Protocol of the Session on November 2, 2017

Diese Beispiele – und die Liste ließe sich endlos weiterführen – zeigen die Fähigkeit und den Willen der Menschen in unserem Freistaat, aus wenig, aus fast nichts immer mehr zu machen und sich niemals unterkriegen zu lassen.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe es an anderer Stelle bereits gesagt und wiederhole es hier gern: Wir, Thüringen, sind Nummer eins unter den ostdeutschen Ländern. Wir, Thüringen, sind der Westen des Ostens. Ich füge hinzu: Es ist nicht verboten, hin und wieder aus dem Westen mal Richtung Osten zu schauen und die Leistungen der Menschen zu würdigen oder

sich an der Erfolgsgeschichte hier und da mal ein Beispiel zu nehmen. Auch das wäre ein Beitrag zur gesamtdeutschen politischen Kultur. Auch der Blick in die Zukunft darf uns optimistisch stimmen. Mitte Oktober zum Beispiel hat die Carl Zeiss Jena GmBH eine 300-Millionen-Euro-Investition in den Standort Jena angekündigt. Die Mubea Fahrwerksfedern GmbH Weißensee und die EVER Pharma Jena GmbH planen Investitionen von jeweils mehr als 100 Millionen Euro, die Aeropharm GmbH Rudolstadt wird 60 Millionen Euro investieren. Nur diese seien angedeutet – stellvertretend für all das, was gerade in Thüringen passiert.

Im Dezember geht die neue superschnelle Bahnverbindung Erfurt–München ans Netz. Wir konnten den Bund überzeugen, erhebliche Mittel in Höhe von insgesamt 250 Millionen Euro für die MitteDeutschland-Bahnverbindung einzustellen, sodass unmittelbar mit den Planungen für den Ausbau begonnen werden kann. Auch das, meine Damen und Herren, war eine gemeinsame Leistung, eine Leistung der Bundesregierung und damit auch der CDU/CSU, gemeinsam mit unserem Bundesland und der SPD, die dafür die Weichen gestellt haben. Ich habe mir deswegen erlaubt, Dr. Bernhard Vogel zur Probefahrt auf der neuen Strecke einzuladen, denn ohne ihn hätten wir die neue ICE-Trasse nicht – und ich habe damals für die Mitte-DeutschlandSchienenverbindung gekämpft. Auch die haben wir jetzt – und zwar gemeinsam. Das ist gut für unser Land,

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass wir auch zur Verbesserung für unser Land zusammenarbeiten.

Ja, wir sind der Westen des Ostens. Mit dieser Formulierung wird allerdings zugleich ein Problem anschaulich, das wesentliche Befunde des ThüringenMonitors verständlich macht. Der positive Abstand, also unser Vorsprung zu den anderen ostdeutschen Ländern, markiert zugleich den immer noch vorhandenen Rückstand zum Westen der Republik. Das dahinter liegende Problem wird anschaulicher und greifbarer, wenn wir etwa nach Sonneberg schauen. Bei einer Arbeitslosenquote von lediglich 3,9 Prozent sprechen die volkswirtschaftlichen Lehrbücher von Vollbeschäftigung. Chapeau! Schaut man ins nur wenige Kilometer entfernte Bayern, werden aber auch die Unterschiede im Lohnniveau immer noch greifbar und feststellbar. Der Vergleich Ost zu West geht im Durchschnitt immer noch deutlich zuungunsten des Ostens aus. So liegt das Lohnniveau bei uns in Thüringen immer noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, zum Teil sogar um ein Drittel niedriger als bei den westdeutschen Spitzenreitern. Viele derer, die auf ihre Rente schauen, fragen sich, wie sie damit über die Runden kommen sollen, und stellen ungläubig fest,

(Ministerpräsident Ramelow)

dass vergleichbare Lebensleistungen sehr unterschiedlich bewertet werden. Große Unternehmen eröffnen Zweigwerke in Thüringen, schaffen – und ich sagte es – dankenswerterweise Arbeitsplätze, führen aber vielfach ihre Steuern an ihrem Stammsitz in anderen Bundesländern oder im Ausland ab – Einnahmen, die uns dann hier für Infrastruktur und Bildung fehlen. Hinzu kommen spezielle ostdeutsche Erfahrungen, die viele Menschen in der Nachwendezeit machen konnten oder eben leider auch mussten.

Bei der Betrachtung des Thüringen-Monitors und seiner Ergebnisse darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entwicklung Thüringens von enormen Umbrüchen geprägt war. Gerade die 90erJahre waren für viele Menschen in Thüringen gekennzeichnet von dramatischen Wandlungsprozessen. Tausende Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und Tausende Thüringerinnen und Thüringer verließen das Land, um sich woanders eine neue Existenz aufzubauen. Damit einher ging ein Abbau an sozialer und kultureller Infrastruktur. All das haben viele Menschen hier im Land immer noch im Kopf und präsent vor ihren Augen. Es sind die Kinder, die gegangen sind, und es sind die Enkel, die nur noch sehr selten vorbeischauen. Das Versprechen von blühenden Landschaften, das sich für viele nicht so schnell einstellte, ist immer noch im Gedächtnis, genau wie die Erfahrung von heftigen Auseinandersetzungen, beispielhaft etwa der Kampf der Kalikumpel von Bischofferode.

Ja, wir können heute – ein Vierteljahrhundert später – konstatieren: Das Tal ist durchschritten; heute geht es nun eher darum, wie wir Menschen nach Thüringen holen. Aber es ist eben auch Fakt: Viele Thüringerinnen und Thüringer haben Ängste, dass sie den erworbenen Wohlstand vielleicht auch wieder verlieren könnten und dass sie im Alter aufgrund gebrochener Erwerbsbiografien keine auskömmliche Rente haben werden. Thüringen und seine Menschen haben den gewaltigen Transformationsprozess in unserem Land seit 1990 gemeinsam geschafft. Auch darauf können wir stolz sein.

Aber noch immer sind spezifische ostdeutsche Probleme nicht gelöst: Noch immer werden DDR-Geschiedene oder Frauen, die als mithelfende Ehefrauen in selbstständigen Betrieben gearbeitet haben, bei der Rente krass benachteiligt. Die beiden will ich nur stellvertretend für scheinbar vergessene Themen nennen. Aber die Menschen haben sie nicht vergessen. Sie haben eine Erwartung in Bezug auf solche Benachteiligungen, die durch den Einigungsvertrag oder durch Fehler im Einigungsvertrag entstanden sind, dass man 27 Jahre später sagt: Wann löst ihr diese Fehler auf?

Und wir, vor allem aber die Beschäftigten in Thüringen, haben auch aktuell mit Rückschlägen und Herausforderungen zu kämpfen. Die Entwicklung bei

Coca-Cola in Weimar besorgt mich sehr, ebenso wie die Nachrichten über die Pläne der SiemensKonzernleitung und ihre Auswirkungen auf den Erfurter Standort oder auch die bestehenden Unsicherheiten über die weitere Entwicklung bei Opel und seinen Zulieferern. Bei allen dreien sind wir noch nicht über den Berg. Wir sind bei dem einen oder anderen vielleicht ganz gut unterwegs und ich bin froh, dass auch dort wieder eine Solidarität hier im Hohen Haus spürbar ist, dass wir beim Thema Siemens zusammenstehen und sagen: Da werden wir wachsam sein. Bei Opel steht eine Aufgabenstellung, die über mehrere Bundesländer gemeinsam erledigt wird.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich werde mich nächste Woche auf Einladung von Volker Bouffier mit Malu Dreyer und den Betriebsräten in Hessen treffen, um diese Themen auch gemeinsam zu besprechen. Wirtschaftsminister Tiefensee und ich werden alles uns Mögliche tun, um Standorte und Arbeitsplätze zu erhalten und darum zu kämpfen, dass das nicht einfach abgebaut wird. Oder das, was wir bei Coca-Cola erlebt haben: mit großen Fördermitteln den Anfang gestartet und dann keine Nachinvestitionen im Verlauf der Jahrzehnte, um eine Modernisierung hinzubekommen. Auch das gehört zur bitteren Wahrheit.

Die Erfahrungen der großen gesellschaftlichen Umbrüche, der gespürte und real fassbare negative Abstand zu westdeutschen Einkommens- und Lebensverhältnissen haben – so lautet eine zentrale Schlussfolgerung – zu einem manifesten Gefühl vieler Ostdeutscher geführt, Bürger zweiter Klasse zu sein. Die Wissenschaftler haben dafür den Begriff der Ostdeprivation geprägt. Dieses Phänomen erhält dadurch Brisanz, dass es möglicherweise auch einen Erklärungsansatz für Rechtsextremismus, Neonationalismus und Fremdenfeindlichkeit liefert – also jene schmerzvollen Erfahrungen, die uns als Demokraten seit Jahren besorgen. Umgekehrt – das sollte unser Handeln leiten – sagen uns die Wissenschaftler des Thüringen-Monitors, könne ein Zurückdrängen der Ostdeprivation einen gewichtigen Risikofaktor für die politische Kultur unseres Handelns in allen ostdeutschen Ländern mindern. Deswegen hoffe ich auch darauf, dass die neuen Länder gemeinsam gegenüber der Bundesregierung auftreten, so wie wir jetzt schon gemeinsam einen Brief an die neu entstehende Bundesregierung adressiert haben, um zu sagen: Wir wollen schnell in die Gespräche kommen.

Dabei sollte auch ein weiterer Gedanke Eingang in unser Denken und Handeln finden: Die Ankunft der vielen Flüchtlinge im Jahr 2015 hat uns aus humanitären Gründen vor die Notwendigkeit gestellt, schnell Hilfe zu leisten. Wir mussten Unterkünfte finden, Integrationsmaßnahmen organisieren und

(Ministerpräsident Ramelow)

vieles andere mehr. Das hat Geld gekostet. Ich darf daran erinnern, dass wir den Haushaltsansatz 2016 für Integrationsleistungen auf knapp 470 Millionen Euro erhöhen mussten. Das alles – zudem untersetzt durch Bilder der endlosen Schlangen von Einreisewilligen – hatte und hat natürlich auch Auswirkungen auf das Denken vieler Bürgerinnen und Bürger im Land. Das Gefühl „für uns tut ihr nichts, für die Flüchtlinge tut ihr alles“ war und ist manifest vorhanden. Diese Einstellung erscheint mir in der Sache nicht begründet. Ein Land wie Thüringen mit über zwei Millionen Einwohnern kann die Ankunft von 30.000 Flüchtlingen eigentlich verkraften.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Selbstverständlich hat die Aufnahme der Menschen in größter Not Geld gekostet und wird weiterhin Geld kosten. Es hat aber auch Arbeit geschaffen. Die notwendigen Unterkünfte etwa mussten geschaffen werden. Die Menschen, die zu uns kamen, müssen auf dem Weg in unsere Gesellschaft begleitet werden – etwa durch Sprachunterricht und weit darüber hinaus. Wir wären aber eine andere und mit Sicherheit keine den christlichen und humanen Werten verhaftete Gesellschaft, wenn wir die Hilfe von Bedürftigen einer reinen Wirtschaftlichkeitsanalyse unterziehen würden. Davon abgesehen bin ich davon überzeugt, dass die hier Aufgenommenen unsere Gesellschaft kulturell und wirtschaftlich bereichern können und auch bereichern werden.

Ich will es nicht vermischen, aber die Fähigkeit, Unterschiede aufzunehmen, hat dieses Land mehrfach bewiesen. Zwischen 1945 und 1949 kamen rund 800.000 Flüchtlinge ins heutige Thüringen. Sie haben unser Land damals verändert, aber eben auch belebt, auch wenn es deutsche Flüchtlinge waren. Sie waren kulturell sehr unterschiedlich. Sie waren nicht überall gern aufgenommen. Sie wurden an manchen Stellen auch massiv ausgegrenzt. Gemeinsam mit den Thüringerinnen und Thüringern haben sie unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut und die Vielfalt der Menschen, die zu uns gekommen sind, haben unser Land bunt und stark gemacht. Auch diese Menschen waren nicht allen willkommen, wurden diskriminiert, ausgegrenzt, aber ihre Integration – das kann man wohl sagen – ist wohl gelungen, wie wohl die Zugewanderten aus Schlesien oder Pommern noch heute ihre Kultur pflegen und ich sage zu Recht „pflegen“.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aktuell bleibt festzuhalten: Keine einzige sozialpolitische Maßnahme wurde zugunsten der hilfebedürftigen Flüchtlinge aufgegeben oder verschoben. Wir stellen als Landesregierung bewusst in unserem

Entwurf des Doppelhaushalts 2018/2019 viel Geld für Zukunftsinvestitionen bereit.

(Beifall DIE LINKE)

Die vorgesehenen Investitionsquoten von 14,5 Prozent im Jahr 2018 und 14,1 Prozent in 2019 liegen deutlich über dem Wert von 13 Prozent aus dem Jahr 2014. Gleichwohl müssen wir konstatieren: Die Bürgerinnen und Bürger fordern Antworten von uns. Damit keine Missverständnisse entstehen: Unrecht bleibt Unrecht, aber es rechtfertigt in keinem Fall Hass und Gewalt,

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nicht gegenüber Minderheiten und Anderslebenden. Am Tag nach dem Reformationstag will ich darauf hinweisen: Wir Christen – evangelisch und katholisch – sind auch eine Minderheit in diesem Land und haben trotzdem gemeinsam den Reformationstag als große gemeinsame Chance öffentlich gefeiert und deutlich gemacht, dass wir auch diejenigen einladen, die nicht Mitglied einer Kirche sind oder sich mit dem Glauben auseinandergesetzt haben. Auch das sind Minderheiten, auf die wir schützend achten müssen. Nicht gegenüber Schutz Suchenden aus anderen Ländern, nicht gegenüber denen, die bei uns ausgestoßen oder an den Rand gedrängt sind. Und ich will es noch mal wiederholen, ich habe es hier mehrfach gesagt: Die Gesetze unseres Landes gelten für alle Menschen in unserem Land. Wir dulden keine Gewalt von Ausländern oder Flüchtlingen. Wir dulden aber auch keine Gewalt an Ausländern oder Flüchtlingen. Wir dulden gar keine Gewalt!

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer pöbelt, prügelt, Gewalt predigt oder ausübt, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Die demokratischen Grundwerte Toleranz, Sicherheit und Humanität sind nicht verhandelbar.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt auch und besonders für alle, die mit solchen Stimmungen ihr politisches Geschäft machen.

Aber wir stehen auch in der politischen Pflicht, Antworten zu geben, kluge Wege aufzuzeigen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen und den Menschen damit auch Sicherheit zu geben.

Ich sage Ihnen meine Antwort. Die Landesregierung ist für alle Menschen da, die in Thüringen leben. Die hier Geborenen haben den Anspruch auf soziale Sicherheit und Zukunftsinvestitionen in Bildungs- und Wirtschaftsinfrastruktur genauso wie die Geflüchteten auf Hilfe und Integration. Wer sich die demografischen Daten anschaut, weiß: Wir brauchen unabhängig von diesen Flüchtlingen und

(Ministerpräsident Ramelow)

Fluchtbewegungen geordnete und gezielte Zuwanderung. Ich weiß, dass eine gelungene Integration in jedem Fall unser Land stärker machen wird und die Lebensverhältnisse verbessert. Die beste Investition ist die Investition zur Integration, damit jeder Mensch, der sich integrieren lassen will und sich integriert, seine Hände und seinen Kopf benutzt für uns alle.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alle, die hier leben, haben Anspruch auf vernünftige Arbeit, Gesundheitsversorgung, Wohnung und Bildung, kurz: auf soziale Sicherheit. Das Klima der Zuwanderung und Integration wird aber darüber entscheiden, ob die neu zu uns kommenden Menschen sich gut in Thüringen auf- und angenommen fühlen. Deswegen, meine Damen und Herren: Jedes brennende Haus ist ein Haus zu viel und jeder niedergeschlagene oder zusammengeprügelte Mensch ist ein Alarmzeichen, egal welche Hautfarbe, welche Haarfarbe, welche Herkunft und welcher Geburtsort.

Diese Landesregierung will und wird niemanden im Abseits stehen lassen.

Und darin wollen und werden wir erkennbar anders sein als die Rechtspopulisten, die den Menschen einreden wollen, dass alleine oder zumindest in erster Linie die Flüchtlinge schuld seien an allen gefühlten wie erlebten Benachteiligungen und es allen besser gehen würde, wären die Fremden nur weg. Das ist so falsch wie demagogisch.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb – auch weil der Rechtspopulismus, seine Erklärung oder Möglichkeiten, ihm zu begegnen, zentraler Bestandteil jedes Thüringen-Monitors ist – lassen Sie mich einige Worte zu den letzten Wahlergebnissen und den damit verbundenen Herausforderungen für die demokratische Politik sagen.

Ja, auch das sagt uns der Thüringen-Monitor: Die signifikant gestiegene Zufriedenheit der Befragten mit der Institution Demokratie geht einher mit großer Kritik an abgehoben agierenden politischen Eliten und dem zunehmenden Ruf nach einer starken Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt stärken würde.

Ich habe zu Beginn davon gesprochen, dass manche Befunde des Thüringen-Monitors schmerzen. Dazu gehört zum Beispiel die Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Fast 60 Prozent der Befragten stimmen der Auffassung zu, dass sich die meisten Langzeitarbeitslosen auf Kosten der anderen ein schönes Leben machen würden. Wenn das der Einzelne, der eine solche Einstellung hat, spürt, wenn er selbst langzeitarbeitslos ist, und sich ausgestoßen fühlt, wird deutlich, wie stark die Brücken

sein müssen, die wir schaffen, damit Langzeitarbeitslose zurück ins Erwerbsleben kommen. Darum müssen wir uns kümmern und nicht noch den Ruf gegen Langzeitarbeitslose oder die Emotionen gegen Langzeitarbeitslose verstärken.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genauso besorgen uns Begrifflichkeiten wie „Volksgemeinschaft“ – aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, weil wir unangenehme Fragen nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass wir sie einfach ignorieren.

Die AfD gibt einer Stimmung parteipolitischen Ausdruck, die in unserem Land seit Beginn der Untersuchungen des Thüringen-Monitors feststellbar und konstant geblieben ist. Auch wenn die AfD immer wieder gesagt hat, am liebsten würde sie den Thüringen-Monitor in den Kamin stecken: Es stand immer im Thüringen-Monitor drin, dass bis zu 25 Prozent der Befragten einer solcher Partei später einmal die Stimme geben werden. Insoweit lohnt es sich, den Thüringen-Monitor nicht in den Kamin zu stecken, sondern auch vielleicht darin zu lesen und darüber nachzudenken. Knapp 20 Prozent der Bevölkerung haben eine Affinität zu Einstellungen, die bisher im rechtsextremen Parteienspektrum verankert waren. Das war vor dem Auftritt der AfD auf der politischen Bühne nicht anders. Solche Parteien wurden aber nicht in dem Maße oder dauerhaft gewählt. Gleichwohl waren auch früher schon Parteien wie Republikaner, NPD oder auch die DVU in deutschen Landesparlamenten vertreten, aber eben noch nie im Deutschen Bundestag. Geändert aber hat sich seitdem die politische Verortung des Parteienspektrums durch die Bürgerinnen und Bürger. Zudem hat der Drang der CDU zur Mitte rechts neben ihr eine politische Leerstelle gelassen, derer sich die AfD angenommen hat. Das ist zumindest meine Sicht darauf. Ultrakonservative, sehr weit rechts angesiedelte Einstellungen waren im Parteienspektrum über viele Jahre nicht repräsentiert und fanden ein neues Zuhause bei einer Partei, deren einziger politischer Zweck inzwischen darin zu bestehen scheint, Wut alltagstauglich zu machen und gegen Minderheiten zu kehren. Die AfD kultiviert das Dagegen-Sein – Lösungsvorschläge würden da nur stören.