Regina van Dinther

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe weder das große noch das kleine Latinum und bin bekennende Hauptschulabsolventin. Bevor wir möglicherweise gleich in eine unserer üblichen Schulstrukturdebatten einsteigen, möchte ich mit einem klaren Bekenntnis zur eigenen Herkunft auf eines aufmerksam machen und zu einigen grundsätzlichen Dingen meine Gedanken äußern.
Wir leben in einer Zeit, in der Gott sei Dank, aber auch leider Gottes alles möglich ist – sowohl mit Hauptschulabschluss Ingenieurin und Landtagspräsidentin zu werden als auch mit Abitur und Studium Taxifahrer. Wir reden gleich über Kinder und Jugendliche, ein jedes einzigartig in seinen Begabungen und Fähigkeiten. Unsere Kinder haben aber einen Rucksack – ein Päckchen – zu tragen, den wir Erwachsenen ihnen sehr unterschiedlich packen.
Nehmen wir die Kinder des Bildungsbürgertums, die es oft immer schwerer haben, den Idealen ihrer Eltern zu entsprechen oder gar deren Qualifikation noch zu toppen. Das hatte keine Generation vor ihnen zu leisten.
Nehmen wir Kinder, die in materieller Armut aufwachsen, oft bei alleinerziehenden Elternteilen, Kinder, die emotional vernachlässigt werden, Kinder mit Migrationshintergrund, denen zu Hause nur wenig Unterstützung bei der Bewältigung ihres Schulalltages gegeben werden kann, Kinder, die häufig genug zwischen zwei Welten hin und her gerissen werden.
Denken wir an Jugendliche, die in der Pubertät – ich glaube, alle Generationen haben mit dem Erwachsenwerden gekämpft, meine Damen und Herren – häufig schon so viele Misserfolgserlebnisse eingesammelt haben, dass sie nur noch mit trotzigem Machogehabe ihre Situation überhaupt ertragen können, junge Menschen, die den Stempel „chancenlos“ auf der Stirn tragen und nicht wissen, was sie für ihr Leben eigentlich überhaupt noch träumen sollen, junge Menschen in einer immer unüberschaubareren globalisierten Welt des Wissens.
Insofern wundern wir uns nicht über den Hilfeschrei der Berliner Hauptschule. Aber wir sollten sehen, dass dort Fehler gemacht wurden – Fehler, die wir hier in Nordrhein-Westfalen vermeiden müssen und auch vermeiden können. Wir dürfen meines Erachtens nicht in einen Abgesang auf unsere Hauptschulen einstimmen.
Das haben weder die Lehrerinnen und Lehrer noch die Schülerinnen und Schüler oder die Eltern dieser Schulform verdient. Und sie haben es schon zu oft erlebt.
Meine Damen und Herren, in meiner Großfamilie, in der ich lebe, haben wir insgesamt 13 Kinder. Alle sind unterschiedlich begabt. Sie gehen in den Kindergarten, in Grundschulen, in Realschulen, in Gymnasien, aber auch in die Hauptschule. Daher weiß ich ganz aktuell, dass es in NordrheinWestfalen ganz tolle Schulen und ganz schlechte Schulen gibt. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die unsere Kinder begeistern und sie zu kleinen Persönlichkeiten erziehen, und welche, denen man anmerkt, dass sie möglicherweise den Beruf total verfehlt oder inzwischen die Freude an ihrer Arbeit verloren haben.
Ja, es trifft tatsächlich zu: Schule ist schwieriger geworden. Gerade Hauptschulen kriegen das zugemutet, was sich andere Schulen nicht mehr
zumuten wollen. Dennoch ist auch hier vieles durchaus noch im grünen Bereich. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch an den Hauptschulen trotz aller Schwierigkeiten viele motivierte Lehrerinnen und Lehrer arbeiten. Das beweist zum Beispiel das Projekt „Zeitung 4 you – Nachrichten für die Schule“, das erst Anfang März gestartet ist und bei dem sich innerhalb von zehn Tagen bereits über 800 Klassen aus mehr als 500 Hauptschulen angemeldet haben. Bei insgesamt 730 Hauptschulen im Lande ist das ein wirklich toller Erfolg.
Meine Damen und Herren, wo wir in Zukunft noch stärker helfen müssen, sollten wir das auch ganz unaufgeregt tatsächlich tun.
Zum Beispiel müssen wir die Eingangsklassen der weiterführenden Schulen besser durchmischen. Die Hauptschule darf keine Restschule bleiben.
Auch müssen wir die Lerngruppen verkleinern. Gerade in Gebieten mit hohem Anteil ausländischer Kinder oder in sozialen Brennpunkten ist das die einzige Möglichkeit, dass diese Kinder Chancen bekommen.
Wir müssen gerade in die Hauptschulen die allerbesten Pädagogen schicken – unterstützt von Schulpsychologen, aber auch unterstützt von Praktikern. Wir müssen gerade in Hauptschulen Ganztagsunterricht anbieten und den Kindern mehr Zeit widmen. Dazu müssen wir die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen garantieren; denn nur die Chance nach oben bietet auch die Bildungsmöglichkeit für alle Kinder. Wir müssen Netzwerke knüpfen, damit sich Kinder in Ehrenamt und Praktikum ausprobieren können und neue Lebensperspektiven bekommen.
Meine Damen und Herren, all dies bewegt sich gerade in diesem Land. Das darf meines Erachtens auch nicht schlechtgeredet werden.
Schulen brauchen Ruhe, und Schulen brauchen gute und bessere Rahmenbedingungen.
Meine Damen und Herren, gerade wenn wir die Berliner Situation nehmen, muss uns allen klar werden, dass Bildung aber nicht nur die Vermittlung von Wissen sein kann. Gewalt und Eskalation – das sind im Übrigen meistens Probleme, die Jungen haben, weniger Mädchen – zeigen, wie
wichtig die Vermittlung von Regeln ist. In keiner Gemeinschaft kann man ohne Regeln leben. Deshalb geht es vor allen Dingen auch darum, unseren Kindern Werte und Regeln zu vermitteln, die Schule überhaupt erst möglich machen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern, aber auch zusammen mit den Eltern diese Werte und Regeln vermitteln helfen! Verbreiten wir deshalb die besten Beispiele im Land, indem engagierte Pädagogen Schulkonzepte entwickeln, die jeden Praxistest bestehen! Und hören wir auf, die Hauptschulen schlechtzureden!
Geben wir den Schulen die Freiheit! Stärken wir Lehrerinnen und Lehrern den Rücken! Lassen wir kleine Einheiten zu! Schließlich Kinder brauchen überschaubare Lebenswelten. In Mammutschulen dagegen gehen Kinder verloren. In Mammutschulen können wir Kindern nicht helfen.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir in Nordrhein-Westfalen einen Integrationsminister haben, der uns auffordert, Migrantenkinder willkommen zu heißen. Denn wer möchte hier leben, wenn er spürt, nicht gewollt zu sein?
Positiv gefasste Regeln, frühe Sprachvermittlung, ein respektvoller Umgang und intensives Bemühen um Bildung und Ausbildung werden die Integration erleichtern. Es ist gut, dass wir in diesen Fragen hier im Haus hohen Konsens haben.
Aber eigentlich brauchen wir diesen hohen Konsens auch in den wesentlichen Bildungsfragen. Es ist sehr schade, dass uns das bisher nicht gelungen ist. Zumindest bei den Hauptschulen möchte ich hier ausdrücklich dafür plädieren, dass wir uns da nicht weiter streiten, sondern dort gemeinsam helfen. Dann schaffen wir Perspektiven für alle Schülerinnen und Schüler und stärken den Hauptschulen den Rücken. – Herzlichen Dank.