Protocol of the Session on February 22, 2012

Nach den Angaben der Bundesagentur für Arbeit ist der Anteil der Befristungen bei Neueinstellungen in den letzten Jahren von 32 auf mittlerweile 47 % gestiegen. Im März 2010 waren im Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen 21,2 % der Beschäftigungsverhältnisse befristet. Das ist inzwischen jeder vierte Arbeitsplatz.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hatten 8,4 % der befristet Beschäftigten Arbeitsverträge, die eine Befristung von nur bis zu sechs Monaten aufwiesen; 25,1 % hatten Verträge mit einer Laufzeit von sechs Monaten bis zu einem Jahr. Das bedeutet, dass inzwischen mehr als ein Drittel der befristet Beschäftigten trotz Arbeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erwerben konnten, obwohl sie in die Arbeitslosenversicherung einzahlten.

Das ist eine Entwicklung, der wir nicht weiter tatenlos zusehen dürfen. Denn auch aktuelle Zahlen der EU belegen: Nirgendwo sonst in Europa ist das Armutsrisiko für Arbeitslose so hoch wie in Deutschland. 70 % der Erwerbslosen sind armutsgefährdet; im europäischen Durchschnitt sind es 45 %. Jeder vierte neue Arbeitslose in Deutschland erhält inzwischen Hartz IV. Das liegt auch an den bisher geltenden Regelungen.

Mit unserem Antrag wollen wir der Realität Rechnung tragen. Es ist so, wie es im Antrag steht: Eine Anhebung der Rahmenfrist bei gleichzeitiger Verkürzung der Anwartschaftszeit würde die soziale Absicherung dieser Beschäftigtengruppen verbessern.

Ich möchte aber auch betonen: Das Armutsrisiko hängt auch vom Einstellungsverhalten der vielen Unternehmen ab, die häufig nur befristet oder auf 400-Euro-Basis einstellen und zunehmend auf Leiharbeiter zurückgreifen. Nachdem die Bedingungen für Leiharbeit immer besser reguliert werden konnten, weicht so mancher Arbeitgeber inzwischen auf Werkverträge aus. Diese bieten häufig Schlupflöcher für Lohndumping. Prekäre Beschäftigung hat in den letzten Jahren - das wissen wir alle - zugenommen. Der Arbeitsmarkt franst immer mehr nach unten aus. Aus Arbeitsplätzen werden Jobs - Jobs, die kaum zum Leben reichen.

Leiharbeit, Minijobs - früher: 1-Euro-Jobs -, Niedriglöhne: All diese Formen von Arbeit gehören inzwischen für Millionen Menschen zum Alltag. Allein in den letzten Jahren ist die Zahl der Niedriglöhner von 15 auf 22 % gestiegen. Leidtragende sind die Arbeitnehmer. „Working poor“ von heute ist eben - das müssen wir wohl zugestehen - Altersarmut von morgen. Das Armutsrisiko der heute 65-Jährigen liegt nach einer Berechnung der Deutschen Rentenversicherung in Brandenburg bei 10,4 %, das der 18-Jährigen schon bei 20,9 %. Gut ein Viertel aller Beschäftigten steht in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis. Das Problem ist bekannt und erkannt. So heißt es

auf einer Internetseite des Bundesarbeitsministeriums zum Thema Zeitarbeit, das rund 10 % aller Zeitarbeitsverhältnisse kürzer als eine Woche und 50 % nicht länger als drei Monate bestanden hätten. Die Einstellung der Zeitarbeitskräfte für so einen kurzen Zeitraum bedeutet zwangsläufig, immer wieder auf Sozialleistungen angewiesen zu sein.

Ich will hier gern zugestehen: Dass die rot-grüne Bundesregierung 2003 beschlossen hat, die Rahmenfrist und die Anwartschaftszeit zu kürzen, erweist sich heute als falsche Entscheidung.

(Beifall DIE LINKE)

Die dargelegten Zahlen belegen das. Politik sollte aber auch immer in der Lage sein, Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren.

(Beifall DIE LINKE und des Abgeordneten Holzschuher [SPD])

Darum haben wir den vorliegenden Antrag eingebracht, mit dem die Landesregierung aufgefordert wird, sich für eine Änderung der Rahmenfrist und der Anwartschaftszeit einzusetzen.

Nach dem engagierten Beitrag von Frau Vogdt und ihrem Eintreten für Arbeitnehmerrechte sowie bessere Löhne rechne ich fest mit der Zustimmung der FDP zu unserem Antrag.

Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung. - Vielen Dank.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Baer. - Frau Abgeordnete Schier von der CDU-Fraktion wird die Aussprache fortsetzen.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Antrag beinhaltet die Forderung, die die Anwartschaftszeit von zwölf auf sechs Monate zu halbieren und gleichzeitig den Anspruch von 24 auf 36 Monate auszuweiten. Herr Baer, Sie haben es gerade noch einmal dargelegt - Sie beziehen sich auf atypischen Beschäftigungsverhältnisse -: Die Menschen zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, haben aber nichts davon.

Was wäre aber die Konsequenz der Annahme Ihres Antrags? Wir haben vor vierzehn Tagen den Arbeitsmarktbericht der Landesregierung auf den Tisch bekommen. Darin kann man nachlesen, dass die Jugendarbeitslosigkeit spürbar gesenkt werden konnte. Kollege Baer, Sie haben ausgeführt, dass das Armutsrisiko der Jugendlichen deutlich höher sei als das der älteren Menschen. Wenn man so etwas schon prognostiziert - ist der vorliegende Antrag dann die richtige Antwort darauf?

Auch für Menschen, die zwischen 50 und 65 Jahre alt sind, kommt der Arbeitsmarkt immer mehr in Bewegung. Wenn man sich überlegt, dass schon heute 140 000 Fachkräfte benötigt werden und der entsprechende Bedarf im Jahr 2015 das ist, wenn sie so wollen, übermorgen - bei 270 000 liegen

wird, dann frage ich Sie: Haben Sie die Zeichen der Zeit erkannt?

Ich weiß, dass Sie gestern eine Veranstaltung hatten, auf der der Katjes-Chef ausführte, dass 50 % seiner Mitarbeiter über 50 Jahre alt seien. Er sagte weiter, er habe es nie bereut, sich dieser Fachkräfte bedient zu haben. Dieses Beispiel muss doch Schule machen. Statt darüber nachzudenken, wie die Menschen besser an Arbeitslosengeld kommen, muss unser Augenmerk doch darauf liegen, dass die Menschen in unbefristete Arbeitsverhältnisse vermittelt werden.

(Beifall CDU und FDP - Frau Prof. Dr. Heppener [SPD]: Man kann doch das eine tun, ohne das andere zu lassen!)

Dazu gehört selbstverständlich lebenslanges Lernen. Dazu gehört aber auch ein Umdenken in den Unternehmen. Darauf sollte unser Augenmerk liegen.

Für Ihren Antrag haben wir im Grunde nur Kopfschütteln übrig. Wir lehnen ihn ab.

(Beifall CDU und FDP)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schier. - Wir setzen die Aussprache mit dem Beitrag der Fraktion DIE LINKE fort. Der Abgeordnete Dr. Bernig hat das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Schier, nach den ersten Worten Ihres Redebeitrages habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie unseren Antrag nicht verstanden haben.

Die Arbeitslosenversicherung ist eine Sozialversicherung, die das Ziel hat, arbeitslosen Menschen während der Arbeitssuche ein Einkommen zu sichern. Wie hoch die Leistungen sind und welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um sie zu erhalten, ist eine Frage, die im Wesentlichen der Gesetzgeber, also die Politik, zu entscheiden hat.

Die letzte tiefgehende Korrektur erfolgte bekanntermaßen mit den Hartz-Gesetzen. Genau heute vor zehn Jahren wurde die Hartz-Kommission eingesetzt, um Vorschläge für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zu erarbeiten. Die Grundrichtung dieser Vorschläge war ganz deutlich: mehr Druck auf Arbeitslose durch Abbau sozialer Leistungen, unter anderem durch Verkürzung der Bezugsdauer für Arbeitslosengeld, verschärfte Zumutbarkeitsregelungen und höhere Hürden für den Zugang zum Arbeitslosengeld. Es erfolgte eine beispiellose Deregulierung am Arbeitsmarkt.

Heute beziehen in Brandenburg etwa 70 % der Arbeitslosen Hartz IV, also die Grundsicherung, und nur 30 % Arbeitslosengeld. Das ist zum einen das Ergebnis der Einschnitte bei der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld; zum anderen landen immer mehr Menschen vom Arbeitsplatz direkt in Hartz IV. Das ist nicht mehr hinnehmbar.

Herr Abgeordneter Dr. Bernig, lassen Sie eine Frage, gestellt durch Frau Abgeordnete Schier, zu?

Nein, ich möchte meinen Beitrag fortsetzen. - Das ist, wie gesagt, nicht mehr hinzunehmen. Wenigstens diese Fehlentwicklung gehört korrigiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Geheimnis, dass sich damals die PDS - ebenso wie heute die Linke - entschieden gegen Hartz IV und die Agenda 2010 aussprach, weil beides Armut per Gesetz bedeutet und die Rechte der abhängig Beschäftigten erheblich einschränkt. Diese Differenzen in Bezug auf eine sozial gerechte Politik bleiben bestehen, wobei ich die kritische Sicht meines verehrten Kollegen Detlef Baer ausdrücklich begrüße.

Wohin das alles führte, mussten wir in den vergangenen zehn Jahren miterleben. Atypische Beschäftigungsverhältnisse - wie Zeit- bzw. Leiharbeit, Minijobs, Teilzeitarbeit oder Saisonbeschäftigung - breiten sich aus. Das Qualifikationsniveau nahm ab. In Brandenburg wurde zehn Jahre lang mit Billigjobs als Standortvorteil geworben. Fast 70 000 derer, die in Brandenburg Arbeit haben, müssen das Arbeitseinkommen durch Hartz IV aufstocken, weil es zum Leben nicht reicht. Das hat mit guter Arbeit nichts zu tun.

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE und SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen uns im vorliegenden Antrag für Korrekturen aus, die dazu beitragen, die Arbeitslosenversicherung wieder zum primären sozialen Netz für Arbeitslose zu machen. Der Antrag der Koalition sieht vor, die sogenannte Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu erhöhen und die Anwartschaftszeit von zwölf auf sechs Monate abzusenken. Mit anderen Worten: Es soll wieder leichter möglich sein, Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben, statt sofort auf Hartz IV verwiesen zu werden. Das ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.

Ich möchte anregen, auch weitere grobe Unzulänglichkeiten in den Blick zu nehmen. In einem weiteren Schritt sollte es darum gehen, die völlig unzureichenden Sonderregelungen für kurzzeitig Beschäftigte zu verändern. Danach sollen Kurzzeitbeschäftigte bereits dann Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie sechs Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Darüber hinaus haben wir hier eine willkürliche Verdienstgrenze von 2 600 Euro, und nur die Beschäftigten erhalten Arbeitslosengeld, deren Beschäftigungsverhältnisse mehrheitlich jeweils nicht länger als sechs Wochen dauert. Damit haben wir die abstruse Situation, dass viele Beschäftigte einerseits zu kurz beschäftigt sind, um Arbeitslosengeld zu erhalten, und andererseits zu lange, um die Sonderregelung in Anspruch nehmen zu können.

Auch an diesem Beispiel zeigt sich: Die Regelungen zum Arbeitslosengeld sind zu kompliziert, praxisfremd, ungerecht und unsolidarisch. Für heute bitte ich Sie um Zustimmung zum vorliegenden Antrag der Koalition.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Bernig. - Die Aussprache wird durch die FDP-Fraktion fortgesetzt. Der Abgeordnete Büttner hat das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Bernig, ich habe Ihren Antrag gelesen, und ich habe ihn auch verstanden. Aber es erschließt sich mir immer noch nicht, weshalb wir in diesem Haus eigentlich darüber reden. Wir sind nicht das zuständige Parlament. Sie haben schlichtweg die Parlamente verwechselt. Das ist Zuständigkeit des Bundestages.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Bernig [DIE LINKE])

Herr Kollege Bernig, es ist ja nicht so, dass der Bundestag nicht darüber beraten hätte. Vor genau 13 Tagen hat der Deutsche Bundestag über diesen Antrag - die Bundestagsfraktion der SPD hatte ihn etwas mehr ausformuliert - beraten, mit genau dem gleichen Inhalt. Er ist im Deutschen Bundestag abgelehnt worden. Jetzt bringen Sie ihn 13 Tage nachdem er im Deutschen Bundestag abgelehnt wurde, hier ein und fordern jetzt Ihre Landesregierung auf, sich dazu zu bekennen. Das ist ein echt falscher Film, in dem ich hier bin, Herr Kollege Bernig. Das ist ein Schaufensterantrag, so wie es der Innenminister vorhin gesagt hat.

(Beifall FDP)

Aber kommen wir doch einmal zu etwas anderem, was Sie mit diesem Antrag nämlich wie immer ausblenden. Reden wir doch einmal über gute Nachrichten, reden wir doch einmal darüber, dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt unendlich gut aussieht, dass es Beschäftigungsrekorde gibt, dass Hunderttausende von Menschen neue Perspektiven bekommen. Das führt natürlich auch dazu, dass Menschen, die langzeitarbeitslos und im Hartz-IV-System sind, erfreulicherweise jetzt häufiger den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen.

(Dr. Bernig [DIE LINKE]: Nicht alle!)

- Ja, nicht alle. Leider bleiben nicht alle dann lange genug beschäftigt, um Ansprüche auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Aber da sollten wir uns doch überlegen, wie wir diesen Menschen eine Perspektive geben,

(Beifall FDP und CDU)

dass sie nicht nur den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen, sondern auch im Arbeitsmarkt bleiben und eine Aufstiegsperspektive haben. Das ist richtig; darüber müssen wir gemeinsam nachdenken.

Aber dieses Problem löst man nicht im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, sondern zum Beispiel durch Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern. Denn in Wahrheit spaltet ja in erster Linie fehlende Qualifikation den Arbeitsmarkt. Genau dort, Kollege Bernig, hat die Bundesregierung mit den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten angesetzt. Genau da hätte ich mir die Zustimmung von Ihnen und von den Sozialdemokraten gewünscht, meine Damen und Herren.

(Frau Lehmann [SPD]: Ein Streichprogramm ist das, dem stimmen wir nicht zu!)