Protocol of the Session on November 30, 2000

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 19. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, Zuhörer und Zuschauer sehr herzlich.

Ich komme zum Geschäftlichen: Die Fraktion der Grünen hat ihren A n t r a g über Sicherung der Frauenförderung entsprechend der Regelung des öffentlichen Dienstes nach Rechtsformänderungen von städtischen Krankenhäusern mit der D r u c k s a c h e 14/539 nach der Beratung im Ausschuss für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen am 15. November z u r ü c k g e z o g e n.

Mit Einverständnis der Geschäftsführer, der Fraktion und der Zustimmung der antragstellenden Fraktion wurde der A n t r a g der Fraktion der Grünen über das 9. Gesetz zur Änderung der Bauordnung für Berlin mit der D r u c k s a c h e 14/534, der bisher zur Beratung an den Ausschuss für Bauen, Wohnen und Verkehr überwiesen war, auf Antrag der Fraktion der CDU nunmehr auch m i t b e r a t e n d an den Ausschuss für Stadtentwicklung und Umweltschutz ü b e r w i e s e n. – Widerspruch hierzu höre ich nicht. Dann wird so verfahren.

Der A n t r a g der Fraktion der SPD und der Fraktion der CDU über verbesserte Ausbildungsförderung benachteiligter Jugendlicher mit der D r u c k s a c h e 14/711, den wir in unserer 16. Sitzung am 12. Oktober an den Ausschuss für Gesundheit, Soziales und Migration federführend sowie an den Ausschuss für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen überwiesen haben, ist nunmehr in a l l e i n i g e r B e r a t u n g zuständigkeitshalber dem Ausschuss für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen ü b e r w i e s e n worden, da eine Zuständigkeit beim Ausschuss für Gesundheit, Soziales und Migration nicht zu erkennen war. – Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann wird dort so verfahren, und die Zurückziehung ist beschlossen.

Bevor ich zu den begründungen für die Aktualität der beantragten Aktuellen Stunden aufrufe, möchte ich ganz herzlich auf unserer Tribüne die E r s t e P r ä s i d e n t i n d e s W i e n e r L a n d t a g s , F r a u M a r i a H a m p e l - F u c h s , sowie die D r i t t e P r ä s i d e n t i n d e s W i e n e r L a n d t a g s , F r a u P r o f. E r i k a S t u b e n v o l l , bei uns recht herzlich b e g r ü ß e n. Seien Sie uns willkommen!

[Beifall]

Wir kommen dann zur A k t u e l l e n S t u n d e. Es sind gleichzeitig drei A n t r ä g e eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD zum Thema: „Zukunft Wissenschaft“,

2. Antrag der Fraktion der PDS zum Thema: „Recht auf Versammlungsfreiheit nicht einschränken“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Zivilgesellschaft stärken, Demonstrationsrecht bewahren, NPD verbieten“.

Im Ältestenrat wurde zwar keine formelle, jedoch vielleicht eine Einigung erzielt. Aber die Aktualität ist in der Begründung gewünscht worden. Deshalb rufe ich erst einmal Frau Grütters für die Fraktion der CDU auf. – Bitte, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU und die SPD plädieren für das Thema „Zukunft Wissenschaft“ in der Aktuellen Stunde, weil dieses Ressort nicht nur von größter Bedeutung für den Standort Berlin ist, sondern weil es trotz dieses Umstands in der öffentlichen Wahrnehmung häufig zu kurz kommt. Diesem Missstand leistet ja leider auch unser Parlament manchmal Vorschub. Allein wegen der Haushaltssystematik beraten wir den Einzelplan 17 immer unter „ferner liefen“ und am Schluss jeder einigermaßen öffentlich bedeutsamen Zeit. Dabei geht es um den drittgrößten Einzeletat allein in der Wissenschaft in Höhe von 3,2 Milliarden DM, um 50 000 Beschäftigte und um 135 000 Studierende, also junge Leute in dieser Stadt.

[Wieland (Grüne): Das machen wir nächste Woche!]

Es geht um 18 Hochschulen und über 120 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, und es geht um die Zukunft dieser Stadt, deren künftige Unternehmen allein wissenschaftsbasierte Unternehmen sein werden. Im Vorgriff auf die Haushaltsdebatte in der kommenden Woche setzt das Abgeordnetenhaus mit dieser Aktuellen Stunde zur „Zukunft Wissenschaft“ einen politischen Akzent. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigen auch Sie Flagge für die Zukunft unserer Stadt und für die „Zukunft Wissenschaft“ und stimmen Sie unserem Thema „Zukunft Wissenschaft für Berlin“ für die Aktuelle Stunde zu. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und der SPD – Wieland (Grüne): Niemals!]

Für die Fraktion der PDS begründet Frau Seelig den Antrag der Aktuellen Stunde. – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktualität unserer Aktuellen Stunde liegt auf der Hand. Vor einigen Tagen erst hat die Innenministerkonferenz unter anderem auf Grund eines Berliner Papiers Einschränkungen der Versammlungsfreiheit beschlossen. Dieses Werthebachpapier wurde in diesem Parlament bisher überhaupt nicht besprochen.

Nun handelt es sich aber beim Versammlungsrecht nicht um irgendein Recht, sondern um ein konstituierendes dieses Staates, um ein Grundrecht, das nicht aus kosmetischen Gründen über den Haufen geworfen werden darf. Gerade der aktuelle Anlass der NPD-Demonstration am letzten Sonnabend hat noch einmal deutlich gemacht, dass dieses Grundrecht nicht angetastet werden darf, weil es auch keinen Nutzen bringt. Man täuscht der Öffentlichkeit Aktivität vor, und im Falle dieses Innensenators benutzt man diese unerfreulichen Demonstrationen von Rechtsextremisten, um das schon lange angestrebte Ziel, die Versammlungsfreiheit in die Nähe des Erlaubnisvorbehalts des Staates zu rücken, zu erreichen.

[Beifall bei der PDS – Zuruf von der CDU: Stimmt doch gar nicht!]

Erinnert sei, dass, kaum in Berlin angekommen, Innensenator Werthebach den Straßenverkehr und die Einkaufslust durch zu viele Demonstrationen behindert sah – wahrlich ein Rechtsverständnis.

Kommen wir zurück zum Sonnabend, zur Aktualität. Nehmen wir an, das Brandenburger Tor, das Holocaust-Denkmal, die Neue Wache wären befriedete Orte gewesen: Die Neonazis hätten auch dann durch diese Innenstadt demonstriert. Auch dann wäre es das einzig richtige Zeichen gewesen, dass sich die Menschen dieser Horde in den Weg stellen und sagen: Es gibt keinen Platz für Nazi-Aufmärsche, auch nicht in Hellersdorf oder Marzahn.

[Beifall bei der PDS und den Grünen]

Wir müssen doch in diesem Parlament darüber reden, wer dann bestimmt, was Orte von herausragender Bedeutung sind. Interessanterweise sind NPD-Aufmärsche durch die Versammlungsbehörde nicht selten in Ostbezirke umgelenkt worden, noch nie allerdings nach Wilmersdorf oder Charlottenburg. Diese Gewichtung würden wir doch hier gerne mal klären und uns erläutern lassen. Wollen wir, wenn denn einmal der Damm gebrochen ist, vielleicht ganz Berlin zur versammlungsfreien Zone erklären, bis auf die Plattenbaubezirke? Wenn wir als Parlament nicht darüber reden, werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass auch die Polizeigewerkschaft ihren Unmut über die Bundesregierung in Marzahn und nicht am Brandenburger Tor ausdrücken darf.

[Beifall bei der PDS]

Die müsste dann allerdings auch rechtzeitig aufwachen. Ich finde, wir müssen hier und heute darüber reden, dass die freie Wahl von Ort und Zeit ebenso wie die Selbstbestimmung über Art, Inhalt und Form der Versammlung zum unbestrittenen Kernbereich der Versammlungsfreiheit gehören. Wer dies antastet,

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verändert die Republik, aber ändert nichts an den Ursachen und auch nichts an den Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in diesem Land.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Wenn wir wollen, dass in Zukunft ausschließlich der Staat wie am 9. November – es war eine wichtige, große Demonstration, an der ich auch teilgenommen habe – definiert, wann und wo die Anständigen aufzustehen haben, begeben wir uns in vordemokratisches Terrain. Die offene, wehrhafte Demokratie braucht die Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Schutz, und je mehr Menschen bereit sind, auch die Symbole der Republik vor Rechtsextremisten zu schützen, desto stärker ist diese Demokratie.

Zur offenen und wehrhaften Demokratie gehört auch, dass die Verfassungswidrigkeit einer Partei ausschließlich durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Es geht eben nicht, wie ja auch im Antrag Senator Werthebachs an die IMK vorgesehen, dass der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit einfach aus dem Verfassungsschutzrecht übernommen wird. Das ist juristischer Humbug und steuert das Gegenteil einer offenen Demokratie an. Offen, das ist nämlich die Kehrseite der Wehrhaftigkeit, und überhaupt nur so im Grundgesetz verankert.

Das Parlament kann doch die Exekutive nicht einfach auf diesem gefährlichen Weg weitermachen lassen, ohne sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Den größten Sieg, den die Rechtsextremisten in diesem Land erreichen können, ist der, dass die Demokratie sich bei deren vermeintlicher Bekämpfung selber abschafft.

[Beifall bei der PDS]

Und da sollten wir nicht schon bei den Rechten des Parlaments, aktuell so brisante Entwicklungen zu besprechen, beginnen wollen. – Danke schön!

[Beifall bei der PDS]

Für die Fraktion der Grünen hat das Wort Herr Wieland – bitte sehr!

[Bm Dr. Werthebach: Nun sind wir aber gespannt!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Senator Werthebach! Sie dürfen gespannt sein. Zunächst mal: Was war das für eine Begründung zur Aktualität vor Frau Grütters, sie wolle heute schon einen Teil der Haushaltsberatungen vorwegziehen, weil das Kapitel zu spät auf der Liste ist, was Wissenschaft betrifft. Dann können wir ja heute die halbe Haushaltsdebatte schon führen, alles, was nach 18 Uhr in einer Woche sein wird, hier vorziehen. Das ist keine Begründung der Aktualität. Das sei Ihnen mal deutlich gesagt, Herr Kittelmann, und es geht hier um Aktualität.

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Ihre Fraktion war im Ältestenrat noch nicht einmal in der Lage zu sagen, zu welchen Schwerpunkten Sie reden wollten, ob zu Hochschulverträgen, zu Adlershof; „zu allem“ wurde uns gesagt. Wer ein Thema so unverbindlich formuliert, der darf sich dann auch nicht wundern, dass alle aneinander vorbei reden, niemand sich auf den anderen bezieht und jeder sagt, was er schon immer mal sagen wollte. Dies ist im Grunde ein Missbrauch der Aktualität. [Beifall bei den Grünen und der PDS]

Zu unserem Thema: Wir haben am Samstag der vergangenen Woche nicht den Tag der NPD erlebt, den hätte die so gern gehabt, sondern wir haben den Tag der Berliner Bürgerinnen und Bürger erlebt. Die Bilder, die von Berlin ausgingen, waren die Bilder einer abgebrochenen NPD-Demonstration, und es waren vor allen Dingen die Bilder einer Gegenkundgebung zusammen mit dem Bundestagspräsidenten und dankenswerterweise auch mit dem SPD-Teil dieses Senats. Sie, Herr Werthebach, waren wieder einmal nicht dabei. Auch der Regierende Bürgermeister hat dort genauso gefehlt, wie er bisher hier gefehlt hat. Jetzt kommt er, und jetzt wird er sich einiges anhören müssen. Der

selbe Eberhard Diepgen fand es richtig, im Hinblick auf diese Gegenkundgebung von Weimarer Verhältnissen zu reden, und er fand es richtig, im Hinblick auf diese Gegenkundgebung von Hase-und-Igel-Spiel zu reden. Ich finde das empörend. Ich finde das angesichts der Teilnehmer und derer, die diese Gegenkundgebung durchgeführt haben, eine unglaubliche Brüskierung.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Sie saßen in Ihrem ICC und haben sich um Mitte und Leitkultur bemüht. Und Sie haben nicht das erste Mal dort gesessen, während andere auf der Straße waren. Wir haben immer gesagt, bei solchen Anlässen halten wir den Platz der CDU frei. Aber wer regelmäßig nicht da ist, sind die Vertreterinnen und Vertreter der CDU. Das ist die Realität in dieser Stadt.

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Und dann geht Innensenator Werthebach am nächsten Tag hin und sagt reflexartig wie der Mönch mit der tibetanischen Gebetsmühle – ich muss das wirklich so sagen –: Auch diese Demonstration zeigt wieder, dass wir befriedete Bezirke brauchen. Warum denn eigentlich? Diese Demonstration wäre in nichts anders abgelaufen, wenn es die befriedeten Bezirke gäbe. Wem es nicht passt, dass die NPD Demonstrationen in den Straßen unserer Stadt macht, mir z. B. passt es nicht, der muss die NPD verbieten, aber er darf nicht immer am Demonstrationsrecht herumdoktern wollen; der darf vor allem nicht vielen Hunderttausenden das Demonstrationsrecht an bestimmten Orten nehmen wollen. Das ist ein Irrweg, den machen wir nicht mit.

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Der NPD gefiel es, unter der Parole „Argumente statt Verbote“ auf die Straße zu gehen. Ausgerechnet die, die niemals argumentieren, deren Anhänger immer nur die Keule und die Fäuste sprechen lassen, ausgerechnet die wollten der Öffentlichkeit weismachen, dass es nunmehr auf Argumente ankäme, und hatten als Oberargumentierer Horst Mahler aufgeboten, der nunmehr hingeht und standrechtliche Erschießung von Drogengebrauchern beispielsweise fordert, der glaubt und sich anmaßt, namens und im Auftrag der Reichsregierung Karl Dönitz zu reden. Der sollte dort als Oberargumentierer sein. Die Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt haben sich dies nicht anhören wollen, sie haben deutlich gesagt, es reicht; derartige Aufmärsche sollen in Berlin nicht mehr stattfinden. Wir sagen zu Eberhard Diepgen und variieren seinen Satz: Wer die Lippen spitzt, der muss auch pfeifen. Er hätte im Bundesrat pfeifen sollen. Er hätte dort Ja zu einem NPD-Verbot sagen sollen. Da hat er wieder einmal geschwiegen. Noch nicht mal Herr Böger durfte diesmal für ihn reden. Von Berlin kam kein Ja, von Berlin kam eine Enthaltung. Das war zu wenig. Hier hat er weder die Lippen gespitzt, noch hat er gepfiffen. Die CDU versagt auf diesem Gebiet des entschiedenen Kampfes gegen den Rechtsextremismus. Wir rufen von dieser Stelle aus den Bürgerinnen und Bürgern zu: Der Sonnabend war ermutigend. Er war der Tag des friedlichen, des toleranten, des bunten Berlin.

[Landowsky (CDU): War eine flaue Veranstaltung!]

So wollen wir weitermachen!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]