Protocol of the Session on November 25, 2004

Gleichaltrige Kinder in einem Dorf gibt es kaum noch. Viele Eltern sind von Zukunftsängsten, Arbeitslosigkeit und Geldnöten betroffen. Diese Ängste - in der DDR kannte man sie nicht - prägen heutzutage die Kinder.

(Beifall bei der PDS - Bochow [SPD]: Haha!)

Ähnlich sehen die Unterschiede in der Bildung aus. Nach jahrelang kontinuierlichen Lehrplänen zog im Jahr 1990 die Experimentierfreudigkeit in ostdeutsche Schulen ein. Rechtschreibfehler waren bei so genannten Laufdiktaten nicht wichtig. Wichtig war, wie viele richtige Buchstaben in einem Wort erkannt wurden.

Nachdem die brandenburgische Bildungspolitik in den unterschiedlichen Ländervergleichen so versagt hat, ist eine umfassende Bildungsreform dringend notwendig.

(Beifall bei der PDS)

Nach 15 Jahren sich stetig verschlechternder Bildungspolitik hat im Wahlkampf jede Partei für eine Bildungsreform gekämpft. Wir hatten es in der Hand. Was geschah? Das von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Modell wurde von Ihnen, meine Damen und Herren der Landesregierung, nicht ernst ge

nommen. Der Bildungsminister wurde gewechselt, aber dass der neue die Defizite der Bildung aus seiner früheren Arbeit nicht angeht - er ist leider nicht hier -, spricht für den weiteren Abwärtstrend in der Brandenburger Bildung.

Wenn die Schule abgeschlossen ist, stehen die meisten Jugendlichen vor einem neuen Problem: Wie geht es weiter? Studiert man an einer Universität? Richtungswünsche sind nun realisierbar geworden. Jedoch ist aus finanzieller Sicht dieser Schritt nicht für alle möglich. Beginnt man eine Lehre? Viele verschwenden nicht einmal einen Gedanken an einen Traumberuf, sondern sehen zu, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Gibt es für sie hier keine Chance, gehen sie dahin, wo es Chancen gibt. Politik und Wirtschaft treiben Familien regelrecht auseinander.

(Beifall bei der PDS)

Bis zum Jahr 1989 hat die Mauer Menschen und Familien getrennt. Heute werden aufgrund einer wiederholt falschen Politik im Land wieder Familien getrennt.

(Unruhe bei der SPD)

Was haben Sie aus dem Politikstil gelernt, den Sie bis vor 15 Jahren erlebt und kritisiert haben? Nicht einmal nach 15 Jahren sind Sie fähig, an Sachthemen über Parteigrenzen hinweg zum Wohle der Menschen im Land zu arbeiten.

(Beifall bei der PDS)

Das erwarte ich als junger Mensch und auch jeder andere von Politik. Das wäre ein politischer Gewinn aus den Erlebnissen der Vergangenheit - nach 15 Jahren gelernter Demokratie.

(Frau Funck [CDU]: Das war früher genauso! - Birthler [SPD]: Mit Hartz-IV-Lügen gewinnt man Wahlkämpfe!)

Begreifen wir die deutsche Einheit als Chance, nicht alles zu verteufeln. Jedes System ist nicht nur gut oder nur schlecht. Sie haben doch auch dort gelebt,

(Schippel und Bochow [SPD]: Eben!)

haben noch viel mehr erlebt als ich, und zwar - Sie werden mir zustimmen - nicht nur Schlechtes, sondern auch Gutes. Den nachfolgenden Generationen sollten beide Seiten der Medaille vermittelt werden. Die Geschichtsschreibung und die Politik tragen diesbezüglich enorme Verantwortung.

Es wundert mich, dass vorwiegend Staatsmänner und Regierungen dieses historische Datum zugeschrieben bekommen. Viel zu oft werden die Menschen vernachlässigt, die auf die Straße gingen, ihren Protest äußerten und die Wende einleiteten.

Der Herbst 1989 mit all seinen Folgen ist das Ergebnis des Engagements der Ostdeutschen.

Die anfängliche Euphorie, die Freude zu reisen, das Bestaunen der bunten Einkaufsregale und der Auswahlmöglichkeiten hielten nicht lange an. Schnell kehrte die Realität zurück: Fabrikstilllegungen, Firmeneröffnungen und Firmenschließungen, Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Abwanderung.

Jeder Mensch hat nun die Möglichkeit, sein Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten: Er kann reisen, wohin er möchte, wohnen, wo es ihm gefällt, und kaufen, was ihm beliebt. Jeder kann sich nach seiner Fasson bilden, am Kulturleben teilhaben und Sportveranstaltungen besuchen. Jeder kann so viele Kinder haben, wie er will. All diese Möglichkeiten stehen jedem Menschen in Deutschland offen, wenn - und das ist der Knackpunkt, an dem diese Gesellschaft krankt - das Geld vorhanden ist.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Wenn das nicht gegeben ist, wird den Menschen die gesellschaftliche Teilhabe aberkannt: Geld als Eintrittskarte in das gesellschaftliche Leben - ein Ausgrenzungsmittel, das vor 15 Jahren eine neue Ära in Ostdeutschland einleitete und ab 2005 in ganz Deutschland einleiten wird.

Besinnen wir uns nach 15 Jahren deutscher Einheit auf moralische Werte in der Politik. Für uns sind das die Familie, Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Heißt nicht „sozial gerecht“, dass alle Kinder einen Kitaplatz bekommen können? Sie wollen doch auch, dass jeder Jugendliche einen Ausbildungs- oder einen Studienplatz bekommen kann? Sicher stimmen Sie mir auch zu, dass es gut ist, wenn Familien gegründet werden, ohne Existenzängste haben zu müssen? Meinen Sie nicht auch, dass es sozial gerecht ist, wenn jedem eine optimale medizinische Versorgung zur Verfügung steht? Also sind wir uns doch einig: Soziale Gerechtigkeit bedeutet gleiche Chancen und Rechte für alle.

Meine Damen und Herren! Als 24-Jährige appelliere ich nach 15 Jahren deutscher Einheit an Ihre Vernunft, nicht länger den parteipolitischen Ellenbogen auszufahren, sondern sich den Aufgaben des Landes zuzuwenden.

(Beifall bei der PDS)

Treten Sie in den Dialog, meine Damen und Herren!

(Lunacek [CDU]: Wir befinden uns doch gerade im Dia- log!)

Nehmen Sie endlich die Probleme in Angriff und begreifen Sie Ihre Arbeit als Grundlage für künftige Generationen! - Danke schön.

(Beifall bei der PDS - Frau Funck [CDU]: Freundschaft!)

Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Reiche.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Brandenburg 15 Jahre nach dem Fall der Mauer - quo genis? Quo vadis? - Woher kommen wir? Wo stehen wir? Wohin gehen wir?

15 Jahre sind nur im Dezimalsystem ein besonderer Abschnitt. Von alters her ist die „Zwölf“ - das Dutzend - die wichtige, die heilige Zahl. Dennoch ist es gut, dass wir über das Thema reden, denn auf dem langen Weg der deutschen Einheit ist Halb

zeit. Im Jahr 2019 werden 30 Jahre seit der deutschen Einheit vergangen sein. Dann werden wohl alle Sonderkonditionen und Sonderfinanzierungen gestrichen. Bis dahin soll und muss die deutsche Einheit gelungen bzw. vollendet sein. Mit dem Auslaufen der Sonderzahlungen des Solidarpaktes II in 15 Jahren soll die Angleichung der Lebensverhältnisse vollzogen sein. Dann also wird die 40-jährige Trennung der beiden deutschen Staaten überwunden sein.

In der Halbzeit zieht man Bilanz und nimmt Korrekturen für die zweite Hälfte vor. 15 Jahre genutzte und verpasste Chancen. Weil ich ein unverbesserlicher und leidenschaftlicher Optimist bin, sage ich: Sie halten sich die Waage. Das Glas ist halb voll. Aber, Kolleginnen und Kollegen und vor allem Herr Lunacek und Frau Steinmetzer, diese Diskussion braucht eine klare Analyse und keine Propaganda, weder von links noch von rechts.

(Beifall bei der SPD)

Man muss genau analysieren, will man zu richtigen Ergebnissen kommen. Frau Steinmetzer, meine Erinnerungen reichen weiter zurück als Ihre und unterscheiden sich von den Ihren wesentlich. Ich kann, ohne lange nachzudenken, die Namen von 15 Freunden aufzählen, die weder zur Oberschule, zur Erweiterten Oberschule noch zum Studium gehen durften.

(Beifall bei der SPD)

Die Mauer ist vor 15 Jahren nicht gefallen, Herr Lunacek, sondern - till down this wall - die Mauer ist von den Bürgern umgestürzt, überrannt und abgerissen worden. Mit dem Umstürzen der Mauer, die gegen den Willen der Bürger von der Regierung im Jahre 1961 errichtet wurde, begann eine neue Epoche, ein neues Jahrhundert. Timothy Garton Ash hat von dem „kurzen 20. Jahrhundert“ gesprochen, das von 1914 bis 1989/90 dauerte.

Der Eiserne Vorhang wurde an seiner Nahtstelle zerrissen, nachdem er in Ungarn eingerissen worden war. Dafür werden wir ewig dankbar sein, denn in Ungarn haben wir erstmals die Überwindbarkeit dieses Eisernen Vorhangs gespürt. Vor 15 Jahren war der Kalte Krieg zu Ende und Tauwetter setzte ein. Das Europa der 25 - in drei Jahren hoffentlich der 27 - konnte wachsen.

Dem Kalten Krieg folgt die heiße Globalisierung. Jahrzehntelanges Unrecht wurde beendet, aufgearbeitet und an manchen Stellen geahndet, Biografien korrigiert und Menschen rehabilitiert. Der „nachholenden Revolution von Ostdeutschland“ - ich wähle bewusst das habermassche Beiwort von über 40 verschiedenen Revolutionsbeiwörtern - folgten die „Samtene Revolution“ von Prag und die „Ein-Schuss-Revolution“ von Bukarest usw.

Damit ist die Grundlage für unsere Arbeit im Brandenburger Landtag gelegt worden. Als Wilhelm Pieck Otto Grotewohl 1946 zum Handschlag zwang, den Millionen Menschen 43 Jahre lang in ovaler Form am Revers trugen, wurde mit dem Bau der Mauer begonnen. Das war das Fundament, auf dem die DDR und die Nationale Front gegründet wurden. Auf beiden Seiten des Hauses gibt es Erinnerungen an diese Zeit.

Vor diesem Hintergrund sind die Ost- und Westmark eingeführt worden. Der nächste Schritt der Grundsteinlegung der 28 Jahre

stehenden Mauer - sozusagen die Stahlbewährung des Fundaments - war die Einführung der künstlichen Bezirksstruktur, die eine Grundlage des demokratischen Zentralismus und der Diktatur der Arbeiterklasse war. Die Länder wurden zerschlagen. Damit war uns die Arbeitsgrundlage entzogen.

Die zynisch „antifaschistischer Schutzwall“ genannte Mauer, die nicht das Eindringen von außen, sondern das Fliehen von innen verhindern sollte, ist von denen, die zum 40. Jahrestag der DDR die 1946 eisern ergriffene Hand entrissen haben, von denen, die „Demokratie jetzt!“ verlangten oder ein „Neues Forum“ für offene Gespräche gründeten, oder von denen, die den „Demokratischen Aufbruch“ wagten, umgestürzt worden.

Ohne, wie Tucholsky vermutete, vorher eine Bahnsteigkarte zu lösen, haben erst Tausende, dann Hunderttausende die Mauer überrannt, nachdem zwei Millionen Menschen, die vorher gegangen waren, in über 40 Jahren am Aufbau West mitgearbeitet haben. Bis die Mauer eingestürzt wurde - die Montagsdemonstrationen waren die Trompeten von Jericho -, wurde gerufen: „Wir sind das Volk!“ Aus diesem Satz wurde dann: „Wir sind ein Volk!“ - 21 % der Deutschen sagen heute: Wir auch. - 12 % der Ostdeutschen, 24 % der Westdeutschen und 21 % der Menschen in ganz Deutschland wünschen sich die Mauer heute zurück, denn sie sahen, was folgte. Damals waren wir das glücklichste Volk der Erde und heute fragen 21 % der Bevölkerung: Wisst ihr, warum die Chinesen so glücklich sind? - Die haben ihre Große Mauer noch.

Die deutsche Einheit ist im schmalen zeitlichen Fenster der Gorbatschow-Zeit organisiert worden. Eine großartig genutzte Chance, auch von Helmut Kohl. Jedoch wurde damals die Chance vertan, das Angebot von Hans-Jochen Vogel, in einer großen gemeinsamen Anstrengung der beiden großen Volksparteien nicht nur das westliche Nachkriegsdeutschland zu erweitern, sondern ein Deutschland für das 21. Jahrhundert zu bauen, das dann zum größten europäischen Staat und zum Wachstumsmotor für Europa hätte werden können, zu nutzen.

Die deutsche Einheit ist ein in der Geschichte der Menschheit einmaliges Beispiel für den sagenhaften Kapital- und Personaltransfer in so kurzer Zeit mit einem Brutto-Volumen von bis heute über 1,3 Billionen Euro. Das entspricht nicht zufällig der Gesamtverschuldungsquote. Allein 2003 waren es 116 Milliarden Euro brutto und 83 Milliarden Euro netto.

Ostdeutschland wächst; an manchen Stellen gibt es blühende Landschaften - die jetzt auch Bärbel Bohley sieht. Wir haben nicht Gerechtigkeit bekommen, aber immerhin den Rechtsstaat. Dafür müssen andere ganz anders kämpfen: von der Ukraine bis zum Sudan, von Nordkorea bis zum Irak.

Wer sehen will, was wir schon geschafft haben, muss nach Polen oder nach Tschechien fahren. Wir hatten das Privileg der frühen europäischen Geburt schon am 3. Oktober 1990 und wurden mit allen Ambivalenzen Teilgebiet des Weltexportmeisters Deutschland - nicht nur verlängerte Werkbank, aber eben auch. Viel ist kaputtgegangen, weil wir zu viel zu schnell wollten. Aber vieles haben wir erhalten und aufbauen können, weil wir uns für diesen Weg entschieden haben.