II. Lesung der Vorlage – zur Beschlussfassung – über Viertes Gesetz zur Änderung des Allgemeinen Zuständigkeitsgesetzes, Drucksache 14/845, gemäß Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Immunität und Geschäftsordnung vom 11. Januar 2001
Ich eröffne die II. Lesung und schlage vor, die Einzelberatung der zwei Artikel miteinander zu verbinden. – Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Ich rufe auf Artikel I und II, die Überschrift und die Einleitung im Wortlaut der Vorlage mit der Drucksachennummer 14/845. Der Ausschuss empfiehlt einstimmig, bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD, die Annahme der Gesetzesänderung. Eine Beratung ist nicht vorgesehen. Ich schließe deshalb die Einzelberatung und verbinde die Einzelabstimmungen mit der Schlussabstimmung.
Wer dem Vierten Gesetz zur Änderung des Allgemeinen Zuständigkeitsgesetzes im Wortlaut der Vorlage mit der Drucksachennummer 14/845 seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich jetzt um das Handzeichen! – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Beides sehe ich nicht, damit ist das Gesetz einstimmig so beschlossen.
Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Jugend, Familie, Schule und Sport vom 9. November 2000 und des Hauptausschusses vom 22. November 1999, zum Antrag der Fraktion der PDS über Fortführung des „Produktiven Lernens an Berliner Schulen (PLEBS)“, Drucksache 14/768
Der Ältestenrat empfiehlt eine Redezeit von bis zu fünf Minuten pro Fraktion. Nach den Wortmeldungen beginnt die Fraktion der PDS. Herr Brauer, Sie haben das Wort!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1996 begleitet das Institut für Produktives Lernen in Europa einen überaus erfolgreichen Schulversuch an der Berliner Schule. Für das Jahr 2001 wurden dem Institut aber die Mittel um knapp 50 % zugunsten eines neuen Trägers gekürzt. Der Senat entschied, dass dies ausgerechnet zulasten der Sonderschulprojekte gehen soll. Am 9. November 2000 waren betroffene Schüler zu Gast im Schulausschuss, anschließend schrieben sie uns: „Von uns Schülern war kaum die Rede. Und wir haben gedacht, dass es da um uns gehen sollte.“ Es geht nur um die Schüler. Deshalb nur kurz zu den Argumenten des Schulsenators.
Er erklärte erstens, dass Projekt „wäre gerade an den Sonderschulen nicht sehr erfolgreich gewesen“. Richtig ist dagegen: 98 Prozent der Schülerinnen und Schüler der 9. Klassen an den Sonderschulstandorten hatten zum letzten Schuljahresende eine stabile Anschlussperspektive, von denen der 10. Klassen waren es 97 Prozent, und 95 Prozent erreichten den einfachen Hauptschulabschluss. Auf Grund dieser Erfolgsquote bewerben sich
50 bis 100 Prozent mehr junge Leute für diese Projekte, als Plätze zur Verfügung stehen. Herr Böger, das dürfte sogar Ihnen bekannt sein.
Zweitens: Mit der Entscheidung, „Produktives Lernen“ an den Sonderschulen nicht mehr weiterzuführen, sollte – wieder Originalton Böger – „Trägervielfalt hergestellt“ werden. Aber: Der neue Träger setzt „Produktives Lernen“ nicht fort. Trägervielfalt mit einem einzigen Träger, welch heilige Einfalt, Herr Senator, muten Sie uns zu?
Drittens: Der Senator erklärte, ESF-Mittel seien nur über einen befristeten Zeitraum einsetzbar. Dem widerspricht sogar die Europäische Kommission, ich darf zitieren: „Es gibt keine definitive zeitliche Begrenzung für eine ESF-Förderung von Bildungsprojekten.“ Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Verwaltung hinsichtlich Fördermittelverwendung von erschütternder Unkenntnis befallen ist. Herr Böger, ich stelle Ihnen gern das Schreiben aus dem Hause Schreyer vom 27. November 2000 zur internen Weiterbildung zur Verfügung.
Viertens: Am 26. Oktober 2000 erklärten Sie, dass der neue Träger ASIG das Projekt Schülerfirmen an bis zu zehn Standorten d u r c h f ü h r e n wird. Kollegen Mutlu teilten Sie am 9. November 2000 mit, dass ASIG am 1. Januar 2001 an diesen Schulen Schülerfirmen e r ö f f n e n wird. Als der Träger sich Anfang Dezember bequemte, mit den Schulen zu sprechen, war er weder über deren Projektansatz informiert, noch wusste er Bescheid über Inhalt und Umfang bereits existierender Schülerfirmen. Seine Konsequenz lautete: Wir übernehmen gar nichts, wir machen neue Firmen auf. Bis heute ist allerdings nichts eröffnet, und für solche potemkinschen Dörfer verschleudern Sie 2,3 Millionen DM.
Fünftens: Das notwendige Personal steht nicht bereit. ASIG sucht verzweifelt per Annonce geeignete Mitarbeiter. Diese sollten, ich zitiere wieder, „nach Möglichkeit an Betriebe der freien Wirtschaft angebunden werden“. Ergebnis dieses hilflosen Herumstocherns ist, dass die guten Beziehungen zwischen den Schulversuchsteilnehmern und vor allen der mittelständischen Wirtschaft zu Bruch gehen. Die berufliche Orientierung einschließlich der gefundenen Vermittlungswege sonst kaum vermittelbarer junger Menschen wird aufgegeben. Worin hierbei die Kontinuität liegen soll, wissen die Götter. Momentan ist es noch möglich, Projekte bis Schuljahresende weiterzuführen, danach ist Schluss an den Sonderschulen.
Durch die brutalen Kürzungen der bezirklichen Globalsummen kann zum Beispiel die Lernwerkstatt Hellersdorf ihr Angebot nicht mehr aufrecht erhalten. Dort wird genau den jungen Menschen eine Berufs- und Lebensperspektive vermittelt, derentwegen immer wieder gutgemeinte, teure, aber vielfach hilflose Sonderprogramme gegen Rechts aufgelegt werden. Auch hier hat PLEBS praktische Erfolge. Ich zitiere aus einem Schreiben eines Pariser Lyzeums an den Regierenden Bürgermeister:
Einige Tage vor der Abfahrt nach Paris stellten sich einige Berliner Jugendliche die Frage, welche Waffen sie zu ihrer Verteidigung mitnehmen müssten. Die jungen Leute waren zuvor noch nie in einem fremden Land gewesen. Die Erfahrung dieses Treffens veränderte ihre Meinung derart, dass sie am Ende der Woche über diese Befürchtungen nur noch lachen konnten.
Sie können sicherlich verstehen, welchen Reichtum diese in Europa einzigartige Referenz darstellt. Berlin war und ist Vorreiter in Europa, und es wäre schade, das zu zerstören, was in geduldiger Arbeit mit Erfolg aufgebaut wurde.
Hatten die Abgeordneten überhaupt eine richtige Ahnung, worüber sie da genau entscheiden sollten? Da waren wir uns nicht ganz so sicher. Jedenfalls wurde der Antrag abgelehnt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es geht nicht um zusätzliche Mittel. Es geht um ein Stück praktischen Humanismus, es geht darum, dass junge Menschen, die zu den schwächsten der Gesellschaft gehören, die ansonsten programmierte Verliererstraße gar nicht erst betreten müssen. Brechen Sie bitte einen der innovativsten Schulversuche in Berlin nicht vorzeitig in wichtigen Teilen ab. Stimmen Sie bitte unserem Antrag zu. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Vielen Dank Herr Brauer! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Stefan Schlede das Wort!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, es ebenfalls relativ schlagwortartig zu machen, Herr Brauer, und Ihnen damit teilweise auch zu begegnen.
Erstens: Das „Produktive Lernen“ als Schulversuch wird in Berlin nicht aufgegeben. Allerdings werden die Aufwendungen für diesen Schulversuch im Rahmen der europäischen Fördermittel von 5,2 Millionen DM auf 2,7 Millionen DM reduziert, im Laufe dieses Haushaltsjahres, beginnend tatsächlich mit den Versuchen an der Sonderschule. Es ist nicht so, dass sich niemand damit beschäftigt hätte, was im Rahmen dieses Schulversuchs tatsächlich Wertvolles geleistet worden wäre. Richtig ist aber auch, Herr Brauer, dass die Schulverwaltung – und hier hat sie die Unterstützung der großen Koalition – nach Alternativen suchen musste und wird, weil sie voraussehen kann, dass leider dieser Schulversuch im Rahmen der Regelfinanzierung des Landes Berlin nicht umsetzbar erscheint. Es gibt im Land Berlin derzeit keine 5,2 Millionen DM, um diesen Schulversuch – das war die Intention der Initiatoren dieses Versuchs – in die Regelfinanzierung zu überführen. Was an sich auch sinnvoll wäre, das ist gar nicht zu bestreiten, aber leider finanziell nicht möglich ist. Ich halte es deshalb nicht für falsch, auf der einen Seite das „Produktive Lernen“ für weitere zwei Jahre in seiner Arbeit fortzusetzen, in diesem Fall konzentriert auf die Hauptschule – wo wir übrigens auch eine entsprechend betreuungsbedürftige Klientel haben –, aber gleichzeitig eine neue Form zu versuchen, übrigens auch mit weiteren Geldern aus ESF und für längere Zeiträume, und zwar über den Aspekt, Schülerfirmen zu gründen. ASIG ist in diesem Fall eine Einrichtung, die Neuland betritt. Ihr muss man die Gehversuche zubilligen, die auch das „Produktive Lernen“ gebraucht hat, die sind auch nicht gleich wie Deus ex machina auf dem Markt gewesen, sondern haben sich entwickeln müssen und haben sich fraglos positiv entwickelt.
Herr Brauer, ich halte es für eine sinnvolle Maßnahme der Schulverwaltung, sowohl „Produktives Lernen“ – ich komme gleich noch zu einer Beurteilung des Ganzen durch die Freie Universität – fortzusetzen als Schülerfirmen in Angriff zu nehmen, so dass diese beiden nebeneinander stehen. Ich halte es längerfristig für sinnvoll, dass das „Produktive Lernen“ in Teilaspekten in Regelfinanzierung übernommen wird, darüber werden wir in zwei Jahren sprechen müssen, neben der Einrichtung von Schülerfirmen, die sich bewährt haben.
Die Kontinuität ist sicherlich gut für den pädagogischen Bereich, aber nicht das allein selig machende Element. Wir müssen auch neue, kreative Formen finden, um den Problemen zu begegnen. Ich möchte – mit Genehmigung des Präsidenten – das zitieren, was Pädagogen der Freien Universität – fraglos in relativ kurzer Form – hierzu gesagt haben:
Überregional existieren zahlreiche Modelle, um den Übergang von der Schule in den Beruf zu optimieren. Von einer Bildungsphase zwischen Schule und Beruf sollte allerdings abgesehen werden, da sie den gesamten Bildungsprozess unnötig verlängert und die Konfrontation der Jugendlichen, ganz im Gegensatz zu den Intentionen des Modellversuchs, in eine Scheinberufswelt verlagern würde. Deshalb ist Modellen grundsätzlich der Vorzug zu geben, die in Zusammenarbeit mit Dienstleistungs- und Produktionsbetrieben und kleinen und mittelständischen Unterneh
men Wege finden, die die berufliche Wirklichkeit in der Schulzeit rechtzeitig erfahrbar machen. Ein von mir betreuter Schulversuch in Bayern zeigt, dass mit dem dort favorisierten Modell der Praxisklassen bereits im ersten Jahr erstaunliche Erfahrungen gemacht werden.
Ich zitiere dies hier, weil es unter anderem ausschlaggebend war für unser Votum, zu sagen, Produktives Lernen ist eine attraktive Erscheinung in der Berliner Schullandschaft in der Gelenkfunktion zwischen Schule und Beruf. Aber es gibt auch Alternativen, und wir würden gern ausprobieren, ob diese Alternativen auf Dauer nicht mindestens so wirksam sind, auch für die Sonderschulen, und haben deswegen ASIG eine Chance gegeben. Ich gehe mit Ihnen konform darin, dass wir spätestens in einem Jahr zu überprüfen haben, ob sie ihrem Auftrag gerecht werden – unter dem Stichwort Schülerfirmen die Schüler an die Berufswelt heranzuführen – und ob sie sich in einer inhaltlichen Konkurrenz, was den Erfolg angeht, mit dem Produktiven Lernen messen können. – Schönen Dank!
Vielen Dank, Herr Schlede, für Ihren Beitrag! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Herr Mutlu nun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Übergangsphase zwischen Schule und Beruf ist in den letzten Jahren verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Lehrstellenmangel und Probleme mit dem Lernen in der Schule markieren zwei zentrale Punkte dieser Diskussion. Hier genau setzt der seit 1996 laufende Schulversuch des Produktiven Lernens an. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Schulversuch belegen, dass vor allem schulmüde Jugendliche nicht nur zu neuem Lernen motiviert werden und dadurch die Gefahr des Sitzenbleibens bis hin zu Schulverweigerung gebannt wird, sondern diese Jugendlichen werden auf Grund der erzielten Schulabschlüsse und der beruflichen Anschlussperspektiven für die Gesellschaft gewonnen. Insofern ist das Produktive Lernen als ein präventiver reformpädagogischer Ansatz, der sich nicht nur einseitig an die Marktinteressen richtet, sondern an den Interessen und Erfahrungen der Jugendlichen ausrichtet, eine sehr sinnvolle Zukunftsinvestition, auch im Hinblick auf die berufliche und soziale Integration dieser Schülerinnen und Schüler.
Bei näherer Betrachtung der aktuellen Zahlen des Schulversuchs wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler, die am Schulversuch Produktives Lernen teilgenommen haben, zu etwa 70 % einen Schulabschluss erreicht haben und zu etwa 50 % unmittelbar im Anschluss an das Produktive Lernen eine Berufsausbildung begonnen haben. Produktives Lernen gibt nicht nur in Berlin, sondern auch in 18 europäischen und außereuropäischen Ländern mit gleichem Erfolg. Das Institut für Produktives Lernen in Europa – IPLE – betreute bis zum Beginn des Schuljahrs 2001/2002 an 13 Schulstandorten sowie 3 Jugendbildungseinrichtungen den Schulversuch Produktives Lernen. Der erfolgreiche Schulversuch ist bis 2003 genehmigt gewesen. Bis hierhin ist auch alles in Ordnung.
Allerdings hat sich die Situation im Herbst 2000 plötzlich geändert. Das Institut für Produktives Lernen in Europa bekam von der Senatsschulverwaltung die Mitteilung, dass die Mittel reduziert würden und Standorte geschlossen werden müssten. So geschah es auch: Mitten im Schuljahr, mitten im laufenden Schulversuch wurde das Projekt an fünf Sonderschulstandorten abgebrochen. Das war falsch, und wir haben das im Gegensatz zur Mehrheit in diesem Haus oder im Schulausschuss auch abgelehnt.
Die Entscheidung war nicht finanzieller Art. Die bisherigen ESFMittel in Höhe von 5,2 Millionen DM wurden nämlich nur aufgeteilt in 2,7 Millionen DM für das IPLE und 2,3 Millionen DM für einen neuen Trägerverein mit dem Namen ASIG e. V., der zum 1. Januar 2001 mit dem Projekt Schülerfirmen an 10 Schulstandorten anfangen sollte. Bisher hat er keine Arbeit aufgenom
men. Bisher sind keine Schülerfirmen initiiert worden. Bisher wissen wir nicht, wofür diese 2,3 Millionen DM Zuwendungsmittel bewilligt wurden.
Wir sind die letzten, die gegen Trägervielfalt sind. Allerdings werden und wollen wir nicht zusehen, wie ein erfolgreicher Träger für einen weiteren, zusätzlichen Träger bluten muss, der kaum bekannt ist und kaum Erfahrung in diesem Gebiet vorzuweisen hat. Wir haben in einem kürzlichen Gespräch, das wir mit den Vertretern von ASIG geführt haben, leider feststellen müssen, das die Vertreter dieses Trägervereins nicht in der Lage waren, zu erklären, wie ihre Konzeption genau aussieht; sie konnten auch nicht aufschlüsseln, wofür sie die Zuwendungsmittel von 2,3 Millionen DM bekommen haben. Ich finde, wenn ein Verein diese Summe erhält, sollte er zumindest von Leuten vertreten werden, die im Stande sind, etwas zur Konzeption zu sagen und sich dazu zu äußern, wofür sie eine derartige Summe bekommen.
Ich möchte dies nicht weiter vertiefen; es wird vermutlich an anderer Stelle weiter Diskussionsthema sein.
Kollege Schlede, Schulversuche werden nicht aus Übermut begonnen. Sie haben eine Konzeption, werden genehmigt und haben das Ziel, bei erfolgreichen Abschluss in ein Regelangebot aufgenommen zu werden. Man betritt Neuland, und es ist teilweise sehr interessant, teilweise sehr erfolgreich, wie das zuerst genannte Projekt zeigt. Mit diesem Ziel hat auch das IPLE mit dem Schulversuch Produktives Lernen seine Arbeit aufgenommen. Umso erfreulicher ist der Umstand, dass sich dieser Schulversuch nicht nur bewährt hat, sondern auch zahlreichen Schülerinnen und Schülern, die in der regulären Schule als gescheitert angesehen wurden, eine Chance gab und sie in die Lage versetzte, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das, meine Damen und Herren von der großen Koalition, scheint Sie allerdings in keiner Weise zu interessieren.