Protocol of the Session on November 16, 2000

(Beifall bei der PDS)

Als politische Opposition ist es unsere Aufgabe zu prüfen, wo die Landesregierung unter ihren Möglichkeiten blieb, wo sie dem Land Schaden zufügte, weil sie falsch, zu spät oder eben überhaupt nicht handelte - mit Vorsatz oder eben auch aus Unwissenheit. Denn bekanntlich schützt eine honorige Absicht nicht vor einer falschen Politik und das haben wir zur Genüge in der DDR kennen gelernt. Die Führung wollte für uns immer nur das Beste und glaubte, damit alles andere legitimieren zu können, man müsse nur an sie glauben. Diese Naivität ist vielen Ostdeutschen abhanden gekommen und deshalb schauen sie auch in Thüringen genauer hin und fragen, wie ich das jetzt auch tue.

Die von der Staatskanzlei initiierte Infratextumfrage "Trend September 2000" liefert genügend Ansätze, selbst wenn der Opposition auch nur einzelne Blätter zur Verfügung gestellt wurden.

Es gibt eine relativ hohe emotionale Bindung an Thüringen. Die Umfrage sagt aber leider nichts aus, inwieweit denn diese Befragten tatsächlich auch für ein solidarisches Zusammenleben in Thüringen stehen. Wenn für mehr als zwei Drittel der Befragten die wirtschaftliche Lage weniger gut oder schlecht erscheint, ist auch darin wenig von "Top Thüringen" zu erkennen.

Interessant finde ich dabei, dass es in der Wahrnehmung keinen Unterschied bei Intellektuellen wie "ganz normalen Menschen" gibt. Das heißt, die Unzufriedenheit oder Zufriedenheit kommt aus dem Kopf wie aus dem Bauch. Kein Wunder, nahezu jeder Zweite ist mit seiner eigenen finanziellen Situation unzufrieden, aber darüber hinaus geht es auch um die persönlich empfundene Lebens

situation, um die tägliche Demütigung auf Ämtern, um Bittstellungen, die Zustimmung oder Ablehnung erfahren, um erduldete Diskriminierung, weil Mann/Frau nicht jung, fit, flexibel und stark sind. Und auch das sage ich hier, das Selbstwertgefühl vieler Menschen hier in Thüringen ist angeschlagen und das ist beileibe kein individuelles Problem.

(Beifall bei der PDS)

Noch immer, 10 Jahre nach der Wende, sind und werden die geistigen Domänen, die entscheidenden Führungspositionen im Land, in Thüringen, von Menschen aus den alten Bundesländern besetzt.

Das kränkt. Nun gut, könnte man sagen, die in der DDR herrschende Ideologie musste schließlich beseitigt werden. Aber sogar Ingenieure, Kameraleute, Lokführer, Ökonomen, Wissenschaftler, Verkäufer wurden in die Wüste geschickt. Und jetzt, wie Herr Schäuble beispielsweise, das fast völlige Fehlen einer ostdeutschen Elite zu beklagen, ist makaber. Wie ist es mit dem Verlust der materiellen Kultur? Ich meine Kulturhäuser, Dorfclubs, Spielstätten, Lieder, Bücher, Filme, Wohngebietszentren, Dorfschulen und Bibliotheken, alles das, was Menschen über große Wegstrecken ihres Lebens begleitet hat. Als Reflex darauf entsteht dumpfe Ostalgie, die Weigerung, sich Neuem zu öffnen, die Früher-war-allesviel-besser-Mentalität. Der Vorwurf, auf dieser Welle zu reiten und daraus Nutzen zu ziehen, ist - bitte schön nicht an die PDS - zu richten, dann schon eher an "Super-Illu" und MDR. Politik hat das zu beachten, wenn auch mit der Arbeit der Landesregierung 8 Prozent der Befragten sehr zufrieden sind. Fast fünfmal mehr Menschen sind mit ihr unzufrieden. Das sollte uns, die Opposition, nicht freuen, denn mehr als die Hälfte der Thüringer sehen auch die Leistungen der Opposition kritisch.

Aber, Herr Ministerpräsident, es ist endlich Zeit, dass Handeln angesagt wird. Mit Phrasen von "Deutschlands starker Mitte" und "Top Thüringen" lösen wir kein einziges Problem.

(Beifall bei der PDS)

Zweitens: Der öffentliche Diskurs über Ursachen von Neofaschismus und Rechtsextremismus wurde lange Zeit vermieden. Sie erinnern sich selbst daran und, ich denke, viele, die hier in diesem Saal sitzen, wissen das sehr genau, dass die rechtsradikalen Aktivitäten und Straftaten kleingeredet wurden. Es seien nur jugendliche Randgruppen, die da agierten, wurde behaupte. Nicht bedacht wurde, dass offenbar der braune Schoß immer wieder fruchtbar ist und dass man den Anfängen wehren muss. Die Anfänge, nach denen heute immer gerufen wird, sind aber bereits überschritten. Also muss es heißen, wehret den Zuständen!

(Beifall bei der PDS)

"Wir sind wieder da", stand Ende August in roter Farbe in Erfurt-Melchendorf zu lesen. Wer hier seine Ankunft meldete, war an dem Hakenkreuz leicht feststellbar. Die Naziparole war auf eine Straße neben der Feuerwehr gesprüht, dort war sie zwei Tage lang zu lesen, obwohl Bürger und Bürgerinnen auch die entsprechenden Ämter informiert hatten. Jeder sah sie und nichts passierte. Einige empörte PDS-Mitglieder haben die Schmiererei am 25. August 2000 übertüncht. Ich erzähle das nicht, um für die von Ihnen wiederholt eingeforderte Zivilcourage, die hier gezeigt wurde, öffentliches Lob abzuholen, sondern sage dies, um hier auch die nächste Frage zu stellen: Wo waren denn die anderen? Diese Frage will ich auch auf alle anderen rechten und ausländerfeindlichen, auf die antisemitischen und chauvinistischen Attacken und Ausfälle in Thüringen bezogen wissen, wo waren Sie? Was haben Sie in den Jahren zuvor getan, um solches überhaupt undenkbar werden zu lassen? So nötig und nützlich der Aufstand der Anständigen ist, er wäre überflüssig, wenn nach der konservativen, geistigmoralischen Wende in der Bundesrepublik die Aufmerksamkeit gegenüber dem rechten Rand der Gesellschaft nicht spürbar nachgelassen hätte. So rückte der rechte Rand Schritt für Schritt in die Mitte der Gesellschaft. Der seinerzeitige

(Abgeordnete Arenhövel schüttelt mit dem Kopf)

ja doch, Frau Arenhövel - republikanische Schönhuber monierte Mitte der 90er Jahre ja nicht zu Unrecht - und vielleicht können Sie sich auch noch daran erinnern, das hat damals für große Schlagzeilen gesorgt -, dass inzwischen Unionspolitiker das aussprechen würden, wofür er Jahre zuvor noch selbst schwer kritisiert wurde.

Nicht das Boot ist voll, wir können nicht unterscheiden zwischen Ausländern, die uns nützen und die uns nicht nützen, sondern das Maß ist voll, wie leichtfertig mit Sorgen und Vorbehalten der Menschen umgegangen wird, wie Ressentiments, die sich auf Unwissenheit und Vorurteilen gründen, besonders auch von Konservativen politisch instrumentalisiert werden.

(Zwischenruf Abg. von der Krone, CDU: Das macht ihr genauso.)

Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der PDS)

Um den Zuständen zu wehren, braucht es ehrliche Aufklärung über die Entwicklung rechtsradikaler Strukturen ebenso wie einen offenen und authentischen Umgang mit der Geschichte.

(Zwischenruf Abg. Arenhövel, CDU: Aber die Kommunistische Plattform...)

Es geht um eine weltoffene Grundeinstellung, die Integration und Anerkennung auch der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern ermöglicht. Wie sieht das dazu hier in Thüringen aus? Überall ist man relativ schnell dabei, in diesem Sinne in Schulen, Medien, ja in der Gesellschaft bereits alles getan zu haben.

Aber, im April haben drei junge Neonazis auf die Erfurter Synagoge einen Brandanschlag verübt. Wir waren alle traurig, wütend und eigentlich auch ratlos. Ministerpräsident Dr. Vogel, die Landtagspräsidentin Lieberknecht und Erfurts Oberbürgermeister Ruge haben nunmehr, nachdem sie zuerst versuchten, wenn ich mich richtig an den April erinnere, die Sache zu verharmlosen, sich sogar weigerten, gemeinsam mit der PDS auf die Straße zu gehen gegen rechts, zu einer Protestkundgebung vor der Synagoge am 9. November aufgerufen. Nichts dagegen zu sagen, im Gegenteil, keine Partei hat schließlich das Monopol auf Antifaschismus.

(Beifall Abg. Dr. Fischer, PDS)

Wenn es sich bei der CDU dabei nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelt, das morgen schon wieder vergessen ist, und sie sich auch für die Verbesserung der Situation von hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern stark macht, so werden sich gewiss die meisten Thüringer Antifaschistinnen und Antifaschisten über die neuen Mitstreiter freuen.

Mit dem Aufruf zum 9. November sind Sie, Herr Ministerpräsident, hinter den gemeinsamen Ausgangspunkt und politischen Anspruch der Erklärung des Landtags vom Mai zurückgefallen. Mit Ihrer Rede vor der Synagoge haben Sie eine Korrektur vorgenommen. Das ist zu würdigen.

Meine Kritik richtet sich aber gegen die Sprache und damit gegen das Denken des Aufrufs, der ja schließlich von Amtsträgern der CDU unterzeichnet wurde. Es ist dieses Denken und es ist diese Sprache, die Rechtsradikale ermutigen oder ihnen zumindest nicht zeigen, wo die Grenzen für ihr Tun sind.

(Zwischenruf Abg. Dr. Zeh, CDU: Das ist ja wohl der Gipfel.)

Und dagegen, dagegen vor allem hat die PDS und haben viele andere darüber hinaus protestiert.

(Beifall bei der PDS)

Da ist zunächst die gewollt ungenaue Benennung der Täter. Ich zitiere: "Extremisten und politische Gewalttäter dürfen nie wieder eine Chance erhalten, Menschen einzuschüchtern oder zu terrorisieren."

(Zwischenruf Ab. Dr. Zeh, CDU: Das ist genau richtig.)

Halten wir fest - ja, genau -, Neonazis haben die Synagoge angezündet oder anzuzünden versucht. Rechtsextremisten, das haben Sie ja heute in Ihrer Rede sehr deutlich benannt, Herr Dr. Vogel, haben ausländische Wissenschaftler in Erfurt, Weimar oder auch in Jena überfallen. Also sollte man das auch so konkret sagen. Ein Problem zu bekämpfen, das funktioniert nicht, wenn es nicht konkret benannt wird, sondern es durch Vergleiche vernebelt wird. Und die Braunen, meine Damen und Herren,

(Beifall bei der PDS)

sind bereits am Werk; sie schlagen, brandschatzen und sie terrorisieren. Da mutet ein Appell, sie dürfen nie wieder eine Chance erhalten, reichlich albern an. Was soll das allgemeine Gerede von Extremisten und politischen Gewalttätern? Hat es etwa in Thüringen in den letzten zehn Jahren einen Anschlag der RAF oder Vergleichbares vermeintlicher Linksextremisten gegeben? Nein. Also wird hier ein Popanz aufgebaut.

(Zwischenruf Abg. von der Krone, CDU: In Arnstadt.)

(Zwischenruf Abg. Arenhövel, CDU: Das hätten Sie gern.)

(Beifall bei der PDS, SPD)

Im Übrigen, wenn wir schon von linken Jugendlichen sprechen, dann sollte man auch die anerkennenden Worte von Herrn Nossen vor der Synagoge am 9. November zitieren.

(Beifall bei der PDS)

Dort hat der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde positiv herausgestellt, dass es eben jene Jugendlichen sind, die sich Rechtsextremisten konsequent widersetzen. Als Teil der Anständigen standen sie auch ohne offiziellen Aufruf auf. Wenn klare Worte, Herr Ministerpräsident, von Ihrer Seite aus angebracht sind, dann an dieser Stelle. Auch in dieser Frage "eines Sinnes zu sein", Herr Ministerpräsident, heißt, Antifa raus aus dem Verfassungsschutzbericht.

(Beifall bei der PDS)

Sie waren dabei, Herr Ministerpräsident, als Herr Nossen dies ausdrücklich anerkannte und auch Sie selbst haben dort klare Worte gefunden. Sie nannten die Rechtsextremisten beim Namen und vermieden jede Zweideutigkeit. Das will ich auch durchaus anerkennen und quittieren und Sie damit auch von dem Verdacht freisprechen, Sie könnten, wie seinerzeit die Union, als sie Heinrich Böll als Sympathisanten von Terroristen denunzierte, Herrn Nossen unzulässige Nähe zu Linksextremisten unterstellen.

Für mich heißt das Angebot: Gegenwehr. Angebot an erschwinglichen Möglichkeiten mit Gleichaltrigen die Freizeit sinnvoll zu verbringen, das heißt für mich, gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Fürsorge fernab von Bevormundung und auch Entmündigung, das heißt für mich, Verzicht auf jegliche Missionierung. Rechtsorientierte Jugendliche kommen, wie die FSU Jena feststellte, vielfach aus autoritären Elternhäusern und lernen in Schulen, in denen Schülermitbestimmung nicht gerade hoch im Kurs steht. Viele der Anzuhörenden, die in der vergangenen Woche als Experten zum Thema "Rechtsextremismus" gesprochen haben, sahen nicht nur ein Jugend- und Gewaltproblem. Nur 8 Prozent der Jugendlichen akzeptieren Gewalt. Weit mehr, 30 Prozent der jungen Menschen, stimmen Ideologien der Ungleichheit zu. Und extrem rechte Orientierungen sind mittlerweile an den Gymnasien angekommen.

Thüringen braucht, so haben die Teilnehmer in beiden Anhörungen mehrheitlich deutlich gemacht, nicht nur Maßnahmen gegen Gewalt, sondern ein Landesprogramm gegen Rassismus, dessen gesellschaftliche und vorwiegend staatsferne Angebote vielerorts auch Erwachsene erreichen müssen.

(Beifall bei der PDS)

Ich erinnere daran, Herr Ministerpräsident, dass die PDS-Fraktion im Frühjahr erste Überlegungen für die Erarbeitung eines Landesprogramms im Landtag eingebracht hat. Ich bin mir sicher, dass nach der gemeinsamen Anhörung von PDS- und SPD-Fraktion ein erneuter Antrag an den Thüringer Landtag eingebracht werden könnte.

In dem bereits erwähnten CDU-Aufruf wird beispielsweise auch ein inhaltlicher Bezug zwischen dem 9. November 1938 und dem 9. November 1989 hergestellt. Nun frage ich mich, was hat das faschistische Pogrom, das die Nazis beschönigend als Reichskristallnacht bezeichneten, mit der Öffnung der Berliner Mauer zu tun? Was hat, wie es dort heißt, der Sieg über eine Diktatur - und eine ähnliche Formulierung haben Sie ja heute auch wieder in Ihrer Regierungserklärung - mit der Barbarei der Nationalsozialisten zu tun? Absolut nichts. Die DDR ging nicht am 9. November 1989 zugrunde, sondern wurde am 18. März 1990 demokratisch abgewählt von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, auch von Thüringerinnen und Thüringern.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Sie ist vorher schon zusammengebrochen.)

Offenkundig muss die Herrschaftsform, die auf solche Weise erfolgreich überwunden werden konnte, von anderer Qualität gewesen sein als die Nazidiktatur.