Protocol of the Session on May 22, 2003

Meine Damen und Herren Abgeordneten, wir sind Volksvertreter und sollten eines nicht tun, nämlich die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande unterschätzen. Sie erwarten klare und ehrliche Antworten. Wenn dies nicht endlich begriffen und die Agenda 2010 nicht verständlich umgesetzt wird, steckt die Politik wirklich in einer tiefen Sinnkrise. Zu viele negative Entwicklungen wurden bereits zugelassen und schöngeredet.

Die wichtigsten Reformvorhaben der Agenda 2010 betreffen den Arbeitsmarkt, die sozialen Sicherungssysteme, die Wirtschaft, die Finanzen, die Bildung, Ausbildung und Innovation. Erst gestern haben hier meine Kollegen in der Aktuellen Stunde die Entwicklungen dargestellt, die Probleme ausführlich erörtert und sinnvolle Vorschläge unterbreitet. Herr Müller hat

einiges dazu gesagt, wobei nicht alles, was er gesagt hat, nur von der SPD erfunden worden wäre.

Eine wichtige Erkenntnis sollten wir aus der Debatte auf jeden Fall noch mitnehmen: Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen in einem intensiven Dialog bleiben und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

(Beifall bei der CDU)

Wenn die Wirtschaft wieder in Gang kommen soll, müssen vor allem Arbeitsplätze erhalten und Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu muss Wirtschaft wieder wirtschaften, müssen Unternehmer wieder unternehmen und muss Hilfe denen gegeben werden, die Hilfe brauchen. Dazu bekennt sich auch die CDU, weil Sie, Herr Dr. Bisky, das so herausgestellt haben. Viele der wichtigen sozialen Gesetze sind ursprünglich einmal von der CDU gemacht worden.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der PDS: Nein, von Bis- marck!)

Zur Sozialhilfe möchte ich anmerken: Gestern wurde hier das Familiengeld erwähnt, das die CDU einführen möchte. Das ist gerade dazu gedacht, Kinder aus der Sozialhilfe herauszuholen. Es ist nicht der Ansatz, Frauen wieder an den Herd zurückzubringen. Jeder, der mich kennt, weiß, dass gerade ich diesen Ansatz nie verfechten würde. Es wäre ein völlig neues sinnvolles Instrument, über das man diskutieren und das man gegebenenfalls noch weiter entwickeln muss. Das will ich gar nicht verhehlen.

(Zuruf von der PDS: Unbezahlbar!)

- Ich sage nicht, dass es unbezahlbar ist. Auch für das Familiengeld trifft zu, was für andere Systeme zutrifft: Es soll der Klarheit und der Wahrheit dienen.

(Zuruf von der PDS: Finanzierungsvorschläge!)

Es wird eine Zusammenfassung von Leistungen geben, die jetzt in allen möglichen Systemen überall herumschwirren. Vielleicht ist das sogar eine gute Variante, weil die Menschen die Nase wirklich voll von den verschiedenen Leistungen haben, deren Inanspruchnahme für viele schwierig ist.

(Zurufe von der PDS)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist nicht unbedingt ein Signal großartiger Politik behaupten zu können, dass wir das schwierigste Steuersystem der Welt haben. Dazu kann ich nur sagen: Weg damit! Weg mit der formularisierten Bürokratie! Herr Dr. Ehler hat gestern hier an einem konkreten Beispiel ganz anschaulich vorgeführt, wohin das Ganze führt. Weg mit den überbordenden Beschränkungen! Sollen doch Arbeitnehmer und Arbeitgeber das für den Betrieb aushandeln, was notwendig ist. Dabei folge ich allerdings nicht - das brauchen Sie mir gar nicht erst zu unterstellen - den Theorien einer reinen Marktwirtschaft. Ich stehe zur sozialen Marktwirtschaft. Aber starten wir doch bitte endlich in eine wirkliche Offensive für Wirtschaft und Arbeit durch.

(Beifall bei der CDU)

Weg mit dem komplizierten Steuersystem, wobei ich im Zusammenhang mit dem Steuersystem mit Ihnen, insbesondere mit unserem Koalitionspartner, darüber diskutiere, wie gerecht dies zu gestalten ist.

Aber die Kehrseite der Medaille ist - das muss auch gesagt werden, denn zu den meisten Dingen im Leben gehören immer zwei Seiten -: Es muss akzeptiert werden, dass man nicht mehr für jedes und alles eine Regelung findet. Das bedeutet, dass der Einzelne mehr Eigenverantwortung für sein Handeln und die Vorsorge für sich selbst übernehmen muss. Das müssen wir den Menschen dann auch sagen, denn nur so kann nach meiner Auffassung das Verständnis, das Vertrauen gewonnen werden und das aktive Handeln gemeinsam mit Politik, Wirtschaft und Bürgern gelingen.

Leider kann man hier in zehn Minuten nicht alle Einzelpositionen in allen Facetten beleuchten, denn es gäbe noch eine Reihe von Punkten zu erörtern, die wir auch gern konstruktiv begleiten. Es gibt eine Reihe von Fehlentwicklungen, die in der letzten Zeit eingeleitet wurden. Ich denke an die Kritik des Bundesrechnungshofes zur Verschwendung von Mitteln der Bundesanstalt.

(Zuruf von der PDS: Und des Landesrechnungshofes?)

Es haben sich, wie ich glaube, doch alle sehr wissentlich bedient, wenn sie ihre älteren Arbeitnehmer in den Frühruhestand schicken wollten. Hier muss man auch ehrlich sein. Die Frage der Tauglichkeit von ABM und SAM im Bereich der sozialen Arbeit ist in der Tat zu hinterfragen.

(Klein [SPD]: Aber im Osten nötig, oder nicht?)

Zur Beschäftigung von Sozialhilfeempfängern kann ich nur sagen: Es gibt im Lande Brandenburg beispielhafte Projekte, über die man nach meinem Dafürhalten noch besser kommunizieren und die man verbreiten müsste. Wir haben schon die ersten Anfänge gemacht.

Man könnte auch über die Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit diskutieren. Den arbeitslosen Menschen ist es völlig wurscht, ob die Bundesanstalt jetzt Job-Center heißt oder ob wir Service-Agenturen haben. Das ist den Leuten egal; sie wollen Arbeit haben.

(Beifall bei der CDU)

Ich bin mir nicht sicher, ob mit diesen Umbenennungen und diesem bürokratischen Koloss diese Umgestaltung und die Aufgabenkritik, die notwendig wäre, wirklich gelingen könnte. Ich habe daran meine Zweifel. Auch die Ich-AGs sind kritisch zu beleuchten. Das Familiengeld habe ich angesprochen. Hier leuchtet aber leider die rote Lampe. Vielleicht können wir uns an anderer Stelle konstruktiv weiter unterhalten. - Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.

(Beifall bei der CDU)

Ich danke Frau Abgeordneter Schulz und gebe das Wort an die Landesregierung. Herr Minister Baaske, bitte sehr.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen schönen guten Morgen!

(Zurufe: Guten Morgen, Herr Minister!)

Herr Bisky, so richtig habe ich aus Ihrer Rede auch nichts anderes herausgehört, als dass Sie die Steuern erhöhen wollen. Was die Vermögensteuer anbelangt, kann ich mir ehrlich gesagt vorstellen, dass jetzt auch die Sozis erkennen könnten, dass es funktionieren könnte. Wir könnten uns dafür begeistern, dies zu tun. Aber selbst wenn es der Bundestag beschließen würde, wüssten wir ganz genau, dass wir im Bundesrat nicht weiterkommen. Wir werden an dieser Stelle also nicht die Lippen spitzen, wenn wir wissen, dass wir nicht pfeifen können. Das können wir nicht tun.

(Beifall bei der SPD - Unruhe im Saal)

Wir brauchen schlichtweg die Erkenntnis...

Meine Damen und Herren, ich war der Annahme, Herrn Minister Baaske das Wort erteilt zu haben.

Sie haben nachher noch einmal Rederecht. Geben Sie doch den Zettel herüber, dann kann nachher alles gesagt werden, was Sie jetzt sagen wollen.

Wir leben im Zeitalter der Globalisierung. Da muss man das vielleicht einmal auch so bewerten. Wenn wir jetzt anfingen, durch die Wohnungen zu ziehen, die Teppiche zu schätzen, anzusehen, welche Bilder dort hängen und zu fragen, wie teuer und wie wertvoll sie sind - das würde dazu gehören -, hätten wir einen riesengroßen Verwaltungsaufwand. Das darf man nicht vom Tisch wischen.

Ob die Menschen, die solche großen Vermögen haben, diese in der Bundesrepublik belassen, ist eine ganz andere Frage; denn im Zeitalter der Globalisierung kann Vermögen spielend leicht in andere Länder verlagert werden. Wir sollten die Kirche wirklich im Dorf lassen.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Wo stehen wir heute? Wir sind uns darin einig, dass wir nicht allesamt wie das Kaninchen vor der Schlange hocken bleiben dürfen, sondern etwas tun müssen. Über diese klare Erkenntnis bin ich froh. Wenn wir uns darüber verständigen können, kommen wir auch weiter.

In Brandenburg ist die Zahl der Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfänger zusammen so groß wie die Einwohnerzahl der kreisfreien Städte, vom Säugling bis zu den Großeltern. Das ist die Dimension, über die wir reden. Angesichts dessen brauchen wir Veränderungen; es darf kein „Weiter so!“ geben. Wir müssen die Probleme anpacken. Ich bin froh darüber, dass wir an der Agenda 2010 nicht nur Feinjustierungen, sondern substanzielle Änderungen vornehmen konnten. Das intensive Mitwir

ken Brandenburgs hat dazu geführt, dass eine Ostkomponente eingebracht worden ist, die vieles klarstellt.

Ich gebe zu, dass ich mit dem Duktus der Agenda - Verkürzung der Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld auf zwölf bzw. 18 Monate, nach dem Motto „Wenn mehr Druck gemacht wird, finden die Menschen auch Arbeit.“ - anfangs große Probleme hatte. Das Thema ist - bis hin zum Kanzler - „gegessen“; dieser Duktus ist verschwunden.

Es geht darum, dass wir mit dem eingesparten Geld mehr erreichen wollen. Ich komme gleich darauf zu sprechen, wie das funktionieren kann und sollte.

Die Ostkomponente beinhaltet, dass wir auf Sicht einen öffentlich geförderten zweiten Arbeitsmarkt sowohl im Osten als auch in strukturschwachen Regionen des Westens haben werden.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Es gibt eine weitere wichtige Aussage: Jeder junge Mensch erhält ein Ausbildungs- bzw. Arbeitsangebot. Davon sind wir gegenwärtig noch weit entfernt. Wenn er das Angebot ausschlägt, muss er mit den Konsequenzen in Form von Leistungskürzungen klarkommen.

Es wird ein Sonderprogramm für die Arbeitsfördergesellschaften und die Kommunen aufgelegt. Damit kann vor Ort sinnvolle Arbeit insbesondere für die Zielgruppen der unter 25-Jährigen, der Langzeitarbeitslosen und der über 55 Jahre alten Arbeitslosen organisiert werden. Das ist ein Gewinn, der erst im Nachhinein erzielt werden konnte. In der Agenda ist das jetzt aber so festgeschrieben.

Die Wirtschaftsförderung soll im Osten, insbesondere in den „strukturschwachen Gebieten“ - so lautet die Formulierung -, auf hohem Niveau fortgeführt werden. Zudem wird die Möglichkeit einer „Lex Ost“ geprüft. Damit könnten wir im Osten bezüglich des Abbaus von Bürokratie, besonders im Planungsrecht, den Vorreiter spielen. Wir könnten zeigen, dass durch vermehrte Flexibilität, durch die Beseitigung von Hürden, die wir im Zuge der Vereinheitlichung der Rechtssysteme aufgebaut haben, mehr bewirkt werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Die Infrastrukturförderung wird verstetigt. Weiterhin ist festgelegt, dass besonders in strukturschwachen Regionen in die Forschung investiert werden soll.

Die Regelung des Bezugs von Arbeitslosengeld ist ein wichtiger Punkt. Ich habe gesagt, dass wir, auch wenn wir uns auf das Niveau der Sozialhilfe zubewegen, in einigen Bereichen Geld sparen wollen, um es an anderer Stelle einzusetzen. Wir müssen uns die aktuelle Situation vor Augen halten: Trotz aller Bemühungen werden gerade einmal 16 % der Sozialhilfeempfänger angesprochen und in irgendwelche Tätigkeiten vermittelt. Die entsprechende Quote unter den Arbeitslosenhilfeempfängern liegt bei 21 %. Angestrebt wird nunmehr eine Aktivierungsquote von mindestens 30 % für all diejenigen, um die man sich in den letzen Jahren kaum noch kümmern konnte, weil in dem System nicht genügend Geld vorhanden war. Wenn man sich von der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozial

hilfe begibt und dies mit einer erhöhten Beteiligung finanziert wird - in dem Sinne, dass dem Betroffenen ein konkretes Angebot unterbreitet wird -, dann muss dies doch dagegen aufgewogen werden! In das System fließt wieder Geld, das dafür verwendet werden kann.