Protocol of the Session on March 18, 2022

(Abg. Dr. Hartung)

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir haben in diesem Landtag in dieser Wahlperiode und auch in der vorvergangenen Wahlperiode bereits gute und wichtige erinnerungspolitische Debatten geführt. Ich würde es begrüßen, wenn wir insgesamt in dieser Debatte insbesondere diejenigen in den Kern dieser Ausführungen stellen, die Opfer stalinistischer Verbrechen geworden sind, die Opfer von Zwangsumsiedlungen, die Opfer des Mauerbaus geworden sind und die auch durch den Schießbefehl dazu gezwungen wurden, diejenigen, die sich der Wehrpflicht nicht durch Bausoldatentum entziehen konnten, jeden Tag an der Grenze in die potenzielle Situation zu kommen, auf frühere Klassenkameraden, Familienmitglieder oder andere schießen zu müssen.

Eine Partei, Frau Herold, in der Fraktionsführer im Bundestag oder hier im Thüringer Landtag Ereignisse wie den Nationalsozialismus als einen „Fliegenschiss in der tausendjährigen deutschen Geschichte“ bezeichnen

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

oder die beispielsweise von der „180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik“ schwadronieren, hat nun wirklich nicht das Recht, das Erbe von Kurt Schumacher in den Dreck zu ziehen, der sich stets gegen die Zwangsvereinigung gewandt hat.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern sollten wir uns vielleicht mal wieder auf das konzentrieren, worum es hier geht, und das habe ich gesagt: Das sind die Opfer, die im Mittelpunkt der Ereignisse stehen, die für die Landesregierung, die nun nicht der Diskontinuität unterfällt, sondern deren Handeln einer Kontinuität unterliegt, sich den unterschiedlichen Ereignissen, die stark im kollektiven Gedächtnis verankert sind, und auch den Ereignissen, die dem kollektiven Gedächtnis nicht sofort präsent sind, sondern die man eher aus dem Hinterkopf, aus dem Vergessen zurückholen und nach vorn stellen muss, zu widmen. Es ist das Ereignis des 17. Juni 1953 literarisch, filmisch und natürlich auch im kollektiven Gedächtnis stark verankert.

Auch der Tag des Mauerbaus im August 1961 ist kollektiv als Ereignis verankert. Der 26. Mai 1952, auf den Kollege Hartung hingewiesen hat, und der entsprechende Erlass, den er zitiert hat, sind im kollektiven Gedächtnis Gesamtdeutschlands deut

lich weniger verankert. Fragt man Schülerinnen und Schüler, auch Lehrkräfte, fragt man in der Bevölkerung, wann der Mauerbau begann, wird gemeinhin das Jahr 1961 genannt. Aber der Mauerbau hat eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte beginnt hier in Thüringen, sie beginnt im Mai 1952 in Thüringen. Dieser Zeitraum der frühen 50er-Jahre – ich erinnere an die Diskussion, die wir hier im Landtag bereits geführt haben – ist bei einer grundsätzlichen stalinistischen Struktur des DDR-Systems geprägt durch Ambivalenzen. Ich habe an anderer Stelle schon mal ausgeführt, dass es genau diese Ambivalenzen der DDR waren, die auch in der Erinnerungspolitik für uns heute immer noch wichtig sind. Ich habe hier im Landtag auch an anderer Stelle über die Diskriminierung und Verfolgung von Christinnen und Christen in der DDR gesprochen und ich habe erzählt, dass es Situationen gab, in denen Betroffene dieser Diskriminierung mir ihre Zeugnisse zeigen wollten, um darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich die Abiturreife erlangt hätten, wenn es nur nach den Noten gegangen wäre. Ich habe gesagt, sie müssen mir nicht zeigen, dass sie die Abiturreife selbstverständlich hatten, aber sie haben das Gefühl, dass sie es machen müssen, weil es andere Christinnen und Christen gegeben hat, die eben zum Abitur zugelassen wurden. Und die Nichtmöglichkeit, beispielsweise vor Verwaltungsgerichten eben eine solche Ungleichbehandlung einzuklagen etc., ist genau das Grundmuster von Unrecht.

Insofern geht es auch hier darum, dass wir uns dieser frühen 50er-Jahre an dieser Stelle bewusst werden. Über 3.000 Personen sind im Halbstundentakt in Waldheim abgeurteilt worden. Im Frühjahr 1952 ist eine Reihe von diesen Urteilen durch die DDR wieder aufgehoben worden und gleichzeitig hat man die Abriegelung der innerdeutschen Grenze in Thüringen vorbereitet. Diese Mechanismen stehen nebeneinander, sie entschuldigen überhaupt nichts, sondern sie zeigen, dass sich dieser Unrechtsstruktur bewusst zu werden eben bedeutet, sich diese Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen einer grundsätzlichen Unrechtsstruktur bewusst zu machen. Darin besteht auch der Wert der Auseinandersetzung mit den Ereignissen, die in Thüringen nach 1952 begonnen haben, auf einer abstrakten Ebene, indem man sich mit Mechanismen von Unrechtsstaat auseinandersetzt, und auf der anderen Seite, indem man den individuellen Schicksalen und Opfern gerecht wird.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass 8.000 Menschen DDR-weit zwangsausgesiedelt wurden, dass Historikerinnen und Historiker insgesamt von 11.000 Menschen sprechen, die auf diese Weise ihre Heimat verloren haben, dann sind das 11.000 Schicksale, die man benennen muss. Wir

wissen aber aus der Diktaturforschung auch auf der psychologischen Ebene, dass sich solche traumatischen Erinnerungen in der nächsten Generation und auch in der übernächsten Generation fortsetzen können, weil sie im Gedächtnis verankert sind, weil solche Traumata eben nicht einfach zu Ende gehen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern ist tatsächlich auch Erinnerungskultur Aufarbeitung, keine Geschichte, die irgendwann endet. So wie Christopher Clark davon spricht, dass Geschichte keine Einbahnstraße ist, oder, wie bei Verena Krieger, kein Fahrrad, auf das man sich einfach setzt und in eine andere Richtung davonfährt, ist Geschichte etwas, mit dem wir uns in den ganzen Brüchen auseinandersetzen müssen. Vor diesem Hintergrund hat die Landesregierung im Lichte der durchaus hier im Landtag bereits geführten Debatten über die entsprechenden Anträge – da haben wir, als der Landtag noch in der Arena getagt hat, bereits mit den entsprechenden Akteurinnen und Akteuren der Geschichtslandschaft darüber diskutiert, das heißt die Grenzmuseen, Landeszentrale für politische Bildung, Stiftung Ettersberg, um nur auszugsweise ein paar zu nennen, selbstverständlich die Institutionen und Organisationen derjenigen, die Opfer des DDR-Unrechts geworden sind, Dr. Wurschi und seine Kolleginnen und Kollegen, die Kirchen –, mit all denjenigen hat Staatssekretärin Beer den Austausch darüber gepflegt, wie wir den Ereignissen des 17. Juni 1953 genauso wie den Ereignissen ab 26. Mai 1952 hier erinnerungspolitisch Rechnung tragen können.

Anlässlich des 70. Jahrestags der Grenzschließung hat der Thüringer Geschichtsverbund zusammen mit dem Landesbeauftragten zur Aufarbeitung und der Stiftung Naturschutz Thüringen – und ich bin der Kollegin Astrid Rothe-Beinlich ganz dankbar, dass sie auf das Grüne Band als einen Teil unserer Thüringer Erinnerungskultur hingewiesen hat, und unser Ziel besteht weiterhin darin, das auch zu einem Weltkulturerbe erklären zu lassen, weil das aus unserer Sicht historisch angemessen ist – eine Veranstaltungsreihe vorbereitet. Sie erstreckt sich von Mai bis November 2022, spannt historisch den Bogen von der Grenzabriegelung im Mai 1952 bis zum Mauerfall im November 1989 und darin eingeschlossen, wie ich hier in diesem Landtag an verschiedener Stelle, Herr Abgeordneter Herrgott, gesagt habe, natürlich auch die friedliche Revolution, weil sie dem Mauerfall im November 1989 vorausgeht. Das Spektrum der Veranstaltungen ist vielfältig: eine wissenschaftliche Tagung, Videoprojektionen, digitale Erzählcafés und Weiteres. In diesem Muster werden wir auch das Gedenken an

den 17. Juni 1953 vorsehen, eben nicht nur – ich bin froh, dass es den Thüringer Gedenktag zum 17. Juni seit 2016 gibt –, sondern dass wir in den unterschiedlichsten Formaten der außerschulischen kulturellen und politischen Bildung auch in diesem Sinne an den 17. Juni 1953 und den 70. Jahrestag erinnern.

Es ist von Astrid Rothe-Beinlich genauso wie von Katja Mitteldorf darauf hingewiesen worden, dass wir eine dezentrale erinnerungskulturelle Landschaft haben und dass die wichtig ist. Wir haben mit – der damals noch Fraktion – der FDP eine Debatte darüber geführt gehabt: Wie zentral müssen wir bestimmte Sachverhalte thematisieren, sollten wir auch einen zentralen Erinnerungsort schaffen oder ist die dezentrale Landschaft unserer Erinnerungskultur dem angemessen? Wir haben mit den Institutionen darüber gesprochen, die ein starkes Plädoyer für die Dezentralität deutlich gemacht haben und die gleichzeitig diese Diskussion deshalb begrüßt haben, weil sie auch deutlich gemacht haben, dass sie die Anerkennung und Wertschätzung sowohl hier im Landtag, aber auch durch die Landesregierung – unter anderem durch den demnächst hier vorgelegten nächsten Bericht zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts – als eine auch in anderen Ländern beispielgebende erinnerungskulturelle Tätigkeit empfinden. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gibt es weitere Wortmeldungen? Das sehe ich nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung. Beantragt ist, den Antrag an den Ausschuss für Europa, Kultur und Medien zu überweisen. Wer stimmt dieser Ausschussüberweisung zu? Das sind die Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, der SPD, die Gruppe der FDP und die CDU-Fraktion und Frau Abgeordnete Dr. Bergner. Wer stimmt dagegen? Das ist niemand. Wer enthält sich der Stimme? Das sind die Abgeordneten der AfD-Fraktion. Damit ist die Ausschussüberweisung so angenommen und wir kommen jetzt zur Mittagspause.

Vorab ein Hinweis: Wir haben eine Ältestenratssitzung in der Mittagspause, die wird voraussichtlich etwas länger dauern. Deswegen wird die Mittagspause bis 13.45 Uhr dauern – also eine Dreiviertelstunde. Es geht dann hier 13.45 Uhr weiter mit den Wahlen und den anderen angekündigten Punkten.

Noch ein weiterer Hinweis: Die ebenfalls für die Mittagspause angesetzte außerplanmäßige Sitzung des Innen- und Kommunalausschusses findet auch 5 Minuten nach Beginn dieser Mittagspause

(Minister Prof. Dr. Hoff)

statt, aber abweichend von der Einladung vom 11. März nicht im Saal F 101, weil sich dort der Ältestenrat versammelt, sondern im Sitzungssaal F 125/F 125 a, also im Besucherzentrum – Ältestenrat F 101, Innenausschuss F 125/F 125 a. Wir sehen uns hier wieder um 13.45 Uhr.

Es geht jetzt weiter. Die Ältestenratssitzung hat sich ein bisschen verzögert, das ist Ihnen hoffentlich mitgeteilt worden. Ich würde dann ganz gern mit der Abarbeitung der Tagesordnung fortfahren, allerdings verlangt es mein Demokratieverständnis, dass doch mindestens alle Fraktionen mit mindestens einem Mitglied anwesend sein sollten. Das kann ich hier in der Mitte des Hauses noch nicht so richtig feststellen. Ein Schriftführer sitzt hinter mir. Wenn ich Sie jetzt zum Fraktionsgeschäftsführer ernenne, Herr Gottweiss, dürfen wir anfangen?

(Zuruf Abg. Gottweiss, CDU: Ich würde sa- gen, ja!)

Ja, wenn ich von Ihnen das Plazet bekomme. Jetzt gibt es noch ein weiteres CDU-Mitglied – wunderbar. Herzlich willkommen! Aber kein Vorwurf, es ist jetzt auch unklar gewesen, wann es weitergeht.

(Zwischenruf Abg. Rothe-Beinlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es kommt jemand!)

Ja, wunderbar. Jetzt wird es doch hier richtig – in Scharen.

(Zwischenruf Abg. Dr. Hartung, SPD: Das reicht!)

Wir sind heute auch schon relativ weit in der Abarbeitung gekommen, das muss ich jetzt auch mal hier mit dem Lob an alle Beteiligten zum Ausdruck bringen.

Jetzt wird es wieder offiziell und ernst und es geht weiter nach unserer Unterbrechung und der verlängerten Mittagspause mit dem erneuten Aufruf der Tagesordnungspunkte 24 und 29 bis 31, also noch einmal der vier Wahlgänge.

Der Tagesordnungspunkt 24

Wahl eines Vizepräsidenten des Thüringer Landtags Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/5078 -

Die Wahl wird ohne Aussprache und geheim durchgeführt. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Vorgeschlagen ist erneut Herr Abgeordneter Karlheinz Frosch.

Tagesordnungspunkt 29

Wahl eines Mitglieds der Kommission nach Artikel 10 Grundgesetz (G 10-Kommission) gemäß § 2 Abs. 2 des Thüringer Gesetzes zur Ausführung des Artikel 10-Gesetzes Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/5081 -

Hier wird eine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Landtags benötigt. Vorgeschlagen ist erneut Herr Abgeordneter Stefan Möller. Wünscht jemand hierzu die Aussprache? Das sehe ich nicht.

Tagesordnungspunkt 30

Bestellung eines Mitglieds des Beirats beim Landesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 12 Abs. 1 und 2 des Thüringer Datenschutzgesetzes Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/5082 -

Auch hier wäre eine Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich. Vorgeschlagen ist erneut Herr Abgeordneter Jörg Henke. Wünscht jemand die Aussprache? Nein.

Tagesordnungspunkt 31

Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums der Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung Thüringen (STIFT) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD - Drucksache 7/5083 -

Gewählt ist auch hier, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält. Vorgeschlagen ist erneut Herr Abgeordneter Olaf Kießling. Gibt es hier einen Aussprachewunsch? Das ist nicht der Fall.

Dann kann es mit dem Namensaufruf gleich losgehen. Sie erhalten nach Ihrem Namensaufruf vier Stimmzettel und können auf jedem dieser Stimmzettel jeweils mit „Ja“ oder „Nein“ oder „Enthaltung“ stimmen. Als Wahlhelferin bzw. Wahlhelfer sind eingesetzt hier unten im Plenarsaal Frau Abgeordnete Maurer, Herr Abgeordneter Beier und Herr Abgeordneter Tiesler sowie auf der Tribüne Herr Abgeordneter Reinhardt und Herr Abgeordneter Denny Möller.

(Vizepräsidentin Marx)

auf. Wir haben noch 15 Fragen von gestern, also wird die Fragestunde auch eine Zeitstunde in Anspruch nehmen.

Erster Fragesteller heute ist Herr Abgeordneter Wolf in der Drucksache 7/5047. Bitte, Herr Kollege Wolf.

Vielen Dank, Frau Präsidentin.

Feststellungsverfahren bei Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf

Mit der Novellierung des Thüringer Schulgesetzes im Jahr 2019 beabsichtigte der Gesetzgeber eine bessere Steuerung der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf nach den räumlichen, sächlichen und personellen Voraussetzungen zur inklusiven Beschulung (§ 8a des Thüringer Schulgesetzes). Mit Wirkung zum Schuljahresbeginn 2021/2022 sollte mit der Schuleingangsuntersuchung beginnend ein neues, erstmals gesetzlich normiertes Feststellungsverfahren unter Beteiligung der Eltern implementiert werden. Dieser in Pandemiezeiten nicht ganz einfachen Aufgabe stellten sich Schulämter, Schulverwaltungsämter und insbesondere Schulen. Da es sich um das erste Jahr der Umsetzung des Schulgesetzes handelt, ist eine abschließende Bewertung schwierig. Aber erste Erfahrungen könnten den vom Gesetzgeber formulierten Willen, bestmögliche Beschulung aller Kinder mit Förderbedarf unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen und gesetzliche Stärkung der Elternbeteiligung, heute schon vorliegen.

Ich frage die Landesregierung: