Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren, Mitglieder des Hohen Hauses! Ich eröffne die 99. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode und begrüße alle herzlich.
Wir beginnen die heutige Sitzung mit den Tagesordnungspunkten 5 und 38. Ich darf daran erinnern, dass sich für heute Herr Minister Bullerjahn bis 14 Uhr sowie Frau Ministerin Professor Dr. Kolb ganztägig entschuldigt haben. Heute ist Sitzung des Bundesrates.
Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reiner Haseloff zum Thema: „25 Jahre Sachsen-Anhalt: Unser Land auf gutem Weg“
Ich erteile nunmehr Herrn Ministerpräsidenten Dr. Haseloff zur Abgabe der Regierungserklärung das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesem Jahr feiern wir 25 Jahre deutsche Einheit. Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen sind längst Geschichte; nur noch Fragmente erinnern heute an die Mauer. Mit der friedlichen Revolution 1989/1990 haben sich Deutsche zum ersten Mal aus eigener Kraft selbst befreit und die nationale Einheit wieder herbeigeführt. Erst kam die Freiheit, dann die Einheit.
Die friedliche Revolution steht in der guten Tradition deutscher Freiheitsbewegungen, vom Hambacher Fest 1832 bis zum Juni-Aufstand 1953. Sie fand nicht gegen, sondern im Einverständnis mit den Nachbarn in Ost und West statt und sie war gewaltlos. Bis heute prägt diese große Erfolgsgeschichte zu wenig unser Selbst- und Geschichtsbewusstsein.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Vierteljahrhundert deutsche Einheit legt auch den Blick frei auf die Entwicklung in Sachsen-Anhalt seit 1990.
In diesem Zeitraum hat sich vieles grundlegend verändert. Die Bilanz fällt erfreulich aus. SachsenAnhalt hat seine zweite Chance glücklich genutzt.
Lebensstandard und Wirtschaftsleistung in unserem Bundesland haben sich gut entwickelt. Wir haben unter schwierigsten Bedingungen viel erreicht. Das gilt vor allem mit Blick auf den wirtschaftlichen Transformationsprozess. Zu ihm gab es, vor allem wegen des Zusammenbruchs des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, keine Alternative. Seine Umsetzung erwies sich aber als sehr schwierig, komplizierter jedenfalls, als viele damals ahnten.
Nach 1990 hat sich die Wirtschaftsstruktur im Osten Deutschlands nachhaltig verändert. Die neuen Länder standen vor einer wahren Herkulesaufgabe. Besonders herausfordernd war die Ausgangssituation in unserem Bundesland. SachsenAnhalt hatte aufgrund der riesigen Industriekombinate im Chemiedreieck Leuna, Halle und Bitterfeld sowie am Maschinenbaustandort Magdeburg unter allen neuen Bundesländern die schwierigsten Startbedingungen. Rund um Magdeburg und im Chemiedreieck gab es die größten Monoindustriestrukturen in der DDR.
Die strukturellen Probleme waren groß und die Wandlung von einer ineffektiven Planwirtschaft zu einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft war eine ganz besondere Herausforderung. Enttäuschungen blieben nicht aus. Wir haben
Schrumpfung und Wachstum in vielen Regionen und den Niedergang und den Aufstieg von ganzen Industriezweigen erlebt. Aber wir haben auch gelernt, mit diesem Wandel umzugehen und ihn erfolgreich zu gestalten.
Richtig ist aber auch, während sich für die meisten Bürger der alten Bundesrepublik nach 1989 nichts oder nur wenig veränderte und grundsätzlich alles beim Alten blieb, kam es hier in den Biografien von vielen Bürgerinnen und Bürgern zu einschneidenden Veränderungen und Brüchen, vor allem durch den Verlust des Arbeitsplatzes.
Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf den Alltag und die Sozialbeziehungen bleiben. Der individuelle Arbeitsplatz hatte einen sehr großen Stellenwert. Die Arbeitsstelle war mehr als nur ein Ort produktiver Tätigkeit, sie war vor allem eine vertraute Umgebung und ein Ort sozialer Gemeinschaft. Im Westen dagegen wurde Beruf und Privates strikter getrennt. Im Osten war der Einzelne fest in sein Kollektiv eingebunden.
Das endete für viele Menschen abrupt. Ende 1993 waren nur noch 29 % der im November 1989 Erwerbstätigen ununterbrochen im selben Betrieb tätig. Mehr als die Hälfte hatte, oft mehrfach, an ar
beitsmarktpolitischen Maßnahmen teilgenommen. Viele Menschen mussten sich neu orientieren und taten sich oft schwer. Manches wirkt sogar bis heute nach.
Das weiß ich auch aus meinen Bürgersprechstunden und aus vielen persönlichen Begegnungen. Manchen gelang der Neustart sehr gut, andere hatten ihre Schwierigkeiten und manche scheiterten auch. Vor diesen Menschen habe ich höchsten Respekt, weil ich weiß, wie deren Situation war.
Ich selbst habe die schwierigen Anfangsjahre in meinen damaligen Funktionen, erst als stellvertretender Landrat und dann als Arbeitsamtsdirektor in Wittenberg, erlebt und weiß sehr genau, was es bedeutet, sich solchen Herausforderungen zu stellen. Später habe ich als Wirtschaftsminister mit dem Modell Bürgerarbeit versucht, die sozialen Folgen abzufedern. Der Aufbau Ost war jedenfalls kein schlichter Nachbau West; oft musste kurzfristig auf Entwicklungen reagiert werden, deren Mittel und langfristige Auswirkungen kaum abschätzbar waren. Vieles war nicht planbar.
Sehr geehrte Damen und Herren! Trotz aller Probleme gelang aber der Sprung von Marx zum Markt. Ich möchte einige Beispiele nennen: In den letzten 25 Jahren wurden die Verkehrswege unseres Bundeslandes auf die veränderten Mobilitätsbedürfnisse des Personenverkehrs und auf die Transportbedürfnisse einer modernisierten, international vernetzten Wirtschaft umgestellt. Mehrere tausend Kilometer Schienen, Autobahnen, Bundes- und Landesstraßen wurden nach 1990 neu oder grundlegend ausgebaut. Hinzu kommen natürliche Wasserstraßen wie die Elbe oder der Mittellandkanal mit dem Wasserstraßenkreuz Magdeburg. Das Flughafenkreuz Leipzig-Halle entwickelt sich immer mehr zu einem Drehkreuz im internationalen Luftfrachtverkehr. Heute bieten unsere modernen Verkehrsinfrastrukturen für Unternehmen optimale Bedingungen.
Sukzessive wurden die Kombinatsstrukturen im Maschinen- und Anlagenbau sowie der Chemieindustrie aufgelöst. Die Folgen des damit verbundenen Deindustriealisierungsprozesses und enormen Modernisierungsdrucks konnten nach anfänglichen Schwierigkeiten überwunden werden. Heute prägen nicht mehr ineffiziente Staatsunternehmen das Bild; an ihre Stelle sind moderne und wettbewerbsfähige Firmen getreten. Sie haben den Wandel erfolgreich bewältigt, Nischen gefunden und besetzt oder sind sogar als „Hidden Champions“ führend in ihrem Marktsegment. Solche Erfolgsgeschichten sind keine Seltenheit.
Viele Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren für eine Ansiedlung in Sachsen-Anhalt oder den Ausbau ihres Standortes entschieden.
Das Bruttoinlandsprodukt von Sachsen-Anhalt hat sich zwischen 1991 und 2013 von 20,2 Milliarden € auf 53 Milliarden € erhöht und damit verzweieinhalbfacht. Auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich deutlich entspannt, was mich sehr freut. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich zwischen 2005 und 2014 halbiert. Im Herbst 2014 lag die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt erstmals unter 10 %. Im September 2015 betrug sie 9,7 % und lag damit erneut unterhalb von 10 %.
Sie dauerhaft unter diese Marke zu drücken, bleibt ein wichtiges Ziel meiner Regierung. Ebenso erfreulich ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zwischen 2010 und 2014 trotz des Personalabbaus im öffentlichen Dienst durchschnittlich um 0,3 % pro Jahr gewachsen ist. Damit verbunden ist eine sukzessive Angleichung der Arbeitsproduktivität an das westdeutsche Niveau. Allerdings ist dieser wirtschaftliche Aufholprozess noch längst nicht abgeschlossen.
Zweifellos hat sich unsere Wirtschaft deutlich stabilisiert. Sie hat an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen, auch dank solidarischer Hilfe aus den alten Bundesländern und großzügiger Hilfe der Europäischen Union. Diese erfolgreiche Investitions- und Innovationsförderung wollen wir als Landesregierung fortsetzen. Entscheidend ist vor allem eine Stärkung der Innovationskraft und Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen.
Das Ministerium für Wissenschaft und Wirtschaft hat deshalb im November 2014 eine Mittelstandsoffensive „i 3“ - das ist der Dreiklang von Wachstum durch Innovationen, Investitionen und Internationalisierung - gestartet. Die regionale Innovationsstrategie Sachsen-Anhalt 2014 bis 2020 soll die Forschungs- und Entwicklungsleistungen aus Hochschulen und wirtschaftsnahen außeruniversitären Forschungseinrichtungen noch wirksamer in den Dienst der Unternehmen stellen. Die Voraussetzungen dafür sind sehr gut.
Seit Anfang der 90er-Jahre wurde eine Reihe von außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Sachsen-Anhalt angesiedelt: fünf Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, drei Max-Planck-Institute, eine Max-PlanckForschungsstelle und zwei Fraunhofer-Einrichtungen. Hinzu kommen Standorte von zwei Großforschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft und der Partnerstandort Magdeburg des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Darüber hinaus hat sich unser Bundesland zu einem attraktiven Hochschulstandort, auch für Studentinnen und Studenten aus den westlichen Bundesländern und dem Ausland, entwickelt. Zwei Universitäten, eine Kunsthochschule, vier Fachhochschulen inklusive eines Fachbereichs Verwaltungswissenschaften, zwei kirchliche Hochschulen und eine Fachhochschule Polizei sind in Sachsen-Anhalt ansässig.
Im Ranking des Zentrums für Hochschulentwicklung 2015 belegten die Studiengänge Mathematik und Informatik der Otto-von-Guericke-Universität Spitzenplätze, vor allem bei den exzellenten Studienbedingungen.
Die Martin-Luther-Universität Halle hat zum dritten Mal eine Alexander-von-Humboldt-Professur, den Nobelpreis Deutschlands, eingeworben.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Mi- nister Herrn Stahlknecht und von Minister Herrn Dr. Aeikens - Zuruf von Herrn Lange, DIE LINKE)
Ich möchte auch an die Einweihung des neuen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums vorgestern in Halle erinnern. Das ist übrigens eine der größten Investitionen in diesem Bereich, die wir nach der Wiedervereinigung im Land SachsenAnhalt realisiert haben. Die Konzentration der bisher über die Stadt verstreuten Institute bringt für Studierende und Stadt erhebliche positive Veränderungen mit sich. Hier wird ein attraktives Umfeld geschaffen, das die Universität deutlich voranbringt. In der Bernburger Vereinbarung haben sich die Hochschulen und das Land 2013 zudem auf einen vernünftigen Finanzierungskurs geeinigt, den beide Seiten jetzt einhalten.
Trotz unserer Erfolge stehen wir vor großen arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen. Die Besetzung offener Stellen ist schwieriger geworden. Bereits heute klagen Unternehmen verschiedener Branchen in Sachsen-Anhalt punktuell über Probleme, geeignete Fachkräfte zu finden.
So ist die Zahl der Schulabgänger in SachsenAnhalt seit langer Zeit rückläufig und die Zahl der Auszubildenden hat sich zwischen 1997 und 2003 mehr als halbiert. Das heißt im Umkehrschluss: Mittlerweile kann jedem ausbildungswilligen und -fähigen Jugendlichen in Sachsen-Anhalt ein betrieblicher Ausbildungsplatz zugesichert werden.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Mi- nister Herrn Stahlknecht und von Minister Herrn Dr. Aeikens)
Die Chancen, einen Ausbildungsplatz im Heimatbundesland zu bekommen, waren nie besser als heute. Dies ist sehr erfreulich, denn eine abgeschlossene Berufsausbildung ist eine unabding
bare Voraussetzung für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen, Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben.
Zudem ist ein hohes Bildungsniveau eine wichtige Grundlage für eine stabile Demokratie. Die Demokratie ist aber auch komplex. Die Welt wächst zusammen und ist so nicht einfacher geworden. Deshalb ist eine gute Bildung wichtig, denn sie schützt vor den Parolen der schrecklichen Vereinfacher, der Demagogen.
Für eine gute Bildung tun wir sehr viel in SachsenAnhalt: von der Sanierung und Modernisierung aller bestandsfähigen Schulen und Kindertagesstätten im Rahmen des Stark-III-Programms über eine im Ländervergleich sehr gute Unterrichtsversorgung - in den letzten Monaten wurden mehr als 500 Lehrerinnen und Lehrer eingestellt - bis hin zur Sprachförderung für Migrantinnen und Migranten an öffentlichen Schulen.
Zudem lernen heute immer mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen. Die gemeinsame Beschulung ist eine von vielen Maßnahmen und Programmen zur Verwirklichung der Inklusion, die mir sehr am Herzen liegt. Beispielhaft möchte ich an das Behindertengleichstellungsgesetz und den Landesaktionsplan erinnern, mit denen aus einem Nebeneinander ein Miteinander wird.