Zu Ihrer Frage, Herr Dr. Scharfenberg: Im Land Brandenburg das wissen wir alle - beeinträchtigen nach wie vor unterschiedliche Erscheinungsformen von Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus unser friedliches Zusammenleben. Fast an jedem Tag können wir den Medien Entsprechendes entnehmen. Wir sind uns deshalb in der Landesregierung einig, dass der Bekämpfung des Rechtsextremismus weiterhin oberste Priorität zuzuordnen ist.
Wir haben 1998 das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ beschlossen, das eine Absage an jede Form der Gewalt darstellt und das Leitbild eines toleranten und weltoffenen Landes enthält. Im Rahmen dieses Handlungskonzeptes gibt es viele Maßnahmen mit Jugendlichen im Rahmen von intensiver Jugendarbeit, aber auch Projekte mit schulischen und außerschulischen Maßnahmen, die zu einem Bündnis zusammengefasst werden. Ein gesellschaftliches Bündnis gegen Rechtsextremismus bildet den Schwerpunkt.
Wir halten am Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ nachdrücklich fest und werden es weiterentwickeln. In diesem Zusammenhang wurde am 1. Dezember 2004 die Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“ beim Ministerium für Bildung, Jugend und Sport neu besetzt. Die Koordinierungsstelle wird das Handlungskonzept koordinieren, für die Landesregierung weiter umsetzen und neu beschreiben. Leiterin ist Frau Angelika Thiel-Vigh. Die inhaltliche Überarbeitung des Handlungskonzeptes wird derzeit konzipiert. Angepasst an die aktuellen Bedürfnisse unserer Gesellschaft werden sich die neu zu beschreibenden Ziele im überarbeiteten Konzept wiederfinden.
Bei der Auseinandersetzung mit Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit geht es nicht nur um Jugendliche. Wir wollen auch eine stärkere Auseinandersetzung mit entsprechenden Haltungen bei Erwachsenen. Hier kommt die Landeszentrale für politische Bildung ins Spiel. Ihr Auftrag ist es, über Entscheidungsvorgänge in der Politik nicht nur zu informieren, sondern sie auch verständlich zu machen und das kritische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zu schärfen.
Ein zentraler Auftrag der Landeszentrale soll zukünftig die Bekämpfung des Rechtsextremismus sein. Hier gibt es jetzt die Parallele und die Notwendigkeit, zu bündeln. Die Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“ ist als eigenständige Organisationseinheit des MBJS meinem Staatssekretär direkt unterstellt. Mit der organisatorischen Anbindung bei und nicht in der Landeszentrale für politische Bildung, wie Sie es in der Frage formuliert haben, wird den Bedürfnissen der Zukunft in organisatorischer Hinsicht Rechnung getragen. Es ist nahe liegend, dass unsere Kräfte gegen Rechtsextremismus gebündelt werden. Primär diesem Ziel dient die angesprochene Maßnahme. - Danke.
Thema: 60 Jahre nach Krieg und Holocaust: Gegen das Vergessen, für Verantwortung, Toleranz und Verständigung
Rechtzeitig zu Beginn der Aktuellen Stunde begrüße ich eine Gruppe von 30 Schüler einer 9. Klasse aus dem Friedrich-StoyGymnasium in Falkenberg. Herzlich willkommen! Das Thema der Aktuellen Stunde kann auch Schüler interessieren. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Zuhören.
Ich eröffne die Debatte. Da die Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion auf die Tagesordnung gesetzt wurde, spricht als Erster der Abgeordnete Reiche.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Am 27. Januar dieses Jahres wird sich zum 60. Mal der Tag jähren, an dem sowjetische Truppen das nationalsozialistische Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Auch in diesem Jahr werden wir diesen Tag zum Anlass nehmen, aller Opfer nationalsozialistischer Gewalt zu gedenken: der 6 Millionen ermordeten Juden und aller anderen Opfer des Nationalsozialismus.
So wie es sich der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog wünschte, werden wir diesen Gedenktag als „nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ begehen. Doch der 27. Januar wird als Tag des Gedenkens und der Erinnerung nicht allein stehen, gerade für uns in Brandenburg nicht. Er wird der Auftakt für eine ganze Reihe von Tagen der Erinnerung, der Besinnung und der Trauer über unglaubliches Leid sein.
Vor 60 Jahren ging der europäische Teil des Zweiten Weltkriegs nicht irgendwo zu Ende, sondern hier in Berlin-Brandenburg. Auch auf dem Gebiet unseres Landes wurden im Frühjahr 1945 - in Ravensbrück und Sachsenhausen - Konzentrationslager befreit. Zugleich wurden hier in Brandenburg kurz vor Schluss, im April 1945, noch einige der entsetzlichsten Schlachten der Endphase des Krieges geschlagen: vor und auf den Seelower Höhen, wenig später in den Wäldern rund um Halbe. Auch hier sind Städte zerstört worden, zum Beispiel am 14. April Potsdam. Schließlich wurde in unserer Stadt ebenfalls noch 1945 mit dem Potsdamer Abkommen über die Zukunft Europas in den Nachkriegsjahrzehnten und damit über die Zweiteilung unseres Kontinents als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entschieden. In Brandenburg kamen Millionen Vertriebener an, denn die Neuordnung Europas machte sowohl viele Polen als auch Deutsche zu Vertriebenen.
Wir sind heute, denke ich, reifer geworden. Wir müssen alle Teile der Erinnerung aushalten und dürfen nicht einige ausblenden, wie es Rechtsextreme und Neofaschisten bis heute tun.
All diese Geschehnisse und Ereignisse, die sich in diesem Jahr zum 60. Mal jähren werden, waren und bleiben von einschnei
dender Bedeutung für Deutschland und für uns in Brandenburg. Unsere Region war von ihnen besonders betroffen; sie ist es noch immer.
Darüber, wie die damaligen Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren sind, gibt es auch heute noch - und heute wieder unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen. Manche meinen, bei den Schrecken, die gerade in den letzten Kriegsmonaten und -wochen auch Brandenburg heimsuchten, habe es sich um eine besondere Ungerechtigkeit gehandelt. Manche sehen in der Befreiung Europas von den Gräueln des Nationalsozialismus noch immer nicht eine Befreiung, sondern vor allem eine Niederlage für Deutschland, die - so meinen diese Leute auf irgendeine Weise historisch korrigiert werden müsse.
Seit Jahren erleben wir zum Beispiel, wie Rechtsextremisten die Kriegsgräber von Halbe auf schäbige Weise zu einem Wallfahrtsort ihrer verblendeten Ideologie zu machen versuchen. Um es sehr deutlich zu sagen: Für mich ist dies nichts weiter als eine Form von Leichenfledderei, eine Beschmutzung des Andenkens dieser Menschen.
Wer schon einmal auf dem Soldatenfriedhof von Halbe war und sich dort die Grabsteine angesehen hat, der weiß, dass viele der Männer, die dort begraben sind - geboren 1924, 1925, 1926 oder noch später -, heute noch am Leben sein könnten. Sie könnten als zufriedene Rentner und glückliche Großväter unter uns leben. Stattdessen wurden sie als junge Männer in den letzten Kriegstagen in den sicheren Tod geschickt. Dieser Tod hatte nichts Heroisches, nichts Heldenhaftes; er diente keinem hehren Ziel. Dieser Tod bedeutete ganz einfach nur die Vernichtung von vielen Tausend Menschen, die gern weitergelebt hätten - genauso wie die vielen Millionen anderer Opfer des nationalsozialistischen Irrsinns.
Besorgt machen und zu noch größeren Anstrengungen bei Erinnerung und Aufklärung anspornen muss uns vor dem Hintergrund dieser Geschichte, dass sich auch bei uns in Brandenburg nicht wenige Menschen für eine Ideologie begeistern, die im vergangenen Jahrhundert ausschließlich Tod und Verderben gebracht hat. Wir müssen uns sehr ernsthaft fragen, was eigentlich heute noch an einer Gesinnung attraktiv wirken kann, die niemals - buchstäblich niemals - irgendetwas Brauchbares geschaffen, sondern immer nur Unfreiheit, Leid und Zerstörung gebracht hat.
Die im oder nach dem Krieg Geborenen werden in diesen Jahren 60, sie haben Kinder und Enkel. Die Urgroßeltern der heutigen Kinder haben den Krieg begonnen, erlebt, geführt, erlitten, überlebt. Manche von ihnen haben davon erzählt. Vieles ist dazu geschrieben und geforscht worden, viele Filme sind entstanden. Mehrere Generationen haben unter den Folgen gelitten: unter dem Verlust von Menschen und von Städten, unter dem unwiderbringlichen Verlust von Kulturgütern, unter der Flucht von Menschen, von Verwandten oder bedeutenden Geistesgrößen, die wie Albert Einstein, Thomas Mann oder Eugen Rosenstock-Huessy Deutschland für immer verlassen haben, und unter dem geschehenen Unrecht und millionenfacher Vertreibung.
Nach 60 Jahren dankbar an die Befreiung zu erinnern und der Toten der Befreiungsschlachten zu gedenken heißt aber auch,
auf 60 Jahre Frieden in Europa zurückzuschauen. Die Juden, die größten Meister der Erinnerung von Geschichte, haben einen klaren Auftrag an jede Generation formuliert:
„Und wenn dein Sohn, dein Kind dich fragt, was ist das, so sollst du deinem Sohn, deinem Kind erzählen: Geschichte erzählen. Geschichte muss erinnert werden, weil sie sich sonst wiederholt oder historische Fehler wieder gemacht werden.“ (s. Buch Mose VI 20)
Geschichte zu erinnern, sodass sie unsere Geschichte bleibt und in unserer Seele als ein Teil von uns brennt, ist wichtiger geworden, weil es schwieriger wird.
Meine Generation ist nach dem Krieg und im infolge der deutschen Schuld geteilten Deutschland groß geworden. Wir haben Deutschland nicht nur in seiner Zerstörtheit und internationalen Ächtung erlebt, sondern uns von nahe stehenden Menschen erzählen lassen, was sie erlebten. Wir haben den Krieg und seine Folgen überwinden müssen und erlebt, wie sich Deutschland seinen Platz in der UNO und der Völkergemeinschaft wiedererkämpfte. Wir haben Normalisierung als etwas nicht Selbstverständliches, sondern als Erkämpftes und Zugestandenes erlebt.
Anders unsere Kinder: Sie werden - dank unserer jahrzehntelangen Anstrengungen - in einem geachteten, wohlhabenden Staat mitten in der Europäischen Union groß. Mit ihnen und für sie müssen wir jetzt, 60 Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten, Wege und Formen der Erinnerung finden - in Ravensbrück und Sachsenhausen, in Seelow und Halbe, in Berlin, Potsdam und Dresden -, die das Leid der Menschen und die Kraft, die die Zerschlagung des Nationalsozialismus kostete, wieder präsent machen. Jede Zeit findet ihre Form und muss ihre Form der Erinnerung finden. Das Erinnerte bleibt gleich, aber die Sprache des Erinnerns ändert sich und muss sich ändern.
Anne Frank und die vielen publizierten Dokumente aus den zwölf Jahren des - den Alliierten sei Dank - nicht tausendjährigen Reiches sprechen unmittelbar zu uns. Auschwitz, Treblinka, Buchenwald und Sachsenhausen sind immer transparenter zu Orten der Erinnerung und des Gedenkens geworden. Sie klagen an und öffnen zugleich Wege, das Vergangene präsent zu machen.
Aber wie hat sich die wichtige Welt der Bilder der Erinnerung verändert: von „Die Mörder sind unter uns“ über „Jakob der Lügner“ zu „Schindlers Liste“, „Der Pianist“, Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ und dem rumänischen Film „Der Zug des Lebens“, die die Schwere der Geschichte in einer neuen Leichtigkeit zeigen, bis hin zu den Filmen „Der Untergang“ oder „Napola“. Wir verstehen diese Filme. Sie helfen uns, unsere Geschichte neu und besser zu verstehen. Aber unsere Kinder brauchen wegen der Distanz von 60 Jahren dabei unsere Hilfe.
Aber nicht nur sie, sondern alle, die meinen, 60 Jahre danach müsse man auch mit Rechtsextremen oder Rechtsradikalen seinen Frieden machen und könne sie wieder wählen, denn auch die hätten doch gelernt und leugneten nicht alles, was geschehen sei.
Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen mehr offene gesellschaftliche Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus. Dabei darf es nicht darum gehen, junge Leute, die zu wenig über diese Zeit wissen oder den rechten Rattenfängern auf den Leim gegangen sind und nur die üblichen dummen Parolen draufhaben, zu tadeln, zurechtzuweisen. Sprechverbote helfen uns nicht weiter. Entscheidend ist tatsächlich die offene Diskussion, um überhaupt erst einmal Neugierde zu wecken und das Denken in geschlossenen Systemen aufzubrechen.
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir die Möglichkeiten der Erinnerung und des Gedenkens in diesem Jahr nutzen. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird immer wichtiger, sich an die Ereignisse von vor 60 Jahren zu erinnern, an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee, an die endgültige Befreiung Deutschlands von der faschistischen Gewaltherrschaft im Mai 1945. Denn die Zahl der Menschen, die das Geschehen vor sechs Jahrzehnten noch unmittelbar selbst erlebten, nimmt ab. Selbst wer als Jugendlicher in den letzten Kriegstagen von den Nazis noch in den Volkssturm gepresst wurde, steht heute an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt. Umso bedeutsamer wird das bewusste Erinnern an jene Zeit, damit auch künftige Generationen dafür sorgen, dass in Deutschland nie mehr eine so menschenverachtende Diktatur Macht über Menschen bekommt.
Die Leiden, die die faschistische Herrschaft und der von ihr ausgelöste Krieg über andere Völker und am Ende auch über das eigene Volk brachten, Völkermord an den Juden, die industriemäßige Vernichtung angeblich minderwertigen Lebens und von Anderslebenden und Andersdenkenden, von Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen, all dies darf niemals vergessen werden.
Wie hat es Kurt Kretschmann, Wehrmachtsdeserteur und Nestor des deutschen Naturschutzes, so treffend formuliert?
„Zwölf Jahre Faschismus. Millionen verloren ihr Leben. Ein solches Verbrechen hat es zuvor noch nicht gegeben. Nie dürfen wir vergessen, wer der Schuldige war, was damals unter Hitler in Deutschland geschah.“
Zu erinnern ist auch daran, dass die Rote Armee nicht nur den Geschundenen in den Konzentrationslagern die Befreiung brachte; das deutsche Volk wurde unter einem ungeheuren Blutzoll von den Soldaten der Roten Armee und der anderen Armeen der Anti-Hitler-Koalition befreit. Erst diese Tat ermöglichte die Stunde null in Deutschland, einen Neuanfang, der das zunächst für Jahrzehnte geteilte und später wiedervereinigte Land in die Gemeinschaft der Völker zurückführte.
Deutschland wurde von einem diktatorischen Regime befreit, das die in Weimar begründete Republik vernichtete, die 1918 beschlossene Verfassung liquidierte, die Organisationen der Sozialdemokraten und der Sozialisten in die Illigalität trieb und die bürgerlichen Parteien auflöste.
Wer dieses Verdienst der Befreiung, das den Anti-Hitler-Armeen zukommt, kleinreden oder vergessen machen will, vergeht sich an der Geschichte. Auch die These vom Präventivkrieg gegen die Sowjetunion, wie sie von rechtsextremen Parteien wie NPD und DVU unverhohlen verbreitet wird, ist eine Lüge. Hitler und seine Führungsriege strebten die Weltherrschaft an. Diese Pläne konnten zum Glück durchkreuzt werden.
Unser Gedenken dient nicht nur der Erinnerung an die Millionen Opfer, sondern auch der Tatsache, dass sie ihr Leben nicht umsonst verloren.
Sicher, viele Deutsche erlebten insbesondere die Rote Armee zunächst nicht als Befreier. Der Krieg war mit seiner ganzen Brutalität an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Darunter hatte - wie wir wissen - vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden. Ein Kampf hoch gerüsteter Militärmaschinerien auf Leben und Tod kann kein menschliches Antlitz haben. Krieg ist immer ein Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt.
Gerade der Zweite Weltkrieg hat auf grausame Art bewiesen: Kriege werden in Herrschaftsinteressen geführt. Tod und Leid Unschuldiger werden dabei in Kauf genommen.