Protocol of the Session on November 9, 2016

Gesundheit, Frauen und Familie

Drucksache 6/5341

Die Aussprache wird von der SPD-Fraktion eröffnet. Es spricht die Abgeordnete Elisabeth Alter.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle gen! Liebe Gäste! Kaum ein Bundesgesetz wurde in der Ver gangenheit derart intensiv begleitet und mit den Betroffenen besprochen wie das Bundesteilhabegesetz. Wir erlebten De monstrationen, diskutierten in Gesprächsrunden, hinterfragten in Anhörungen und versuchten die Bedürfnisse der Menschen zu erfahren und zu verstehen - auch bei Vor-Ort-Terminen. Kein anderes Bundesland hat sich so intensiv mit diesem Bun desgesetz befasst und sich eingebracht wie Brandenburg.

Mitbestimmung unter dem Grundsatz der UN-Behinderten rechtskonvention „Nicht über uns ohne uns“ wird mit Recht von den Betroffenen eingefordert. Wir wollen, dass Branden burg auf dem Weg zur Inklusion alle Menschen mitnimmt: in Kita, Schule, Studium und im Arbeitsleben. Neben der räumli chen Infrastruktur wie Straßen, Wege und Quartiersentwick lung muss auch die soziale Infrastruktur, also die selbstbe stimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, in allen Berei chen selbstverständlich werden. Wir sind in Brandenburg auf einem guten Weg und haben bereits viel erreicht: Das Landes pflegegeld wurde erhöht, das Behindertenpolitische Maßnah menpaket weiterentwickelt und die Bauordnung angepasst.

Vor uns liegen allerdings noch viele Probleme, die es zu bewäl tigen gilt. Darum sehen wir es als unsere Pflicht an, uns bera tend und fordernd an der Entwicklung des Bundesteilhabege setzes zu beteiligen, um die Interessen der Brandenburgerinnen und Brandenburger zu vertreten. Die Proteste und Forderungen haben auf Bundesebene Gehör gefunden und wurden teilweise bei der weitergehenden Bearbeitung berücksichtigt. Ängste und Sorgen werden geäußert, zum Beispiel vor dem Zusam menlegen von Leistungen, dem sogenannten Poolen. Das kann aber nur da, wo es sinnvoll ist, und nur mit der Zustimmung der Betroffenen erfolgen.

Im neuen Teilhabeplanverfahren werden zukünftig persönliche und familiäre Umstände geprüft und neben wirtschaftlichen Kriterien besonders die Zumutbarkeit und das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen berücksichtigt.

Wie es der ursprüngliche Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN beinhaltet, stehen auch wir als SPD für die Bei behaltung und Stärkung der ambulanten vor der stationären Betreuung. Diese Lebensform wurde in den letzten Jahren er kämpft und ermöglicht den Menschen mit Behinderung ein vielseitiges Angebot und unterschiedliche Wohnformen:

(Beifall SPD und des Abgeordneten Domres [DIE LINKE])

zuhause mit Pflege, in Gruppen, Wohnen am oder im Heim, betreutes Einzelwohnen und vieles mehr. Die Angst, dass die Neuregelung des § 99 SGB IX den bisherigen Zugang zur Teil habe einschränkt, muss bei der weiteren Bearbeitung des Ge setzentwurfs stärkere Beachtung finden. Eingliederungshilfe erhalten nur Personen, die nachweisen können, dass in fünf von neun Lebensbereichen Unterstützungsbedarf besteht oder Aktivitäten in mindestens drei Lebensbereichen auch mit per soneller oder technischer Unterstützung nicht möglich sind. Wir fordern, dass der Kreis der Betroffenen nicht eingeengt und niemand schlechtergestellt wird.

Die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger, um den Bedarf zu erkennen und zeitnah zu handeln, ist der Schritt in die richti

ge Richtung. Dabei steht - wie im § 3 SGB IX vorgegeben - die Stärkung der Prävention im Vordergrund, um den Eintritt einer Behinderung oder chronischen Erkrankung zu vermeiden.

Ein weiterer positiver Punkt ist die Einführung von Mitbestim mungsrechten besonders von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten durch die Wahl von Werkstatträten und Frauenbe auftragten.

Wir bitten die Landesregierung, die berechtigten Forderungen der Behindertenverbände und die Stellungnahme unseres Aus schusses in ihre Entscheidung im Bundesrat weitestgehend ein fließen zu lassen. Um es mit den Worten der Vorsitzenden des Landesbehindertenbeirates, Frau Marianne Seibert, zu sagen: Nein, wir wollen nicht lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, sondern ein modernes und bedarfsgerech tes Teilhabegesetz, welches die Lebenswirklichkeit der Men schen mit Behinderung berücksichtigt und sie natürlich gleich berechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben lässt.

(Beifall SPD, B90/GRÜNE und des Abgeordneten Dom res [DIE LINKE])

Die vielen Gespräche mit den unterschiedlichsten Interessen vertretungen in den letzten Wochen und Monaten haben uns gezeigt, dass ein gegenseitiges Verständnis für die unterschied lichen Probleme gewachsen ist. Nicht alle Forderungen können berücksichtigt werden. Dennoch gilt es, den entstandenen Aus tausch fortzuführen, die Sorgen und Ängste der Betroffenen weiterhin zu begleiten und konstruktiv in die Umsetzung des Gesetzes in Brandenburg einfließen zu lassen.

Noch in diesem Monat findet auf Einladung der SPD-Land tagsfraktion ein Fachgespräch mit der Staatssekretärin im Bun desarbeitsministerium, Frau Gabriele Lösekrug-Möller, statt. Dabei wollen wir unsere Position nochmals deutlich machen, um den Beteiligungsprozess nicht abreißen zu lassen. - Vielen Dank.

(Beifall SPD sowie vereinzelt DIE LINKE)

Vielen Dank. - Für die CDU-Fraktion spricht die Abgeordnete Augustin. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Das Bundesteilhabegesetz war langersehnt und hat während dieses langen Entstehungsprozesses viele Wün sche, Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die bei der Vor stellung des Referentenentwurfs und des Kabinettentwurfs, der dann schon Änderungen enthielt, enttäuscht wurden. Es ist ein schwieriger Gesetzentwurf, und zwar aus vielen Gründen: Es geht zum einen um viel Geld, um Zuständigkeiten und deren Regelung und vor allem um die Komplexität derjenigen, über die wir hier sprechen. Es ist nicht die eine Behinderung von Menschen, die wir mit dem Bundesteilhabegesetz erfassen wollen, sondern es geht um Menschen mit individuellen Beein trächtigungen und ihre spezifischen Bedürfnisse, die sich alle in dem einen Gesetz widergespiegelt finden wollen. Ich glau be, das macht deutlich, dass es kein leichter Weg ist.

Was die Entstehung und Begleitung - meine Kollegin Alter hat es schon gesagt - dieses Gesetzentwurfes auszeichnet, ist der breit angelegte Dialog. Er begann unter dem Motto: Nicht über uns ohne uns. - Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin dank bar für die auch im übertragenen Sinne laute Kritik, die an die sem Gesetzentwurf geäußert wurde; ist es nicht zuletzt ihr zu verdanken, dass das Bundesteilhabegesetz so viel Aufmerk samkeit bekommen hat, dass Menschen mit Beeinträchtigun gen und ihre Situation so viel Aufmerksamkeit wie nie zuvor bekommen haben. Ich glaube, man kann zu Recht sagen: Nun mehr ist jedem klar, dass das kein Nischenthema ist.

(Beifall CDU, SPD, DIE LINKE und B90/GRÜNE)

Die Stimmen, die Proteste und die Anregungen konnten nicht überhört oder gar ignoriert werden. Ich sehe durchaus den po sitiven Effekt, dass sich vielleicht mehr Menschen als je zuvor daher mit diesem wichtigen Thema auseinandergesetzt haben. Das ist ein Erfolg für alle Betroffenen und für die Behinderten verbände.

Dass wir uns als Landesparlament so intensiv mit einem Bun desgesetz auseinandersetzen, belegt diesen hohen Stellenwert. Daher möchte ich den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch einmal danke sagen, dass sie mit dem vorliegenden Antrag den Anstoß dazu gegeben ha ben. Zudem möchte ich den Kolleginnen und Kollegen des So zialausschusses danken, auch der Vorsitzenden Sylvia Leh mann, dass wir es gemeinschaftlich geschafft haben, das The ma so schnell auf die Tagesordnung zu setzen, eine Anhörung einzuberufen und überfraktionell eine Beschlussempfehlung zu erarbeiten. Ich glaube, das ist eines Applauses wert für alle, die konstruktiv dazu beigetragen haben.

(Beifall CDU, SPD, DIE LINKE und B90/GRÜNE)

Diese Beschlussempfehlung soll unser Brandenburger Beitrag sein und Auskunft geben, wo wir Verbesserungsbedarf beim Bundesteilhabegesetz sehen. Die CDU-Fraktion hatte vor we nigen Tagen zu einem Fachgespräch eingeladen. Mit unserem behindertenpolitischen Sprecher im Bundestag, Uwe Schum mer, an der Seite bin ich frohen Mutes, dass wir mit unseren Anregungen und Kritikpunkten offene Türen einrennen. Zu mindest in unserem Fachgespräch mit Uwe Schummer konnte ich feststellen, dass die Punkte, die wir in der Beschlussemp fehlung thematisiert haben, unseren Kolleginnen und Kollegen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Herzen liegen, dass Nachbesserungen bzw. Änderungen gefordert und vernünftige Lösungen im Interesse aller gesucht werden.

(Beifall der Abgeordneten Schier [CDU])

Vorgestern fand auf Bundesebene die Anhörung zum Bundes teilhabegesetz statt. Auch da wurden noch einmal wichtige Kritikpunkte genannt und Anregungen gegeben. Viele Stim men reden bei diesem Gesetzentwurf nach wie vor mit - das ist auch richtig -: der Bund, wo das Gesetz behandelt wird, die Länder - wie wir heute auch -, die Betroffenen, aber auch die Kommunen und kirchliche Verbände.

Die gestellte Aufgabe ist eine wirklich schwierige, aber - da bin ich mir sicher - eine lösbare. Denn es sollen - das muss je dem klar sein - vor allem Verbesserungen und nicht etwa Ver

schlechterungen geschaffen werden. Das ist und bleibt unser Ziel.

Da spreche ich auch im Sinne von Uwe Schummer, dem behin dertenpolitischen Sprecher unserer Bundestagsfraktion, der ganz klar gesagt hat: Mit dem Bundesteilhabegesetz soll es kei nem schlechter, sondern den Betroffenen besser gehen. Des halb soll auch das System, das wir derzeit in der Behinderten politik haben, parallel weiterlaufen, um zu vermeiden, dass der Einzelne durch das Bundesteilhabegesetz vielleicht Nachteile erfährt.

Um es mit Hubert Hüppe, unserem früheren Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zu sa gen - er hat ein bekanntes Sprichwort auf das Thema Inklusion umgemünzt:

„Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie verhindern will, sucht Begründungen.“

(Beifall der Abgeordneten Große [DIE LINKE] - Beifall CDU, vereinzelt DIE LINKE sowie der Abgeordneten Nonnemacher [B90/GRÜNE])

- Das spielt auf viele Bereiche an. Danke, Gerrit. - Wir sind nach wie vor dabei, den richtigen Weg hin zu einem gelunge nen Bundesteilhabegesetz zu suchen. Ich bin nach wie vor hoffnungsfroh und sicher, dass wir das Gesetz beschließen werden. Aber auch danach wird dieser begleitende Prozess nicht beendet sein. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.

Ich finde, wir können heute auf den gemeinsamen Beitrag aus Brandenburg stolz sein, und ich möchte noch einmal allen mei nen Dank aussprechen, die sich an diesem konstruktiven Prozess beteiligt haben. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, B90/GRÜNE sowie vereinzelt SPD und DIE LINKE)

Vielen Dank. - Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, begrü ße ich Teilnehmer eines Flüchtlingsprojekts aus Wittstock auf der Besuchertribüne. Herzlich willkommen im Landtag Bran denburg!

(Beifall SPD, CDU, DIE LINKE, B90/GRÜNE und BVB/FREIE WÄHLER Gruppe)

Für die Fraktion DIE LINKE spricht die Abgeordnete Bader.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Meine sehr verehrten Da men und Herren! Liebe Gäste! Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war wichtig und gut. Deshalb wurde er auch an den Ausschuss überwiesen. Entsprechend der Bedeutung dieses Themas gab es eine Anhörung im Eilverfah ren und einen intensiven Diskussionsprozess. Damit reiht sich der Ausschuss in den bundesweiten Prozess ein, der aktuell von Diskussionen, Protesten, Anhörungen in Parlamenten und vielem mehr geprägt ist.

Erst am Montag fand eine Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages statt, die wieder von

Protestaktionen begleitet wurde. Auch im Land Brandenburg war die Demo der Betroffenen ein wichtiges Zeichen, welches nicht ignoriert werden durfte. In der Anhörung machten zudem alle Anzuhörenden deutlich, welche Punkte im Gesetzentwurf so nicht bestehen bleiben können. Der Ausschuss griff in einer gemeinsamen Stellungnahme alle Punkte auf, unter anderem das Wunsch- und Wahlrecht, die Schnittstellenproblematik bei Eingliederungshilfe und Pflege, das Poolen von Leistungen, die Definition von Personenkreisen, das Feststellungsverfahren des individuellen Hilfebedarfs, die Teilhabe am und Wahlmög lichkeiten im Arbeitsleben, die Teilhabe an Bildung, die Ein kommens- und Vermögensanrechnung und vieles mehr.

In diesen Punkten muss Klarheit zugunsten der Menschen mit Behinderungen geschaffen werden, und darüber ist sich der Ausschuss einig. Es ist ein wichtiges Zeichen, dass sich der Ausschuss gemeinsam mit den Betroffenen positioniert und sich somit an ihre Seite stellt. Umso wichtiger war es, dass der Ausschuss diese Position auch nach außen vertritt und zusätz lich an den zuständigen Bundesausschuss weiterleitete.

Das Bundesteilhabegesetz muss die Situation der Menschen mit Behinderungen verbessern und sie nicht auf dem gleichen schlechten Niveau verharren lassen oder gar noch verschlech tern.

(Beifall DIE LINKE sowie der Abgeordneten Nonnema cher [B90/GRÜNE] und Lüttmann [SPD])

An unseren gemeinsamen Kernforderungen wird die Landesre gierung den endgültigen Gesetzentwurf in ihrer Entscheidung im Bundesrat messen müssen. Hier stehen die Fraktionen des Landtages Brandenburg zu ihren Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen und haben zu Recht hohe Erwartungen an Bun destag und Bundesrat. Unsere Erwartungen sind hoch, aber die der Betroffenen erst recht. Sie haben ihren Unmut lautstark kundgetan und haben berechtigte Erwartungen an ein Bundes land, welches von sich behauptet, Vorreiter in der Behinderten politik zu sein.

Wir haben das Landespflegegeld erhöht, wir haben ein Behin dertenpolitisches Maßnahmenpaket entwickelt, evaluiert, und unter großer Beteiligung erfolgt nun die Fortschreibung. Wir haben das Behindertengleichstellungsgesetz novelliert und vie les mehr getan. Nun muss Brandenburg beweisen, dass es seine Bemühungen um die Verbesserung der Lebenslage behinderter Menschen ernst meint, und sich deshalb auch auf Bundesebene dafür einsetzen. Es kann nicht sein, dass sich durch ein schlech tes Bundesteilhabegesetz die Lebenslage der Betroffenen ver schlechtert, die das Land Brandenburg mit all seinen Bemü hungen stetig zu verbessern sucht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, so wie der Ausschuss an dieser Stelle zusammenstand, sollten alle Menschen in der Gesellschaft zusammenstehen und vor allem mehr füreinander einstehen.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt SPD sowie der Abgeord neten Augustin und Dr. Redmann [CDU])

Hier gibt es noch viel zu tun, denn die Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor nicht in den Köpfen angekommen. So kommt es vor - wie bei der Anhö rung vor zwei Tagen -, dass gehörlose Menschen völlig ausge schlossen sind, weil ein Dolmetscher für Gebärdensprache