Sehr enttäuscht hat mich die Position, die jetzt gerade von der Abgeordneten Kanis als Position der SPD vorgetragen wurde. Das hat mich auch ein bisschen erschreckt. Ich hätte erwartet, dass Sie sagen, ja, wir sind auch dafür, aber der Koalitionszwang erlaubt es nicht. Aber dass Sie es ablehnen, das hätte ich tatsächlich nicht erwartet. Entscheidend in der Demokratie, meine Damen und Herren, ist, dass die Menschen nicht mehr bloßes Objekt, bloße Adressatinnen und Adressaten staatlichen Handelns sein dürfen oder sollen, sondern sie sollen möglichst wirksam mitgestalten und mitentscheiden als handelnde, selbstbestimmte Personen.
Die problematische Frage, wie sich Interessen und Herrschaftsgruppen in der modernen Demokratie machen und Herrschaftsvorteile sichern, ist noch ein ganz anderer wichtiger Gesichtspunkt, den ich aber nur ganz kurz erwähnen möchte. Denn dass alle Beteiligungsberechtigten in der hier real existierenden Demokratie die gleichen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten hätten, ist ganz praktisch ja nicht so, auch wenn das Wahlrecht nach dem Grundgesetz als allgemein und gleich definiert ist. Wenn man aber demokratische Mitbestimmungsrechte vor allem mit der Betroffenheit von staatli
chem bzw. gesellschaftlichem Handeln begründet und definiert, dann müssen diese Mitbestimmungsrechte allen Einwohnerinnen und Einwohnern des entsprechenden geografischen Gebietes zustehen.
Das heißt, das Wahlrecht für den Bundestag muss danach allen Einwohnerinnen und Einwohnern zustehen, die im Zuständigkeitsbereich des Bundestages wohnen. Entsprechendes gilt natürlich für die Landtage und für die Vertretungsgremien in den Kommunen.
Das ist der offene und emanzipatorische Ansatz und umfassende Ansatz von Demokratie und demokratischer Mitbestimmung, den DIE LINKE, aber nicht allein DIE LINKE, befürwortet, meine Damen und Herren.
Herr Kellner, eine Grundgesetzänderung wollen wir nicht leichtfertig machen, die wollen wir genauso wenig leichtfertig machen wie die mindestens 59 Änderungen des Grundgesetzes, die es seit Inkrafttreten gegeben hat. Wir haben jetzt nur einmal ganz kurz eine Übersicht angeschaut, mindestens 59 Mal ist das Grundgesetz seit 1949 verändert worden und da sind sehr, sehr viele kluge, moderne Änderungen passiert mit einer Zweidrittelmehrheit. Nicht alles waren aus unserer Sicht gute, zum Beispiel die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl war eine falsche Entscheidung.
Aber wenn Herr Adams in einer Frage danach fragt, dann hat das sehr wohl mit dem Thema zu tun, mit dem wir uns hier befassen und es ist - Herr Adams hat es mir in einer Zwischenbemerkung vorhin gesagt -, wie als wenn Eltern mit ihrem kleinen Kind nicht mehr zurechtkommen und sagen, das verstehst du noch nicht, so sagen Sie, wenn Sie mir eine Frage nicht beantworten können, das hat mit der Sache gar nichts zu tun. Das ist falsch, man muss sich sehr wohl damit auseinandersetzen und die Frage des Herrn Adams war sehr berechtigt meines Erachtens.
Da die Vertretungsgremien auf eine bestimmte Dauer gewählt sind und die Betroffenheit im Rahmen einer beispielsweise 14-tägigen Urlaubsreise nicht das Ausmaß annimmt, die eine Beteiligung an der Zusammensetzung von Vertretungsgremien rechtfertigen würde, sind bestimmte Wartefristen für den Zugang zu Wahl- und Mitbestimmungsrechten gerechtfertigt. Hinzu kommt, dass Einwohnerinnen und Einwohner auch eine gewisse Erfahrung mit der Situation vor Ort gewonnen haben sollen, bevor sie politische Entscheidungen treffen. Die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag geht von einer Wartezeit von fünf Jahren als sinnvoll aus. Daran
haben wir uns bei unserem Antrag orientiert, wir lassen aber gerne auch mit uns reden, wenn Sie kürzere Wartezeiten einfügen wollen. Es ließe sich auch darüber reden, ob es sinnvoll wäre, den Menschen sofort, wenn sie hier sind, ein Wahlrecht einzuräumen. Das können wir dann sicherlich im Ausschuss machen.
In Deutschland, auch in Thüringen, gibt es immer mehr Fälle, in denen Menschen Jahre bzw. Jahrzehnte hier wohnen, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben, Frau Astrid Rothe-Beinlich hat darauf hingewiesen. Insgesamt 7,2 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund leben zum Ende des Jahres 2012 in der Bundesrepublik und die haben eine durchschnittliche Aufenthaltszeit von 19,7 Jahren. Es sind nicht wenige, die viel mehr Jahre hier leben. Aber diese Menschen sind eben von staatlichem Handeln genauso betroffen wie ihre Nachbarinnen, die einen deutschen Personalausweis haben oder wie EU-Bürgerinnen und EUBürger. Das trifft auch immer mehr Menschen, die hier in Deutschland schon geboren sind, manche sogar schon in zweiter Generation.
Eine Kampagne für das kommunale Wahlrecht für alle Migrantinnen und Migranten, nicht nur für die Menschen aus EU-Staaten, brachte es auf folgenden Punkt: Hier wo ich lebe, will ich wählen!
Diese Wahlrechtskampagne wird auch von prominenten Politikerinnen, wie zum Beispiel Prof. Dr. Rita Süssmuth, unterstützt. Frau Kanis, Sie haben recht, es gibt viele Beteiligungsmöglichkeiten, auch unabhängig vom Wahlrecht, an denen sich auch Ausländerinnen und Ausländer beteiligen können. Aber wir meinen, man soll diese Menschen eben nicht „nur“ auf das Ehrenamt und ehrenamtliches Engagement verweisen oder auf Ausländerbeiräte beispielsweise. Wo ich Sie korrigieren muss, ist die Möglichkeit, als sachkundige Bürgerin oder als sachkundiger Bürger in einem kommunalen Ausschuss mitzuwirken, das steht Nichtdeutschen und auch den Nicht-EU-Bürgerinnen nicht zu. In der Thüringer Kommunalordnung steht nämlich geschrieben, dass sich da nur wahlberechtigte Menschen beteiligen können als sachkundige Bürgerinnen.
Die demokratische Kernforderung dieser kommunalen Wahlrechtskampagne „Hier, wo ich lebe, will ich wählen“ gilt unseres Erachtens auch für die Landtage und den Bundestag und - weil immer mehr wichtige Weichenstellungen dort getroffen werden auch für die Ebene der EU und deren Vertretungsgremien. Wie aus dem, was ich schon sagte, zu entnehmen ist, ist die für uns entscheidende Kategorie Einwohnerin oder Einwohner, nicht Staatsbürgerin oder Staatsbürger. Bei der Diskussion um diese Ausweitung des Wahlrechts ist also auch die Grundsatzdebatte zu führen um einen Abschied
vom bzw. zumindest um eine grundsätzliche Öffnung des Staatsbürgerbegriffs und zu der Frage, wie ist das Wahlvolk nach modernen demokratischen Maßstäben tatsächlich zu definieren. Unsere Ansicht dazu ist folgende: Die Gesellschaft definiert in einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess, wie die Verfassung, in Deutschland das Grundgesetz, die Wahlberechtigung definiert bzw. welche Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes das Wahl- und Abstimmungsrecht bekommen sollen. Das heißt, die Regelungen der Verfassung definieren die Gruppe der Staatsangehörigen bzw. der Wahlberechtigten. Das ist in etwas einfacher formulierter Weise die Definition von Staatsvolk bzw. Wahlvolk, wie sie auch schon der Staatsrechtler Hans Kelsen in den 1920ern vertreten hat. Damit hat er sich ganz klar von nationalistischen und chauvinistischen Konzepten abgegrenzt, die behaupten, es gäbe eine durch gleiche Abstammung bestimmte und definierte Personengruppe, die sozusagen der Existenz der Verfassung vorgelagert ein Staatsvolk bzw. ein Wahlvolk bilden würde. Nein, die Verfassung oder das Grundgesetz bestimmt, welche Personen die Gesamtheit der Wahlberechtigten bilden, wer in welcher Weise das Wahlrecht bekommt. Die Gruppe der Staatsangehörigen bzw. der Wahlberechtigten existiert nicht vor der Verfassung und unabhängig von ihr, sondern wird durch die Verfassung definiert und damit erst konstituiert. Ausgehend von einem solchen offenen pluralistischen Ansatz ist auch ein offener weiterer Staatsbürgerinnenbegriff angezeigt. Mehr noch, die Wahlberechtigung kann dann auch unabhängig von der Staatsbürgerschaft festgelegt und zuerkannt werden. Denn wie schon gesagt, grundlegender demokratischer und emanzipatorischer Ausgangspunkt für die Zuerkennung des Wahlrechts ist die Betroffenheit von staatlichem Handeln.
Hier werden - und haben ja auch schon - die Vertreterinnen und Vertreter konservativer Ansichten heftig protestieren, aber dafür habe ich mir einen Satz zurechtgelegt, und zwar den des Rechtswissenschaftlers Dr. Robert Christian van Ooyen: „Demokratie ist nicht nationale Gleichheit, sondern gleiche politische Freiheit.“
Ausgehend von dieser offenen emanzipatorischen, pluralistischen Definition von Wahlrecht muss man tatsächlich sagen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1990, dort ganz konkret zum Kommunalwahlrecht für Migrantinnen in SchleswigHolstein, vertrat dieses emanzipatorische Konzept von Wahlberechtigung gerade nicht, leider. Aber, wir haben es schon gehört, seitdem sind einige, in
zwischen mehr als 20 Jahre ins Land gegangen. Der Integrationsprozess der EU schreitet fort. Gesellschaftliche Entwicklungen globalisieren sich und die Erde hat sich weitergedreht. Und ebenso wie sich die Erde weiterdreht und das Leben vorangeht, sind auch Meinungen des Bundesverfassungsgerichts meines Erachtens nicht in Stein gemeißelt, auch das Bundesverfassungsgericht wird sich an der Lebensrealität orientieren.
Es ist nach Ansicht meiner Fraktion, meiner Partei, Zeit, eine grundlegende Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts und des Wahlrechts anzugehen, und bei der Reformdiskussion zum Wahlrecht muss auch mit diskutiert werden, das Wahlrecht von der Staatsbürgereigenschaft abzukoppeln. Das ist ein noch weitergehendes, aber unter demokratischen Gesichtspunkten notwendiges Konzept, als es schon einige Staaten wie zum Beispiel Portugal betreiben, die Migrantinnen anderer Länder dann das Wahlrecht einräumen, wenn ihre Staatsbürgerinnen im anderen Land ebenfalls das Wahlrecht erhalten. Dieses Modell haftet noch am konservativen Nationalstaatsdenken, aber gegenüber der Situation hier in der Bundesrepublik bedeutet das ganz faktisch einen Fortschritt.
In einer Zeit globalisierter gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen verändert sich der klassische Nationalstaat, auf den sich das geltende Staatsbürgerkonzept vor allem bezieht, in seiner Funktion erheblich und verliert auch an Bedeutung, nicht nur wegen der Entwicklung in der EU. Deshalb muss auch zwingend über eine Veränderung des Staatsbürgerschaftsmodells und des Modells der politischen Mitentscheidungsrechte, vor allem des Wahlrechts, gesprochen werden. Und wenn man dann konsequent demokratische Maßstäbe anlegen will, kann man nur zu einem Ergebnis kommen: Das Wahlrecht für alle, unabhängig von Herkunft und Staatsbürgerschaft, meine Damen und Herren.
Einzige Hürde darf dann nur eine entsprechende Wartezeit sein. Diese darf aber dann nicht so ausgestaltet werden, dass sie eine faktische Ausschlusswirkung entfaltet. Die Migrationspolitik in Deutschland, soweit sie überhaupt als solche bisher stattgefunden hat, sieht leider Migrantinnen und Migranten nicht als selbstbestimmte, politisch mündige Menschen mit entsprechenden politischen Grundrechten, sondern als ökonomisch mehr oder weniger verwertbare Humanressource. Das, meine Damen und Herren, ist ein zynisches und inhumanes Konzept und das gehört geändert.
Die weite Öffnung des Wahlrechts wäre ein wichtiger Schritt zur Durchbrechung und Veränderung dieses herrschenden inhumanen Konzepts und das Wahlrecht würde ich nicht nur als „fördern“, Herr Bergner, bezeichnen, sondern es stellt auch eine Forderung dar, sich nämlich in politische Entscheidungsprozesse einzubringen, und es wäre nicht nur Ergebnis von Integration, sondern auch ein Schritt zur Integration. Ich hoffe, Sie in den Debatten im Ausschuss noch überzeugen zu können, und beantrage die Überweisung des Antrags an den Justizund Verfassungsausschuss. Vielen Dank.
Vielen herzlichen Dank, Frau Abgeordnete Berninger. Es liegen jetzt keine weiteren Wortmeldungen aus den Reihen der Abgeordneten vor. Für die Landesregierung hat sich Herr Innenminister Geibert zu Wort gemeldet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE „Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit“ nehme ich für die Landesregierung wie folgt Stellung:
Das Thema „Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit“ ist schon mehrfach diskutiert worden, jedoch haben bisherige Gesetzesinitiativen bislang zu Recht keinen Erfolg gehabt. Bereits im Jahre 1996 hat die PDS einen Gesetzentwurf zur Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Ausländer auf Bundesebene erfolglos in den Bundestag eingebracht. Damals wie heute gilt,
Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz bestimmt, dass das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland Träger und Subjekt der Staatsgewalt ist. Das Staatsvolk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, wird nach dem Grundgesetz von den Deutschen, also den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Artikel 116 Abs. 1 Grundgesetz gleichgestellten Personen gebildet. Damit wird für das Wahlrecht, durch dessen Ausübung das Volk in erster Linie die ihm zukommende Staatsgewalt wahrnimmt, nach der Konzeption des Grundgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit vorausgesetzt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1990 klar und unmissverständlich festgestellt. Eine Ausweitung des Wahlrechts auf Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit würde demnach
die Grundsätze des Artikels 20 Abs. 2 Grundgesetz berühren. Diese Grundsätze unterfallen nach Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz der sogenannten Ewigkeitsgarantie und sind als unabänderbar geschützt.
Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Bedenken möchte ich auf Folgendes hinweisen: Die Integration von Ausländern erfolgt nicht allein dadurch, dass sie das Wahlrecht erhalten. Das Wahlrecht sollte vielmehr das Ergebnis einer erfolgreichen Integration und der damit idealerweise einhergehenden Einbürgerung sein.
Das Wahlrecht gehört zum traditionellen Kern der Staatsangehörigkeit. Die Bedeutung der Staatsangehörigkeit sollte nicht ausgehöhlt werden. Der Weg zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit führt über ein erfolgreiches Einbürgerungsverfahren. Und, Frau Abgeordnete Rothe-Beinlich, insoweit war Ihre Darstellung nicht ganz zutreffend. Die Zahl der Einbürgerungen in Thüringen steigt seit 2006 kontinuierlich. Wie Sie wissen, ist es mein Ziel, dass sich die Zahl der Einbürgerungen in Thüringen weiterhin nach oben entwickelt. Dafür habe ich mich bereits eingesetzt und werde dies weiter tun. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen herzlichen Dank, Herr Innenminister. Es gibt eine weitere Wortmeldung der Abgeordneten Sabine Berninger für die Fraktion DIE LINKE.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich möchte etwas richtigstellen, nicht dass hier ein falscher Zungenschlag im Raum stehen bleibt. Ich möchte Ihnen Artikel 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorlesen. Dort steht im Absatz 1: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Der Artikel 20 hat noch zwei weitere Absätze, die muss ich jetzt aber nicht vorlesen. Worauf ich hinaus will, der Herr Innenminister hat gerade von der Ewigkeitsgarantie gesprochen und da möchte ich richtigstellen, im Absatz 2 „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das Volk ist nicht definiert. Deswegen kann man für die Wahlberechtigung eine Grundgesetzänderung vornehmen und einfach als Volk auch andere Menschen als Staatsbürger definieren.