Protocol of the Session on October 23, 2019

Denn tatsächlich werden die Menschen seit Jahrzehnten von der herrschenden Politik immer wieder nachhaltig enttäuscht. Das erleben wir gerade ganz aktuell in Zeitz. Wir sind nicht in der Lage, unsere Krankenhäuser und Schulen zu sanieren. Wir treiben unsere Kommunen großflächig in immer neue Konsolidierungsrunden. Wir können wegen des eklatanten Personalmangels im öffentlichen Dienst viele staatliche Aufgaben nicht mehr erfüllen, nicht in den Schulen, nicht bei den Sicherheitsbehörden, nicht in der Justiz und auch nicht in vielen Verwaltungen.

Es gibt noch keinen Plan für eine dauerhafte Erweiterung der Schulsozialarbeit in ausreichendem Umfang und wir veranstalten gerade einen Politikzirkus um die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge.

(Guido Heuer, CDU: Thema verfehlt! - Wei- tere Zurufe von der CDU)

Diese Liste des staatlichen Rückzugs aus der staatlichen Verantwortung ließe sich noch lange fortsetzen. Es geht eben immer wieder um das Geld, das für elementare Dinge nicht vorhanden zu sein scheint. Durch die Steuerpolitik der letzten 20 Jahre wurden die öffentlichen Finanzen systematisch ruiniert, um den schlanken Staat zu schaffen.

(Ulrich Thomas, CDU: Was hat das jetzt mit Halle zu tun?)

Herausgekommen aber ist ein ausgehungerter Staat, dem seine politische Gestaltungskraft, sei

ne wirtschaftliche Steuerungsfähigkeit und seine soziale Schutzfunktion mehr und mehr verloren gehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch das liefert den Stoff für rechte Propaganda. Überall dort, wo die Menschen zu Recht ihren enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen Luft machen wollen, läuft die AfD auf und findet Gehör und Zuspruch.

(Zuruf von der AfD)

Die neue Rechte mit der AfD als ihrem parlamentarischen Arm konnte auf einem Boden gedeihen, der spätestens seit dem Beginn der 80er-Jahre durch die sogenannte geistig-moralische Wende in neoliberalen Denkfabriken wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vorbereitet wurde.

(Zurufe von der CDU und von der AfD)

- Das wollt ihr nicht hören.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir können aber der rechten Propaganda ihren Nährboden nur entziehen, wenn wir das Vertrauen der Menschen in die Gestaltungskraft realer Politik zurückgewinnen. Dazu müssen die sozialen Fragen der Menschen wieder ins Zentrum der politischen Arbeit gerückt werden und wir müssen dafür endlich überzeugende Antworten liefern. Es ist doch nicht wirklich schwer zu verstehen, dass die Menschen von uns die Sicherung ihrer Lebensgrundlagen erwarten, von Bildung und Arbeit über Wohnen und Mobilität bis zur Alterssicherung und Gesundheitsversorgung, und nicht zuletzt den Schutz von Natur und Klima.

Wir müssen aber auch erkennen, dass Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit keine Phänomene gesellschaftlicher Ränder sind, sondern tief in unsere Gesellschaft hineinreichen. Gerade weil es dafür einen Resonanzraum auch in der Mitte der Gesellschaft gibt, fühlen sich rechte Täter ermutigt und bestärkt.

Deshalb müssen wir uns gründlicher mit den Strukturen und Wirkungsmechanismen rechter Propaganda und rechter Netzwerke beschäftigen. Wir fordern daher die demokratischen Fraktionen auf, mit uns gemeinsam noch in diesem Jahr eine Enquete-Kommission einzurichten. Sie soll sich mit Rassismus, Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft auseinandersetzen, deren Bedeutung für aktuelle Entwicklungstendenzen des rechten Terrors untersuchen und ein dagegen gerichtetes Landesprogramm erarbeiten, das in Zusammenarbeit mit den Trägern der Zivilgesellschaft erstellt werden soll.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben in unserem Antrag darüber hinaus weitere konkrete Maßnahmen genannt, um den Entwicklungen in unserer Gesellschaft und dem zunehmenden Gefährdungspotenzial durch rechte Gewalt Rechnung zu tragen. Wir brauchen beides: Wir brauchen Änderungen in der Innen- und Rechtspolitik und im politischen Diskurs. Denn wenn der Rechtsruck nicht beendet und wieder zurückgedrängt werden kann, dann wird keine sicherheitspolitische Maßnahme dieser Welt rechter Gewalt und rechtem Terror wirksam begegnen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser gesellschaftliche Diskurs muss unterstützt und begleitet werden. Dafür gibt es bereits umfangreiche Strukturen und Angebote der Demokratieförderung, die langfristig in ihrer Arbeit gesichert und weiter ausgebaut werden müssen. Dass angesichts steigender Zahlen rechtsextremer Übergriffe die Mobile Opferberatung seit vielen Jahren unter schweren Bedingungen ihre wichtige Arbeit leisten muss, ist beschämend und muss dringend geändert werden.

Auch in die Aufklärungs- und Präventionsarbeit muss deutlich mehr investiert werden. Im Verhältnis zu den Kosten polizeilicher Sicherheitsmaßnahmen sind die Ausgaben für gesellschaftspolitische Präventionsarbeit vergleichsweise gering. Das Signal aus der Bundesregierung, gerade in solchen Zeiten die Mittel für die Demokratieförderung massiv zu kürzen, hat gezeigt, wie instinktlos, ja skandalös, politische Entscheidungen sein können.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir dürfen nicht im Gedenken und in der Betroffenheit verharren. Wir müssen nicht nur die Sprachlosigkeit überwinden, sondern wir müssen dem Rechtsruck in unserer Gesellschaft und der sozialen Verunsicherung in wachsenden Bevölkerungskreisen konsequent entgegentreten. Wir müssen der zunehmenden Verrohung im Umgang miteinander und dem Ausufern rechter Gewalt die Stirn bieten. Dafür sind klare Analysen und der verstärkte Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen erforderlich. Wir wollen unseren Kindern und Enkeln in die Augen sehen können, wenn sie uns fragen, was wir in unserer Verantwortung getan haben, um den Schwur „Nie wieder“ zu erfüllen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Lippmann, es gibt eine Wortmeldung des Abg. Herrn Siegmund.

Ich habe alles gesagt. Ich glaube, die Zeit war ausreichend.

Nichtsdestotrotz hat der Abg. Herr Siegmund die Möglichkeit, eine Kurzintervention zu machen. - Bitte.

Sehr geehrter Herr Kollege Lippmann, ich finde es unverantwortlich, dass Sie hier einen derart tragischen Vorfall zum Inbegriff der Instrumentalisierung Ihrer Fraktion machen. Das war absolut beschämend.

Es ist mir zweitens unbegreiflich, wie Sie aus diesem Vorfall die Schlussfolgerungen zum Neoliberalismus und zu weiteren wirtschaftspolitischen Dingen spinnen können. Das kann ich einfach nicht in Worte fassen und ich finde es dem Anlass entsprechend nicht angemessen.

(Zustimmung bei der AfD)

Der dritte Punkt ist: Es ist für mich noch unverständlicher, wie Sie diese Vorfälle instrumentalisieren können, um weitere Gelder für die Vereine einzutreiben, in der Ihre Klientel arbeitet. Das ist an Hohn in meinen Augen nicht zu überbieten. - Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Vielen Dank, Herr Siegmund. Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. - Bevor wir Frau Lüddemann das Wort übergeben, werden wir einen kleinen Wechsel vornehmen.

Ja, Frau Lüddemann, Sie haben das Wort. Bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Mitglieder der demokratischen Fraktionen. In Halle mussten am 9. Oktober 2019 zwei Menschen sinnlos sterben, weitere wurden verletzt. Auch heute noch bin ich, wie viele andere, fassungslos und erschreckt über die Tat an sich, aber auch über deren Beliebigkeit. Es hätte jede und jeden treffen können.

Jana L. und Kevin S. mussten sterben, weil dem Täter von Halle eine noch schlimmere Bluttat misslang. Das haben wir nicht der Aufklärung von Sicherheitsbehörden zu verdanken, sondern schlicht einer Tür. Der Standhaftigkeit dieser Synagogentür ist es zu verdanken, dass wir von

einem Massaker wie in Christchurch verschont geblieben sind.

Nach dem Schock, der Wut und vor allem der Trauer um die Opfer kommt nun die Zeit der Aufarbeitung und vor allem der Frage nach den Konsequenzen dieser schrecklichen Tat. Denn diese Tat war mitnichten ein Alarmsignal. Diese Tat war für alle, die mit offenen Augen und Ohren durch unser Land gehen, leider absehbar.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Sie war nicht absehbar für diesen Tag und nicht für diesen Ort, aber sie war absehbar seit mindestens 2011, seit den unsäglichen Attentaten in Norwegen, seit Toulouse, Kopenhagen, El Paso, Pittsburgh und Texas, seit dem Tod Walter Lübckes, seit dem NSU und seit Combat 18, seit Chemnitz. Dass Radikalisierung und Zuspitzung im rechten Milieu stattfinden, ist für jeden, der sehen will, sichtbar. Und Bücher wie von Björn Höcke geben explizit Auskunft über faschistische Weltbilder im 21. Jahrhundert.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus können sich Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht sicher fühlen. Und es ist mehr als erschreckend, das vielen Menschen erst jetzt klar wird, wie weit die Gefahr schon gediehen ist. „Judensau“ wird auf vielen Schulhöfen oder in Fußballstadien in Deutschland als Schimpfwort gebraucht.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung rät Juden, aus Sicherheitsgründen auf das Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit zu verzichten.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Jüdische Gottesdienste müssen unter Polizeischutz abgehalten werden. Das Internet ist voll von bösartigsten antisemitischen Klischees und Ressentiments. Was lange im Geheimen gedacht, sich in obskuren Foren radikalisierte, tritt immer häufiger und ungeschminkter zutage.

Aus hasserfüllten Gedanken und Worten werden mörderische Taten. Mindestens nach dem brutalen Mord an Walter Lübcke und den Toten und Verletzten von Halle ist klar: Der Rechtsextremismus hat der Zivilgesellschaft den Kampf erklärt, offen und bewaffnet.

Er folgt dem uralten Muster der Verbindung von Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus. Aus dem sogenannten Manifest des Täters von Halle geht klar hervor: Damit sind alle Teile der Zivilgesellschaft gemeint.

So, wie es den migrantischen Döner-Laden traf, hätte es auch ein indisches Lokal, ein Frauenzentrum, ein selbstverwaltetes Jugendprojekt oder ein Kulturcafé treffen können.

Es ist überfällig, all denen Glauben zu schenken, die seit Jahren vor den rechten Entwicklungen warnen und Belege für die schleichende Radikalisierung vorlegten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)