Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 39. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der achten Wahlperiode. Ich begrüße die Anwesenden auf das Herzlichste.
Wir setzen unsere 19. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen mit den Aktuellen Debatten unter den Tagesordnungspunkten 3, 4 und 5 sowie in dem zusätzlich aufgenommenen Tagesordnungspunkt 24. Dann folgt der Prioritätenblock mit den Tagesordnungspunkten 6, 7 und 8.
Ich erinnere daran, dass der Kollege Sven Schulze und Frau Hüskens sich ganztägig entschuldigt haben.
Ursprünglich hatte ich selbst noch etwas vor. Aber da es jetzt dazu eine Aktuelle Debatte gibt, verzichte ich auf diese Bemerkungen und kann damit gleich einsteigen in den
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: 90 Jahre Ermächtigungsgesetz - Erinnerung an den parlamentarischen Widerstand gegen die Legitimation der NS-Diktatur
Vielen Dank, Herr Präsident. - Hohes Haus! Heute auf den Tag genau vor 90 Jahren, am 23. März 1933, kam der am 5. März 1933 neu gewählte Reichstag in der Kroll-Oper in Berlin zu seiner zweiten Sitzung zusammen. Das Protokoll verzeichnet als ersten Beratungspunkt eine Geschäftsordnungsdebatte. Das ist ein normales parlamentarisches Geschäft am Beginn einer Legislaturperiode. So könnte man meinen. Aber nichts an dieser Sitzung war parlamentarische Normalität. Sie war der unerreichte Tiefpunkt deutscher Parlamentsgeschichte, weil eine Mehrheit der Abgeordneten den Reichstag als Gesetzgebungsorgan faktisch abschaffte und die Verfassungsordnung der Weimarer Republik endgültig zerstörte. An diesem Tag diente selbst die Änderung der Geschäftsordnung dazu, den Boden für die ungehinderte Terrorherrschaft der NSDAP zu bereiten.
Schon die Reichstagswahl selbst war nicht wirklich frei. Bereits mit der Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 hatte staat- licher Terror gegen alle Oppositionellen begonnen, allen voran gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. Durch Notverordnungen - nicht erst nach dem Reichstagsbrand - wurden die Versammlungs- und die Pressefreiheit und damit die Möglichkeit zum Wahlkampf stark eingeschränkt. Doch selbst in diesem Klima von Angst und Verfolgung wurden in den Reichstag 120 sozialdemokratische Abgeordnete gewählt, 81 Kommunistinnen und Kommunisten und 99 Abgeordnete der bürgerlichen Parteien, die in der Weimarer Republik den Verfassungsstaat mitgetragen hatten.
Um die Verfassung zu zerstören, brauchten die Nazis Handlanger. Als der Reichstag zusammentrat, waren den kommunistischen Abgeordneten bereits illegal die Mandate entzogen worden. Viele von ihnen wurden verhaftet. Auch neun sozialdemokratische Abgeordnete waren zu diesem Zeitpunkt bereits inhaftiert. Julius Leber wurde bei dem Versuch verhaftet, die Kroll-Oper zur Reichstagssitzung zu betreten. Leber wurde 1945 als Widerstandskämpfer in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Insgesamt konnten 26 SPD-Abgeordnete aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen nicht an der Sitzung teilnehmen.
Zu den Teilnehmern der Reichstagssitzung gehörte für die SPD Fritz Baade, Absolvent der Landesschule Pforta, Abgeordneter für den Wahlkreis Magdeburg und viele Jahre später Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Er erinnerte sich 1962 in einem Brief folgendermaßen an die Kulisse in der Kroll-Oper: Die SPDAbgeordneten hätten beim Betreten des Sitzungssaals den Eindruck bekommen, „dass alles für unsere Ermordung vorbereitet war. Hinter unseren Sitzen stand eine dichte Kette von SS-Leuten, die mit Pistolen bewaffnet war.“
Es brauchte also Mut, um in dieser Reichstagssitzung Nein zu sagen, Nein zur endgültigen Zerstörung der demokratischen Verfassungsordnung durch das Ermächtigungsgesetz. Aber die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten haben am 23. März 1933 bewiesen, dass es sehr wohl möglich war, diesen Mut aufzubringen und der Gewalt zu widerstehen. Sie stimmten geschlossen mit Nein und sie stimmten als einzige mit Nein.
Möglich wurde das Ermächtigungsgesetz nur durch die Mitwirkung der bürgerlichen Parteien. Die Weimarer Verfassung sah für verfas-
sungsändernde Gesetze ein doppeltes Quorum vor. Zwei Drittel der Reichstagsmitglieder mussten anwesend sein und von denen mussten zwei Drittel zustimmen. Um das Ermächtigungsgesetz durchzubringen, reichte aber weder der willkürliche Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten noch die Manipulation der Geschäftsordnung, die an diesem Tag beschlossen wurde. Auch kranke Abgeordnete und solche, die auf der Flucht vor Verfolgung oder schon im Exil waren, konnten jetzt als anwesend gewertet werden. Neben dieser Rechtsbeugung brauchten Hitler und Göring aber immer noch Unterstützer, um dem Terrorstaat ein formalrechtliches Mäntelchen umzuhängen. Das heißt auch, am 23. März 1933 hätte jede und jeder einzelne Abgeordnete die Chance gehabt, das scheinparlamentarische Spiel der Nazis mit parlamentarischen Mitteln zu verhindern.
Es war Otto Wels, einer der drei Parteivorsitzenden der SPD, der mit seiner Rede gegen das Ermächtigungsgesetz die Würde des Parlaments hochgehalten hat. Otto Wels hielt Hitler die Verfassungsgrundsätze und Errungenschaften der Weimarer Republik vor. Ich zitiere:
„Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. [...] Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechts [...]. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“
Diese Rede von Otto Wels ist ein bleibendes Dokument des mutigen Einstehens für die Demokratie im Angesicht von Gewalt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will nicht verschweigen, dass es auch beim Zen- trum und bei den Liberalen Abgeordnete gab, die sich in ihren Fraktionen für eine Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes aussprachen. Aber keiner von ihnen konnte sich durchsetzen. Alle haben sich im Reichstag an die Linie ihrer Parteiführung gehalten. Aber unser Gewissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat nicht umsonst Verfassungsrang. Keine Fraktionsdisziplin kann rechtfertigen, einem Diktator den Freibrief für unbeschränkte Macht auszustellen; ein Freibrief, der zur Gleichschaltung aller sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte und in letzter Konsequenz auch zu Weltkrieg und Judenvernichtung führte.
Für ihre Standhaftigkeit zahlten die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im NS-Staat einen hohen Preis. Fast alle SPD-Abgeordneten waren schärfster Verfolgung ausgesetzt. Sie wurden verhaftet, ermordet, ins Exil oder in den Selbstmord getrieben. Knapp ein Drittel von ihnen landete im Konzentrationslager. Ebenso hart waren die Verfolgungsmaßnahmen gegen die kommunistischen Abgeordneten, von denen zudem viele im sowjetischen Exil Opfer stalinistischer Säuberungen wurden.
Bei dieser Aktuellen Debatte geht es jedoch nicht um Heldenverehrung. Was auf die Reichstagssitzung am 23. März folgte, war auch kein Heldentum, sondern eine Zeit tiefer Verun- sicherung und Orientierungslosigkeit. In der SPD gab es einen verzweifelten Richtungsstreit darüber, ob man den Kampf gegen den Nazi-Staat besser aus dem Exil steuern oder ob man ver- suchen sollte, im Reich eine legale Opposition aufrechtzuerhalten. Die Fragen wurden schließ-
Das alles ist jetzt 90 Jahre her und doch ist es ein Lehrstück für heute. Wir alle haben die Bilder amerikanischer Kongressabgeordneter vor
Augen, die sich am 6. Januar 2021 im Kapitol in Washington vor einem fanatischen Mob in Sicherheit bringen mussten, der vom abgewählten Präsidenten Trump zur Besetzung des Parlaments aufgewiegelt worden war. Wir haben erst vor wenigen Wochen ähnliche Bilder aus Brasilien gesehen, als Anhänger des unterlegenen Präsidenten Parlaments-, Regierungs- und Justizgebäude besetzten. Wir haben am 29. August 2020 gesehen, wie Rechtsextremisten und Querdenker gegen die Türen des Reichstags- gebäudes in Berlin anrannten.
der hier am Rednerpult ankündigte, Demons- tranten mit Fackeln und Mistgabeln vom Domplatz zu den Büros der demokratisch gewählten Abgeordneten zu führen.
Kurzum: Demokratisch gewählte Parlamente ziehen auch heute noch Wut von Diktatoren und Möchtegerndiktatoren auf sich.
Aber es ist nicht nur die Drohung mit nackter Gewalt, die eine Gefahr für die parlamenta- rische Demokratie darstellt, gefährlich ist ebenso die Aushöhlung des Verfassungsstaates von innen, wenn sich demokratische Parteien darauf einlassen, mit Rechtsextremisten zu paktieren, oder wenn die Gewaltenteilung und
andere rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden sollen. Das müssen wir uns immer vor Augen führen.
Demokratie ist kein Selbstläufer und hat keine Ewigkeitsgarantie. Sie braucht immer wieder den aktiven Einsatz der Demokratinnen und Demokraten und hin und wieder den Mut eines Otto Wels.
Ich möchte zum Abschluss Ernst Reuter zitieren, Oberbürgermeister und Reichstagsabgeordneter für Magdeburg und später der Regierende Bürgermeister von Westberlin. Reuter wurde gleich zweimal in das Konzentrationslager Lichtenburg in Prettin im heutigen Landkreis Wittenberg eingeliefert. Er erinnerte sich später an seine Lagerhaft mit den Worten - ich zitiere -:
„So wenig wie ich die Schreie der Geschlagenen in der Nacht vergessen werde, so wenig werde ich aus meiner Erinnerung auslöschen können, wie meine Kameraden aufrecht und ungebrochen vor ihren Peinigern standen und ihnen immer noch Respekt einflößten, wenn sie auch wehrlos waren.“
Diese Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes war - das muss man den Sozialdemokraten lassen - eine Sternstunde in der Geschichte der Sozialdemokratie. Aber indem Sie versuchen, aus diesem historischen Ereignis für das Hier und Heute politischen Honig zu saugen, indem Sie diese große Geschichte missbrauchen, ziehen Sie sich in den Dreck und erweisen sich als unwürdige Erben Ihres sozialdemokra- tischen Erbes.
Wenn es in Deutschland wieder dazu kommen sollte, dass es im Namen der Menschlichkeit notwendig wird, gegen das Unrecht an der Macht Widerstand zu leisten, dann vermute ich, dass Sie die Rolle desjenigen spielen, der zu Unrecht an der Macht ist.
In der letzten Sitzung des Bildungsausschusses fand eine Anhörung mit Verbänden aus der queeren Community statt. Ich erinnere mich sehr wohl an die Sätze, die Sie an die Anwesenden gerichtet haben: Wenn wir eines Tages an der Macht sind, dann werden wir all Ihre Projekte streichen.