Protocol of the Session on September 21, 2000

Wer die Szenen der Maueröffnung. die sich in Berlin anschlossen. je vergessen wird. der scheint mir in der Tat ein armer Tropf zu sein. Aber Willy Brandt hat uns auch mit auf den Weg gegeben, damals noch beim SDP-Parteitag in Leipzig:

_Der Zug in die deutsehe Einheit ist ins Rollen gekommen und wir müssen darauf achten. dass niemand unter die Räder kommt."

(Beifall bei SPD und PDS)

Meine Damen und Herren, Deutschland ist nun seit zehn Jahren geographisch und staatlich eine wiedervereinte Nation in einem zusammenwachsenden Europa. Nach 40-jähriger Teilung der Nation. nach 28 Jahren Stacheldraht und Mauer. nach dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Ostblocks haben vor allem die Bürger der ehemaligen DDR 1989 diesen Erfolg der Wiedervereinigung eingeleitet und erruneen und darauf können sie stolz sein.

(Beifall bei SPD und CDU)

Stolz sein können wir aber auch - das gehört zur geschichtlichen und objektiven Wahrheit -. dass dieser schwierige Prozess in Deutschland ohne Blutvergießen vonstatten ging. Viele Brandenburger waren 1989/90 dabei. als es darum ging. die demokratischen Rechte in der DDR durchzusetzen. In Potsdam. in Frankfurt. in Cottbus. in Berlin. in Leipzig und in vielen anderen Orten unseres Landes war man engagiert dabei. Viele unserer Abgeordneten waren bereits damals engagiert dabei und sind es heute noch. Sie haben den Prozess des Aufbaus in den Kommunen und im Land vorangetrieben. Ich möchte allen Aktiven aus dieser Zeit. die es bis heute nicht aufgegeben haben. sich für ihr Land einzusetzen. ein herzliches Dankeschön sagen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Es ist richtig, dass es nur ein sehr kurzer historischer Moment in der Geschichte war, in dem diese Wiedervereinigung geschah. Die Zustimmung der Alliierten musste erreicht werden. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mussten geführt werden. Der Abzug der alliierten Tnippen war Voraussetzun g für den Beitritt der ehemal igen DDR zum NATO-Gebiet. Die schnelle Einführung der D-Mark musste organisiert werden. Das geschah zu einem Zeitpunkt. zu dem wir nur bedingt vorbereitet waren. Wir mussten die Willschafts- und Sozialunion ausfüllen. Die Erweiterung der EU bis an Oder und Neiße wurde vollzogen. Die Anerkennung des internationalen Status quo. wie er sich in der Folge des Zweiten Weltkrieges entwickelt hat. war ein wichtiger Punkt. uni das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn nicht zu gefährden.

Die Anerkennung der Bodenreform war ein wesentlicher Schritt. Die Ausarbeitung des Einigungsvertrages war ein ebenso wichtiger Schritt. wobei man hierbei sicherlich sagen muss. dass federführend dabei die andere Seite war. was zu einigen Ecken und Kanten geführt hat. Wir haben darüber schon einiges gehört.

Eines muss man festhalten: Jedes einzelne dieser Probleme heute anzufassen. heute lösen zu wollen, würde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Jetzt sind wir richtig angekommen in den Mechanismen politischer Willensbildung, gesetzgeberischer Verfahren und der Bürokratie. Damals musste das in Tagen. teilweise in Stunden entschieden werden. Es gibt in der Geschichte der Menschheit - glaube ich - keinen vergleichbaren Vorgang.

Dass es trotz dieser vielen zu lösenden Probleme gelang, diesen historischen Moment zu nutzen und unser Land wieder zu vereinigen. ist vor allem der ersten und zugleich letzten frei gewählten DDR-Volkskammer zu verdanken. der Regierung unter Lothar de Maiziere und der Bundesregierung unter Helmut Kohl, aber auch der Bereitschaft der Regierungen der Sowjetunion. der LISA. Großbritanniens. Frankreichs und unserer östlichen Nachbarn. Etwas vorsichtiger, diplomatischer formuliert. als es Oskar Lafontaines Art seinerzeit war, vielleicht auch heute noch ist. aber auch damals nicht sehr populär, nicht sehr gern gehört. trotzdem sehr richtig, wichtig und wahr.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

leh denke, es lohnt sich heute an diese Zeit zu besinnen. Wer

erinnert sich schon an die Verhältnisse von 1990 so genau? Wer will sich überhaupt noch so genau erinnern? Es gab ein paar spannende Phasen. z. B. als über Nacht sämtliche Geschäfte plötzlich leergeräumt waren. Man wusste gar nicht wohin mit den vielen Konservendosen. Heute wären sie wahrscheinlich Sondermüll. damals sind sie auf der Kippe entsorgt worden. In den Regalen stand alles voller bunter Westprodukte. Jetzt haben es unsere Produkte schwer. wieder Marktanteile zu erreichen. Wenn wir über die Verhältnisse klagen. in denen wir jetzt leben. klagen wir im Verhältnis zu damals auf vergleichbar hohem Niveau. Das sollten wir nicht vergessen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt hei der CDU)

Es ist viel passiert in den zehn Jahren. Neben der Errungenschaft der persönlichen Freiheit und Demokratie ist die durchschnittliche Anhebun g des Lebensstandards vollzogen worden. ich betone ausdrücklich: die durchschnittliche Anhebun g. denn die Spreizung des Lebensstandards innerhalb der Bevölkerung hat sich leider auch Westverhältnissen angepasst. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit kommt dabei immer wieder von Neuem auf. Die Entwicklung von Infrastruktur. von Straßenbau. von Telekommunikation, von Wasser v ersorgung und Abwasserentsorgung. von Krankenhäusern, von Pflegeheimen, von Sozialstationen. von Bildungseinrichtungen, von sozialem Wohnungsbau usw. ging in einem enormen Tempo vonstatten.

Die Versorgung der Bevölkerung nm Waren des täglichen Bedarfs und mit medizinischen Dienstleistungen wurde innerhalb weniger Wochen sichergestellt. wenn sie überhaupt unterbrochen war. Der Aufbau von funktionierenden Verwaltun gsstrukturen war im Jahr 1991 bereits zu einem vorläufigen Abschluss gebracht worden. Das hat sehr viel Kraft, Mühe und Engagement gekostet. war mit sehr viel Fleiß vor allen Dingen von Leuten von hier und von Partnern aus den alten Bundesländern verbunden. Wir haben die Verwaltungsunterstützung damals gern in Anspruch genommen. Wir müssen für diese Solidarität unsere Dankbarkeit aussprechen. aber auch anmahnen. dass wir sie noch eine Weile brauchen. Ohne die Hilfe aus dem Westen wären wir heute nicht dort. wo wir heute sind.

( Beifall bei SPD und CDU)

Wir haben - hiermit meine ich das Land Brandenburg - aber nicht nur auf die Hilfe von außen gewartet, sondern zu einem vergleichsweise hohen Preis Eigenleistungen erbracht. Die Entwicklung der Infrastinktur im Land, die Wirtschaftsförderung und Ähnliches haben eine hohe Kreditaufnahme zur Folge gehabt. die seinerzeit wichtig war, um den heutigen Stand zu erreichen. heute aber der Finanzministerin und uns allen die entsprechenden Probleme bereitet. Lediglich die erste Hälfte zur Angleichung der Lebensverhältnisse ist geschafft worden. sagte Bundeskanzler Schröder im August 2000.

Natürlich hat uns der Systemwechsel nicht nur blühende Landschaften gebracht. aber das haben wir wohl damals auch nicht so erwartet. Ob der Autor dieses Ausspruchs sich so ganz sicher war. weiß ich nicht. Wir haben erlebt, dass 40 Jahre der Trennung, dass 40 Jahre unterschiedlicher Entwicklung in beiden deutschen Staaten die Menschen doch mehr entfremdet haben als ursprünglich angenommen. Der Abbau dieser Entfremdung in den Köpfen - es ist nicht nur die Mauer in den Köpfen. nicht nur Kontrahaltung, sondern es ist die unterschiedliche Sozialisation - wird vermutlich eine Generation benötigen. Es ist umso erfreulicher. dass die heutigen Jugendlichen diese Entfremdung nicht mehr so stark empfinden und ganz selbstverständlich mit der netten Realität im gemeinsamen Deutschland umgehen.

Trotzdem sagen wir immer noch Plastik und Plaste. Wenn ein Ostbürger aus seiner Vergangenheit plaudert und von seiner

Brigade berichtet. dann denkt manch alter Haudegen an drei Regimenter. Oder irre ich?

(Heiterkeit und Beifall bei der PDS - Vereinzelt Beifall hei der SPD)

Nicht nur das subjektive Empfinden, sondern die handfesten objektiven Realitäten sorgten für eine schnelle Ernüchterung nach 1990: der sprunghafte Anstieg von Arbeitslosigkeit als Folge des Wegbrechens der Ostmärkte. was man hätte wissen müssen - es wird immer behauptet. das sei nicht absehbar gewesen -. und der enorme Sanierungsbedarf der Finnen in der harten Wettbewerbssituation. Das war zwar erwartet worden, aber wohl nicht in einem derartigen Ausmaß und vor allem von einer derart langen Dauer.

Zur San iening der DDR-W inschaft wurde die Treuhandanstalt geschaffen. Der Gedanke. mit dem durch Privatisierun g eingenommenen Geld die Wirtschaft und die Infrastruktur zu sanieren. war richti g, aber unter dem Strich vielleicht doch eher ein bescheidener Erfolg...Privatisierung vor Sanierung" - das war das Konzept. Manchmal muss man die Frage stellen: War es immer und an jeder Stelle richtig'?

Wenn wir uns heute die finanziellen Verhältnisse der Treuhandanstalt anschauen. dann muss man im Rückblick und mit den heutigen Vergleichsmög lichkeiten diese durchaus als relativ geordnet defizitär einstufen: denn was sich heute bei der EXPO unter gleicher Führung vollzieht. ist fast noch beeindruckender.

( Beifall hui SPD und PDS)

Die sozialen Probleme. die mit der Arbeitslosigkeit und nicht nur mit dem Verlust von Arbeitseinkommen zusamntenhängen. waren der Mehrzahl der DDR-Bürger unbekannt und schufen neue Probleme. Die Unzufriedenheit und das diffuse Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Macht des Geldes und der Macht der Bürokratie sind in vielen Familien eine Ursache für die zunehmende Aggressivität vor allem einiger Jugendlicher, die besonders gefährlich wird, wenn sie mit extremistischem und ausländerfeindlichen, Gedankengut verstärkt wird. Es ist gut. dass der Landtag heute trotz aller Geburtswehen zu einer gemeinsamen Erkläning zu diesem Thema kommt.

(Allgemeiner Beifall)

Ich glaube. eines dürfen wir nicht vergessen: Wenn rechtsextreme Parteien in Brandenburg Menschen mit rechtsextremer Gesinnung sammeln, dann sammeln sie - so schlimm es ist, dass sie es tun - das, was da ist. Und darin liegen die eigentlichen Ursachen. Menschen, die mit ihrer Gewaltbereitschafi und Menschenverachtung die Grundpnnztpien menschlichen Zusammenlebens verlassen, werden hier eingesammelt. An der Stelle muss unsere Arbeit ansetzen. H ier muss Einfluss genommen werden.

Lassen Sie mich hier, weil es einfach existenziell ist für die Geschichte der Menschheit, einen ganz großen Bogen schlagen. Als Moses am Berg Sinai die Zehn Gebote in Empfan g. nahm. war auch das Fünfte dabei:.,Du sollst nicht töten."

Als wir „Wie der Stahl gehärtet wurde" lasen. kam darin der schöne Satz vor

(Zuruf von der CDU: Pawel Kortschagin hat ihn uesagt!)

- Pawel Kortschagin hat ihn gesagt, richti g, -:

„Das Kostbarste. was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben."

1270 Landtag Brandtnburg Wahlperiotk• - l'Iolarprotokoll 3 21 - 21. September 20.90

Und dann gehen wir noch ein paar Jahre weiter und lesen im Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland:

..Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Wenn wir diesen Bogen. der durch alle Gesellschaftsordnungen in allen Jahrhunderten gegolten hat. verlassen. gefährden wir die Existenz der Menschheit.

(Beifall hei SPD und PDS sowie vereinzelt bei der CDU)

- Da die rote Lampe blinkt, komme ich zum Schluss. um nicht vorn Präsidenten abgenabelt zu werden.

Meine Damen und Herren. ich glaube. wir können durchaus mit Selbstbewusstsein sagen: Es ist sehr viel geschafft worden in den letzten zehn Jahren. aber es ist auch noch sehr Ich zu tun. Die Hände in den Schoß zu legen wäre das Falscheste. was wir tun können. Es wird uns gelin gen. auch aus Brandenburg ein erfolgreiches Bundesland zu machen, nicht in re gionalem Egoismus. sondern gemeinsam mit den anderen Bundesländern.

Lassen Sie mich zum Schluss zum Anfang zurückkehren und dieses wirklich auch als Anfang und Beginn für unsere zukünftige Arbeit betrachten:

„Lass uns dir zum Guten dienen. Deutschland, einig Vaterland.

(Beifall bei SPD und PDS sowie vereinzelt bei der CDU( Vizepräsident Habernranie Ich danke dem Abgeordneten Fritsch und erteile das Wort der Fraktion der DVU, der Frau Abgeordneten Fechner. Frau Fechner (DVU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir in einigen Tagen den 10. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands feiern, dann erfüllt es auch die Fraktion der Deutschen Volksunion mit Freude. dass es wieder ein einheitliches Deutschland gibt.

Wir in den neuen Bundesländern haben durch eine friedliche Revolution dafür gesorgt, dass die Grenze geöffnet und Deutschland wieder eins wurde. Westdeutsche Politiker der Ahparteien haben sich nach dem Mauerfall lediglich als Trittbrettfahrer betätigt, denn erst als die Revolution nicht mehr aufzuhalten war. entdeckten sie plötzlich wieder die Präambel des Grundgesetzes mit der Forderung nach der Wiedervereinigung des deutschen Volkes.

Als Erich Honecker 1987 in der alten Bundesrepublik weilte. wurden für ihn sogar die roten Teppiche ausgerollt. Er wurde empfangen wie ein Staatsgast. Die endgültige Anerkennung der DDR durch die damalige Bundesrepublik war nur noch eine Frage der Zeit. Man kann heute rückblickend sagen. dass unter Kanzler Kohl ab Mitte der achtziger Jahre die Forderung nach der Wiedervereinigung aufgegeben wurde.

(Zuruf von der CDU: Was?)

Die Teilung Deutschlands schien endgültig besiegelt. Nur die nationalen Kräfte in Westdeutschland. allen voran die Deutsche Volksunion.

(Gelächter bei der PDS)