wohlstand und allmählich sich ausbreitende Verarmung zur Folge haben, dann wäre diese Politik falsch, dann würden Gefahren heraufbeschworen, die sich verselbständigen können.

Wenn in verschiedenen politischen Lagern, völlig zu Recht, die soziale Marktwirtschaft angemahnt wird, dann wäre man gut beraten, bei ihrer Weiterentwicklung zu versuchen, an die Hochblüte ihrer Erfolge anzuknüpfen und der Neigung zu widerstreben, sie nach den Gesetzen der Vorteilsuche so zu modellieren, bis sie partiellen Interessen und ideologischen Zweckmäßigkeitserwägungen entspricht, und nicht den Versuch zu unternehmen, den Schwachen in irgendeine Kategorie des Versagens hineinzuinterpretieren.

Hier ist beizeiten gegenzusteuern, in die Zukunft hinein zu projizieren und kreativ neu zu gestalten.

Dazu gehört u. a. – beispielhaft auf die Kulturpolitik bezogen –, das Bewusstsein dafür zu schärfen und den politischen Willen zu entwickeln, dass Kulturpolitik, Forschung und Wissenschaften eingeschlossen, in Zukunft eine hervorgehobene und unabhängige Rolle spielen muss.

[Beifall der Frau Abg. Ströver (Grüne)]

Die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes Berlin werden sich nur längerfristig spürbar verbessern lassen, ihre kulturellen dagegen sind unmittelbar und real verfügbar, und sie sind in ihrer Fülle und auch in ihrer qualitativen Substanz sichtbarer zu machen und in einen anderen politischen Kontext zu stellen.

Es bedarf allerdings in den politischen Hierarchien eines gravierenden Umdenkprozesses, um aus dem kulturellen Potential für das Land Berlin optimale Wirkungen zu erzielen.

Kultur und Kulturpolitik müssen für Berlin in Zukunft der antreibende Motor werden. Man sollte sich beizeiten mit dem Gedanken befreunden, dass auf längere Sicht der Kulturetat innerhalb des Berliner Haushalts prozentual wesentlich erhöht werden muss. Ohne wirksame Investitionen in einen Entwicklungsprozess, der das Land Berlin voranbringen soll, wird es keine nennenswerten Erfolge geben.

[Beifall bei der SPD, der CDU, der PDS und den Grünen]

Die Notwendigkeit, Umorganisationen sowie Änderungen der Gewichtungen vorzunehmen, soweit sich das politisch verantworten lässt, bleibt davon unberührt.

(A) (C)

(B) (D)

Alterspräsident Dr. Jungnickel

Die immer wieder eingeforderte, aber nicht ausreichend wahrgenommene Kulturhoheit der Länder, die vielfältigen Teilzuständigkeiten der unterschiedlichsten Institutionen sowohl auf Bundes- und Landesebene als auch in zwischenstaatlichen Bereichen, die gleichzeitige Behinderung und Beschränkung privater Initiativen, das Buhlen um Einflussnahme seitens des Bundes bei Gewährung von notwendigen Hilfeleistungen für das Land Berlin, der fehlende Schwung durch gesetzliche Maßnahmen, z. B. durch Modernisierung des Stiftungsrechts, die erfreulicherweise gerade in Gang gekommen zu sein scheint und der dazugehörigen Regularien und vieles mehr, haben kulturelle Bereiche z. T. erheblich geschwächt, oft bis zum Verlust ihrer Existenz.

In Zeiten üppiger Geldflüsse blieb diese Entwicklung zwar nicht unbemerkt, fiel jedoch vordergründig nicht ins Gewicht und wurde durch Kompensation verdrängt. Jetzt sind die entstandenen Mängel durch Hinwegschmelzen der Ressourcen offensichtlich geworden und bedrohen kulturelle Einrichtungen auf unterschiedliche Weise.

Es muss davon ausgegangen werden, dass, wenn so weiter verfahren wird wie bisher, die kulturellen Belange zunehmend gefährdet sein werden, insbesondere dann, wenn sie nicht zu kommerzialisieren oder zu instrumentalisieren sind.

Dabei sind kulturelle Äußerungen und Sehnsüchte alles andere als schnöde Unterhaltung oder bildungsbürgerlicher Schnickschnack und das Betreiben kultureller Übungen mehr als das Töten von Langeweile.

Man kann nicht allerorts von Werten reden, die man angeblich zu erhalten und zu verteidigen trachtet, ohne sie schaffen zu wollen und ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass man es hier mit einem kaum zu beschreibenden Gesamtraster einer Unsumme von Einzelpersönlichkeitswerten zu tun hat, die über eine Lebensspanne hinweg wachsen müssen und gepflegt sein wollen, um nicht wieder zu veröden.

Kulturpolitik ist ein heikles Unterfangen. Sie erfordert Gestaltungskraft und in gewisser Weise Machtverzicht. Da sie kreativ mithelfen, begleiten und fördern soll, bedarf sie jedoch starker Persönlichkeiten – eigentlich ein Unikum in der politischen Landschaft; denn das Ausüben von Politik impliziert Streben nach Machtgewinn, und das verbietet sich hier weitgehend.

Kulturpolitik wird deshalb von Machtheischenden viel zu oft ignoriert und unterschätzt oder missbraucht, mit Desinteresse bedacht oder, wenn nicht vermeidbar, als politisches Beiwerk respektiert, insbesondere, wenn sich Kulturpolitik als politisch nutzbringend oder politisch verwendbar erweist. Dann wird sie unter Umständen sogar gemocht.

Aber etwas unausrottbar Positives hält Kulturpolitik und Kulturpolitiker am Leben: das hilfreiche Grundgesetz und das nicht hinweg zu manipulierende Gefühl politischer Akteure, dass sie, die Kulturpolitik, irgendwie wichtig zu sein scheint.

Wegen der Fülle komplizierter Zwänge scheint Kulturpolitik daraufhin angelegt zu sein – und hier wird jetzt absichtlich etwas übertrieben –, entweder einfach so vor sich hinzuwuchern oder von Übereifrigen in einen Scherbenhaufen verwandelt zu werden. Gelegentlich wird die Kulturpolitik auch von Rambos heimgesucht, die den Stier bei den Hörnern zu packen suchen, oder von einer besonderen Spezies Starshooter, für die zwar nicht alles Musical ist oder Revue, doch irgendwie Immobilie oder anderweitig verwertbar, die auf den Irr-Sinn der Platzausnutzung – wie beim TV auf die Einschaltquote – als Messzahl starren, in der fehlgeleiteten Annahme, auf diese Weise auch künstlerische Qualität oder kulturellen Bedarf nachweisen zu können.

Es ist mit der Kultur ziemlich verflixt. Je tiefer man darin versinkt, um so weniger ersäuft man. Ein Chaos. Eine Wüste voller Kreativzellen. Deren Herkunft kennt man nicht so genau und deren Ziele noch viel weniger. Und wie es Chaos so an sich hat – das eine, vielleicht das meiste sogar, verglüht und wird zu Schrott, das andere aber, das wächst vor sich hin wie Urschlamm. Und da fängt die Sache an, brenzlig zu werden, denn in diesem Moment, wo dieser Urschlamm sich zu erkennen gibt, wird der Pfennig auf die Goldwaage gelegt, um alles zu verhindern.

Und in dieses Chaos soll und will die Kulturpolitik springen, um sich die Finger zu verbrennen oder – etwas milder ausgedrückt – Kulturlandschaft zu pflegen. Und damit betreten wir das mit Fußangeln und Tretminen angereicherte Terrain und kommen zur Sache.

Was soll die Kulturpolitik machen und was darf sie nicht? – Zunächst einmal so viel wie irgend möglich private Initiativen fördern und mit unternehmerischer Fantasie die kulturellen Potentiale optimal zur Wirkung bringen und für die Alimentation der ihr in Obhut gegebenen kulturellen Einrichtungen weitgehend Sorge tragen. Dann, bei der Verteilung der Mittel, soll sie versuchen, möglichst kreativ zu sein und sich weder wie eine Kulturkammer zu gebärden und einzumischen noch den Zensor zu spielen. Sie soll versuchen, Selbstbestimmung zu respektieren und Freiheiten in Kunst, Forschung und Wissenschaften nicht nur verbal zu garantieren, sondern auch zu üben, und ein Feeling dafür zu entwickeln, wo das Risiko einzugehen ist, Entwicklungen zu fördern. Auch soll sie versuchen, das Gespür dafür zu kultivieren, Überkommenes nicht am Überleben zu hindern, nur weil es gerade nicht in Mode ist.

Mit anderen Worten: Kulturpolitik soll versuchen, das Instrument Haushalt im Kulturbereich mit äußerster Sensibilität zu handhaben, sich primär an Inhalten und Sachfragen entlang zu orientieren und erst dann das Zahlenwerk sprechen zu lassen, und die Lust zu verdrängen, mal so richtig und möglichst immer öfter Porzellan zu zerschlagen. Und dann soll sie natürlich versuchen, die schon erwähnten Vorbereitungen zu treffen, damit private Initiativen nicht nur gefördert, sondern Politik nachhaltig animiert und privates Engagement ermutigt, selbst umsetzbare Fantasien zu entwickeln.

Kulturpolitik und damit auch der Kulturetat, für den dieses Haus die Verantwortung trägt, gehören deshalb in die erste Reihe politischer und kulturpolitischer Überlegungen und Handlungsabsichten, auch dann, wenn die kulturellen und die künstlerischen Äußerungen kreativer Menschen sich nicht mit der wirtschaftlichen Erfolgserwartung oder einer Mehrheitsmeinung in Einklang bringen lassen und da und dort die entsprechenden Ressourcen erst geschaffen und politisch gewollt werden müssen.

Es wird notwendig sein, durch kontinuierliches Fördern der Künste, zu Gunsten der Stadt, eine Sogwirkung zu erzielen, um Menschen aus der ganzen Welt viel stärker als bisher anzulokken.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS und der FDP]

Es ist ferner zwingend, das Stiftungs- und Spendenrecht entsprechend zu revolutionieren, um die erwünschten Freiräume entstehen zu lassen. Dazu gehört auch ein Aufruf an alle Bürger, bei ihrem Spendenverhalten kulturelle Zwecke verstärkt in ihre Überlegungen mit einzubeziehen, denn ohne das Engagement aller, zumindest aller kulturinteressierten, Menschen und Institutionen kann Berlin nicht das angestrebte Niveau erreichen.