Protocol of the Session on June 9, 2022

(Zwischenruf Abg. Tischner, CDU: Sie wollen die Regelschule kaputt machen!)

Herr Tischner, wir werden alles das umsetzen, was dieses Schulsystem weiterentwickelt, notfalls gegen Ihren Widerstand.

(Zwischenruf Abg. Tischner, CDU: Sie sollen die Regelschule stärken!)

Viertens wollen wir deutlich mehr echte Ganztagsschulen in der Sekundarstufe I haben, also Schulen mit einem zeitgemäßen Konzept und einem rhythmisierten Schultag und nicht einfach nur mit Hortbetreuung.

Fünftens wollen wir endlich die Thüringer Stundentafel etwas entschlacken, damit wir Platz für andere Unterrichtsinhalte haben wie Medienkompetenz, Demokratiebildung und Ähnliches. Das wären interessante Verhandlungen, Herr Tischner. Und genauso wie Sie hier Maximalforderungen aufstellen können, werden wir das auch können. Herr Tischner, Sie können gern noch mal vorkommen, aber ein Zwischenruf ist kein Korreferat.

(Unruhe CDU)

Überlegen Sie sich mal, was Sie als Regelschullehrer gemacht hätten, wenn Ihre Schüler sich gegenseitig in Ihrem Unterricht überschrien hätten. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Als nächste Rednerin erhält Frau Abgeordnete Dr. Bergner das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kollegen Abgeordnete, liebe Zuhörer, gleiche Bildungschancen für alle heißt nicht Gleichmacherei, sondern für jede Veranlagung von Kindern und Jugendlichen optimale Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Ich glaube, das haben wir hier heute ganz viel gehört, nur es gibt unterschiedliche Sichten auf das Thema.

Aus meiner Sicht: Durch ein falsches Verständnis der UN‑Behindertenrechtskonvention wurde in Thüringen ein hochentwickeltes, behindertengerechtes Bildungsnetzwerk teilweise zerschlagen, anstatt es im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention kreativ und innovativ weiterzuentwickeln.

(Beifall Abg. Gröning, fraktionslos)

Das führte zu vielen Missständen in Thüringen, zur Überforderung von Lehrern und vor allem zur Unzufriedenheit von Eltern. Und die wirklich Leidtragenden waren die betroffenen Kinder. Ich zitiere es noch mal. In der Behindertenrechtskonvention heißt es: „Innerhalb des allgemeinen Bildungssystems sollen angemessene Vorkehrungen getroffen werden und die notwendige Unterstützung geleistet werden, um eine erfolgreiche Bildung zu erleichtern.“ Es ist nirgendwo gefordert, dass die Kinder ganztägig gemeinsam lernen müssen. Deshalb begrüße ich den Gesetzentwurf der CDU und der FDP als einen Schritt oder als einen ersten Schritt wieder in die richtige Richtung.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern, warum aus meiner Sicht gemeinsames Lernen mit unterschiedlichen Voraussetzungen nicht immer

(Abg. Dr. Hartung)

zielführend ist. Ich habe in meiner Firma einen hervorragenden jungen Zerspaner eingestellt, der taubstumm ist. Dieser junge Mann konnte seine Qualifikation nur dadurch erreichen, dass er eben nicht gemeinsam mit jungen Menschen auf das Leben vorbereitet wurde, die des Hörens und des Sprechens mächtig sind. Er konnte stärkengemäß unter Berücksichtigung seiner Behinderung ausgebildet werden und damit ein für sich selbst sorgendes, gleichberechtigtes Mitglied in unserer Gesellschaft werden. Auch Kinder mit ADHS brauchen einen gesonderten Raum, um sich entwickeln zu können, anstatt mit Psychopharmaka für die Einheitsschule tauglich gemacht zu werden.

(Zwischenruf Abg. Wolf, DIE LINKE: Das ist eine Unterstellung! Als würden Lehrer Medi- kamente geben!)

Soziale Kontakte und den Umgang mit Behinderung – und das müssen nicht immer unbedingt Behinderungen sein, sondern auch Andersartigkeiten in unserer Gesellschaft –, das können wir in Projektwochen in Schulen trainieren. Dazu ist nicht ein tägliches gemeinsames Lernen erforderlich. Das Spektrum der Behinderungen ist vielfältig und da bedarf es auch vielfältiger Ansätze. Manchmal habe ich heute auch den Eindruck, dass hochintelligente Kinder als Behinderung angesehen werden. Was mir sehr viel Sorgen macht, dass gerade hochintelligente junge Menschen sich oft das Leben nehmen. Darüber sollten wir auch mal nachdenken.

In dem Gesetzentwurf von der CDU und der Gruppe der FDP fehlt mir nur eine Sache. Es wird hier nur von Haupt- und Realschulabschlüssen gesprochen. Warum fehlt hier in dem Entwurf die Hochschulreife? Ich habe mit gehbehinderten Menschen zusammen studiert. Menschen mit Behinderungen sollte der Weg zur Hochschule genauso offenstehen, wenn sie die intellektuellen Potenziale dazu haben, wie allen anderen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall Abg. Gröning, Abg. Schütze, frakti- onslos)

Weitere Wortmeldungen aus den Reihen der Abgeordneten liegen mir nicht vor. Dann erhält jetzt das Wort Herr Minister Holter.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habe die Debatte, wie sicherlich viele, aufmerksam verfolgt. Ich denke, Sie teilen meinen Eindruck: Wir leben in unterschiedlichen Thüringen, die einen in

dem Thüringen, die anderen in dem Thüringen, gerade was das Bildungssystem betrifft.

(Zwischenruf Abg. Tischner, CDU: Das leben wir aber oft!)

Doch, doch, Herr Tischner. Auch das, was Frau Bergner gerade beschrieben hat – ich muss mal sagen –, das hat doch mit der Realität in Thüringer Schulen gar nichts zu tun.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man muss auch einfach mal festhalten, dass wir in Thüringen ein Schulsystem haben, um das uns andere Länder beneiden.

(Zwischenruf Abg. Tischner, CDU: Das war einmal!)

Das ist so, Herr Tischner. Dafür sprechen auch gute Schulabschlüsse, auch beim Abitur 2021 – jetzt, bei den laufenden Abiturprüfungen, werden wir sehen, wie erfolgreich sie sind –, auch bei anderen Prüfungen. Damit will ich die Probleme nicht kleinreden. Aber die Frage ist doch: Welche Debatte führen wir eigentlich? Führen wir eine motivierende Debatte, damit junge Menschen sich entscheiden, Lehrerinnen und Lehrer oder Erzieherinnen und Erzieher zu werden, oder führen wir eine Debatte, die abschreckend ist, dass man Angst hat, in dieses Schulsystem zu gehen, sowohl als Kind als auch als Lehrerinnen und Lehrer?

Ich bin dafür, dass wir eine Debatte führen, die dafür motiviert, dass junge Menschen Lehramt studieren, dass sie in das Schulsystem hineinwollen.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Ich bin der Überzeugung, dazu gehört, Herr Tischner, Frau Bergner und Frau Baum, auch Stolz, Stolz auf das Bildungssystem und die Schulen in Thüringen. Das fehlt mir bei Ihnen in Ihrer Debatte. Das will ich hier mal deutlich sagen.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Wir befinden uns, meine Damen und Herren – wir haben gestern gerade eine Diskussion dazu gehabt –, in Thüringen in einer schwierigen, in einer ungewöhnlichen Situation. Zwei demokratische Oppositionsfraktionen versuchen, eine Minderheitskoalition, eine Minderheitsregierung durch Taktieren mit einer dritten Partei vor sich herzutreiben. Ich bin für meinen Teil aber nicht derjenige, der sich daran gewöhnen möchte. Ich habe keine Lust darauf, andauernd etwas von Tabubrüchen zu hören oder dass gedroht zu wird, dass eventuell mit einer dritten Partei hier zusammengegangen wird. Das kann unser demokratisches Miteinander nicht aus

(Abg. Dr. Bergner)

machen. Nein, daran möchte ich mich nicht gewöhnen.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Ja, wir sind eine demokratische Minderheitsregierung, das wissen wir. Wir lesen landauf und landab in ganz Deutschland darüber, dass das so ist. Neben der Minderheitsregierung und -koalition gibt es auch eine Minderheitenopposition. Auch diese Minderheitenopposition hat keine Mehrheit in diesem Landtag. Was bleibt also übrig? Entweder man macht sich gemein mit der AfD, mit Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten, oder man zieht einen anderen Schluss. Diese Möglichkeiten, die es gibt, bestehen erstens darin, entweder man findet einen Kompromiss, tauscht sich zwischen den demokratischen Fraktionen aus, oder man zieht den falschen Schluss und geht mit dieser beschriebenen Situation um, um mit dem Tabubruch zu kokettieren.

Wenn ich also den Weg des Austauschs und des Kompromisses gehen will, dann muss ich auch dazu kommen, dass es Positionen gibt, die unvereinbar sind. Die Engländer sagen: „Agree to disagree.“, was auf Deutsch heißt, wir sind uns einig, dass wir uns in einigen Fragen nicht einig sind. Ich glaube, das gehört einfach dazu und die Debatte hat auch gezeigt, dass es Punkte gibt, da werden wir uns nicht einig werden.

Wenn wir aber wollen, dass das Schulgesetz – und ich will das auch – am Ende hier wieder über demokratische Mehrheiten verabschiedet wird, dann müssen wir erstens sagen, wo sind die Gemeinsamkeiten, müssen uns aber auch klar sagen, es gibt auch Unterschiede, wo wir uns eben nicht einig sind. Da müssen wir uns darüber verständigen, dass wir diese Unterschiede dann auch aus dem Gesetzgebungsprozess herausnehmen. Das ist die Konsequenz. Ansonsten beißen wir uns fest und wir kommen zu keinem Ergebnis. Wir müssen das noch mal eindeutig gesagt haben. Dann sollte man auch in diesem Prozess sagen, es gibt einfach Themen, da werden wir uns nicht einig werden und die müssen wir dann vor die Klammer ziehen und nicht weiterverfolgen. Das ist dann meines Erachtens auch ehrlich im Umgang miteinander. Ansonsten kommen wir in eine schräge Situation. Wie ich schon gesagt habe, ich bin dafür, dass wir im Ausschuss diese Fragen sehr kontrovers und auch sehr intensiv diskutieren, weil ich der Überzeugung bin, dass es notwendig ist, weiter am Schulgesetz zu arbeiten.

Ja, auch ich habe Änderungswünsche zum Schulgesetz. Einige sind schon von Rednerinnen und Rednern hier gesagt worden. Darüber muss man

sich verständigen. Das ist doch genau der Punkt, dass wir dann auch über diese Fragen ganz konkret beraten und uns verständigen. Denn eins ist klar: Wir brauchen Änderungen. Und, Herr Tischner, es geht nach meiner Auffassung auch um Planungssicherheit. Das fordern Sie übrigens auch immer ein. Torsten Wolf ist auch darauf eingegangen, dass das Schulgesetz... Astrid, du warst es auch. Frau Rothe-Beinlich ist auch darauf eingegangen.

Das Schulgesetz in der jetzigen Form ist 2020 und letztes Jahr 2021 in Kraft getreten. Wir haben seit dem 1. August 2021 noch nicht einmal ein Jahr um. Planungssicherheit bedeutet, nicht alle naselang, alle Monate lang das Schulgesetz zu ändern, um dann wieder Neuheiten einzuführen. Aber es gibt ein paar Dinge, die aus der Schulpraxis umgesetzt werden müssen. Dazu gehören Themen, die hier ganz konkret angesprochen werden. Aber die Frage ist doch – und das ist das, was mir bei den Reden von Frau Baum und Herrn Tischner nun wirklich nicht gefallen hat –: Wollen wir ausschließlich auf der Basis der Ergebnisse Ihrer Praxisbezüge arbeiten? Wir haben gute Kontakte zur Praxis. Ich habe jetzt gerade einen Dialogprozess mit Regelschuleiterinnen und Regelschulleitern hinter mir, nehme den jetzt mit den Kolleginnen und Kollegen der gymnasialen Oberstufen auf, also der Gymnasien und der Oberstufen aus den Gemeinschaftsschulen und der Gesamtschulen. Dann habe ich mit allen Grundschulleitungen, also mit vielen Grundschulleitungen gesprochen, dann habe ich jetzt mit den Regelschulkolleginnen und ‑kollegen gesprochen, und dann rede ich mit denen, die die gymnasiale Oberstufe vertreten, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber eins, lieber Herr Tischner, wird doch nicht funktionieren: Sie blenden die Wissenschaftsorientierung aus. Wenn ich über ein modernes Schulwesen sprechen will, dann muss ich mich doch mit der modernen Pädagogik auseinandersetzen. Ich muss auch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, der pädagogischen Wissenschaft berücksichtigen. Da geht es ganz anders – im Gegensatz zu dem, was Sie sagen – nicht darum, in der Schuleingangsphase Sitzenbleiber zu haben. Darum geht es nicht.

Ich weiß, dass es an den Thüringer Schulen beide Systeme gibt. Es gibt die jahrgangsübergreifende Schuleingangsphase und es gibt nach wie vor den Klassiker, die 1., 2., 3. Klasse, wo dann auch von der einen Klassenstufe in die andere gewechselt wird. Was es aber nicht gibt, ist das Sitzenbleiben. Das habe ich mit Schulleiterinnen und Schulleitern diskutiert. Die Modernität besteht doch genau darin, dass jedes Kind mit seiner Entwicklung, mit seiner Lernentwicklung in den Blick genommen wird. Da spielt es keine Rolle, ob es in der 1. oder 2. Klasse

(Minister Holter)

ist. Das ist die Herausforderung, vor der Lehrerinnen und Lehrer stehen.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Das ist moderne Pädagogik, das ist moderne Schule. Das, was Sie wollen, ist eine Rolle rückwärts.

Wir haben schon mehrfach über diese rückwärtsgewandte Politik gesprochen. Es tut mir leid, Frau Baum, dass Sie sich jetzt diesem Politikstil und diesem Ziel der CDU anschließen. Das enttäuscht mich richtig. Ich hatte von Ihnen eine andere Auffassung. Ich hatte immer gedacht, Liberale sind zukunftsorientiert. Scheint aber jetzt nicht mehr so zu sein,

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

zumindest, nachdem Sie jetzt im Schulgesetz gemeinsame Sache mit der CDU machen. Wenn das, so wie Sie sich das vorstellen, das Schulwesen des 21. Jahrhunderts ist, dann ist das keine Entwicklung, es ist kein Fortschritt, es ist kein Mehr an Chancen für Kinder und Jugendliche. Das ist einfach, Herr Tischner, ein Rückschritt.