Protocol of the Session on June 4, 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist die Zielrichtung des Gesetzentwurfes, das Gesamtsystem staatlicher Repressions- und Verfolgungspolitik zu erfassen. Die Beschränkung der Aufarbeitung auf die Behörden der Staatssicherheit wird den vielen Einzelschicksalen mit anderen Unrechtserfahrungen in der DDR und aus der Zeit nach dem 8. Mai 1945 nicht gerecht. Diese Unrechtserfahrungen, die weit über die Staatssicherheit hinausgehen, gilt es gleichermaßen aufzuarbeiten. Daher wollen wir die Aufarbeitung von Unrechtserfahrungen aus der Zeit der DDR und aus der Zeit der sowjetischen Besatzungszone nach dem 8. Mai 1945 ergänzen.

25 Jahre nach dem Ende der Diktatur verschieben sich auch die Aufgabenschwerpunkte von der Begutachtung der Unterlagen, der Beratung und Einsicht in die Akten und der Rehabilitation hin zu ganz neuen Aufgaben im Bereich der Aufarbeitung und Vermittlung der 45-jährigen Geschichte der sowjetischen Besatzungszone und der DDR.

Je mehr die Aufgaben im Bereich der Opferberatung zurückgehen, umso größer wird die Bedeutung der Aufgaben auf dem Gebiet der Aufarbeitung und Vermittlung werden.

Als weiteres Gesetzesziel wird neben der Zusammenarbeit mit der Stiftung Gedenkstätten und der Landeszentrale für politische Bildung festgelegt, dass der Landesbeauftragten die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Wirkmechanismen und die bis heute anhaltenden Folgen der SED-Diktatur und der sowjetischen Militäradministration obliegt. Hierzu sollen Forschung und politische Bildung gefördert und unterstützt werden.

Meine Damen und Herren! Insbesondere die Nachfrage nach Bildungsangeboten ist erfreulicherweise gestiegen. Dies wird nicht zuletzt durch die Studie „Disziplinierung durch Medizin“ über die venerologische Station der Poliklinik in Halle der Autoren Steger und Schochow bestätigt, mit der wir uns auf Antrag meiner Fraktion im Rechtsausschuss eingehend befasst haben.

Letztlich hat auch diese wissenschaftliche Studie belegt, dass sich das Wirken des Repressionssystems nicht allein mit der Fokussierung auf die Stasi und die Stasi-Unterlagen vermitteln lässt. Man muss auch dem Irrglauben vorbeugen, dass die DDR ohne das MfS ein ganz normaler Rechtsstaat gewesen wäre. Die Geschichte der DDR und der sowjetischen Besatzungszone muss in ihren Zusammenhängen analysiert und es müssen Unterschiede zu einem Rechtsstaat herausgearbeitet werden, zum Beispiel im Bereich der Justiz, der Polizei, aber auch - das sage ich ganz deutlich - der damals bestehenden Parteienlandschaft.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Aufgaben, Befugnisse und Pflichten der Landesbeauftragten werden in § 3 des Gesetzentwurfes hinreichend dargestellt. Den Aufgabenschwerpunkt bildet die Opferberatung, die nach wie vor nicht abgeschlossen ist. Die Unrechtserfahrungen wirken auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR fort.

In jüngster Zeit sind auch immer wieder neue Fälle von Unrecht bekannt geworden, die in der DDR mit Billigung oder sogar auf Anweisung staatlicher Organe geschehen sind. Denke wir an die ehemaligen Heimkinder, von denen heute viele unter den Spätfolgen von Misshandlungen und Arbeitszwang leiden.

Denken wir bitte auch an die von mir bereits angesprochene wissenschaftliche Studie zur Poliklinik

Halle, in der die Frauen durch medizinisch nicht notwendige Zwangsbehandlungen Opfer krimineller Handlungen geworden sind. Viele Betroffene der Abteilung für Geschlechtskrankheiten beginnen erst jetzt mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit. Es ist dabei völlig unklar, wie viele Frauen heute noch aufgrund dieser Zwangsbehandlung traumatisiert sind. Eines ist auch klar: Viele der Betroffenen haben heute ein anderes Leben als diejenigen, die nicht durch diese Untersuchungen diszipliniert worden sind.

Diese Studie, die uns im Rechtsausschuss erschüttert hat, war ein ganz wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung in unserem Bundesland.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weiterhin wird im Gesetzentwurf klargestellt, dass die psychosoziale Betreuung auch weiterhin zu den gesetzlichen Aufgaben der Landesbeauftragten gehört. Beraten werden auch weiterhin die gemäß dem Stasi-Unterlagengesetz Anspruchsberechtigten bei der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe der Unterlagen. Diese Aufgabe muss fortgeschrieben werden; denn die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht steigt nach dem Einbruch im Jahr 2014 wieder stetig an.

Ich komme zur Neuregelung der Rechtstellung der Landesbeauftragten. Die Landesbeauftragte ist derzeit dem Ministerium für Justiz und Gleichstellung unterstellt. Künftig wird das Amt der Landesbeauftragten zu einer Einrichtung des Landtags, über die der Landtagspräsident die Dienst- und Rechtsaufsicht führt. Dies ist richtig so und stärkt damit auch die inhaltliche Autonomie und Unabhängigkeit von staatlichen und politischen Weisungen für die Landesbeauftragte.

Um zu vermeiden, dass die Stelle nach Ablauf der Amtszeit unbesetzt bleibt - Sie entsinnen sich an das Problem -, sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Amtszeit für längstens sechs Monate als verlängert gilt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die neue Amtsbezeichnung der Landesbeauftragten ist auch den Aufgabenschwerpunkten geschuldet. Dass der Begriff „SED-Diktatur“ historisch und politisch zutreffend ist, verdeutlicht uns nicht zuletzt die große Anhörung im Rechtsausschuss im vergangenen Jahr auf Initiative der Koalitionsfraktionen. Der Bundesbeauftragte Roland Jahn hat die Formulierung „Landesbeauftragte zur Aufhebung der SEDDiktatur“ vorgeschlagen.

Das Inkrafttreten des Gesetzes ist für Anfang 2017 vorgesehen, da insbesondere für die Veränderung bei der institutionellen Zuordnung ein Vorlauf zur verwaltungstechnischen Umsetzung benötigt wird.

Budgeterhöhungen für die Landesbeauftragte sind in diesem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Die aufgabenbezogene Verbesserung der personellen

und finanziellen Ausstattung der Landesbeauftragten ist aber bei den nächsten Haushaltsberatungen zu prüfen.

Vor allem im Schulunterricht zeichnet sich ein neuer Bedarf an der Finanzierung von Bildungsprojekten ab. Schüler müssen über die Wirkmechanismen und Folgen von Diktatur und sowjetischer Militäradministration unterrichtet werden, sowohl durch Zeitzeugenberichte als auch durch Opfergedenken, kritische Erinnerung und geschichtswissenschaftlich fundierte Bildung.

Diesen Bedarf müssen wir künftig auch haushalterisch abbilden. Auch fehlt in unserem Land ein landesgeschichtlicher Lehrstuhl, der sich mit der Aufarbeitung der Diktatur der DDR befasst. Wir sind also allein mit dem neuen Aufgabenprofil, der Veränderung der Amtsbezeichnung und der institutionellen Zuordnung des Amtes noch nicht am Ziel.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie bereits erwähnt, wurde über den Gesetzentwurf im Rechtsausschuss breit diskutiert. Dem Rechtsausschuss lag bereits vor dieser Einbringung ein Arbeitsentwurf zur Meinungsbildung und Diskussion vor.

Abschließend bitte ich um Zustimmung zur Überweisung des Gesetzentwurfes an den Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Budde, SPD)

Danke schön, Herr Abgeordneter Borgwardt. - Wir treten in die Aussprache ein. Für die Landesregierung spricht Ministerin Frau Professor Dr. Kolb.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Die friedliche Revolution vor 26 Jahren zwang den SED-Machtapparat in die Knie. Die Bestrafung der Täter und die Rehabilitierung der Opfer gehörten von Anfang an zu dem wichtigsten Forderungskatalog der Demonstranten. Die letzte und erste frei gewählte Volkskammer stellte dafür die Weichen. Sie beschloss die Öffnung der Stasi-Akten und ein Rehabilitierungsgesetz. Heute, mehr als 26 Jahre später, können wir feststellen, dass wir mit der Aufarbeitung ein ganzes Stück vorangekommen sind. Wir sind aber noch nicht in allen Bereichen dort, wo wir sein möchten.

Tausende sind entschädigt worden. Millionen haben mittlerweile wahrscheinlich Einsicht in ihre Stasi-Unterlagen beantragt und schon genommen. Gedenkstätten haben informiert und auch dieses

Hohe Haus hat sich mit einer Vielzahl von Veranstaltungen in diese Debatte eingebracht und an ganz vielen Stellen die Aufarbeitung tatsächlich gefördert.

Wir haben festgestellt, dass gerade in jüngster Zeit die Nachfrage nach Bildungsangeboten und zeitgeschichtlicher Forschung im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Auftrag der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die ich hier ganz herzlich begrüßen möchte, wächst.

Wir haben bei verschiedenen Themen festgestellt, dass es bei einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema im Ergebnis mehr Fragen gibt, als wir heute schon Antworten kennen.

Herr Abgeordneter Borgwardt hat bereits auf die venerologische Station hingewiesen, mit der wir uns sehr intensiv beschäftigt haben.

Wir haben heute schon einen Katalog an Diskussionsthemen im Rechtsausschuss. Das betrifft die Frage der Jugendwerkhöfe. Waren das tatsächlich wirklich alles Jugendliche, die Straftaten begangen haben, oder hat man die Jugendwerkhöfe in gewisser Weise zur Erziehung im Sinne dieses Regimes genutzt?

Es gibt ein sehr heikles Thema, was die Frage betrifft, inwieweit Medikamentenversuche in Krankenhäusern stattgefunden haben. Auch hierbei stehen wir ganz am Anfang, weil es unwahrscheinlich schwer ist, Zugang zu Unterlagen zu finden.

Insoweit kann man heute, an dieser Stelle nur feststellen, dass die Aufarbeitung von SED-Unrecht weit über die Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen hinausgeht. Insoweit ist es konsequent, dass wir heute in diesem Hohen Haus darüber debattieren, wie wir die strukturellen Bedingungen so gestalten können, dass es in Zukunft noch besser möglich ist, die DDR-Geschichte in all ihren Facetten und in ihrem Gesamtzusammenhang zu analysieren und immer wieder Unterschiede zu einem Rechtsstaat herauszuarbeiten. Selbst wenn es die Stasi nicht gegeben hätte, wäre die DDR kein Rechtsstaat gewesen.

Es gibt eine Vielzahl von Fragen, über die im Rahmen des Gesetzentwurfes diskutiert und die beantwortet werden können, beispielsweise ob Beratung und Betreuung von politisch Verfolgten auch dann möglich ist, wenn diese Verfolgung schon in die Zeit vor 1950 fällt.

Die Frage der psychosozialen Betreuung hat Herr Borgwardt schon angesprochen.

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich für die sehr intensive Zusammenarbeit bedanken. Dieser Gesetzentwurf hat tatsächlich eine lange Vorgeschichte, die in der wirklich vorbildlichen Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen und meinem Haus besteht.

Es hat eine umfangreiche Anhörung aller, die mit diesem Thema befasst sind, stattgefunden. Wir haben uns über die zu beantwortenden Fragen intensiv verständigt und sind uns auch einig darüber, dass wir den bestehenden Strukturen, wie der Landeszentrale für politische Bildung und der Gedenkstättenstiftung Sachsen-Anhalt, mit dem Gesetz keine Konkurrenz machen wollen, sondern dass es darum geht, in Zukunft eine engere Zusammenarbeit zu pflegen, aber auch die jeweilige Spezifik und den besonderen Auftrag herauszustellen.

An einer Stelle muss ich Sie, Herr Borgwardt, korrigieren. Mir obliegt nur die Dienstaufsicht über Frau Neumann-Becker, nicht die Fachaufsicht. Sie ist fachlich unabhängig. Aber Sie haben natürlich Recht: Fachliche Unabhängigkeit verträgt sich nur schwer mit der Anbindung an die Exekutive. Ich kann Ihnen versichern, dass ich Frau NeumannBecker auch in der Vergangenheit nie in die Aufgabenerfüllung hineingeredet habe; im Gegenteil, wir pflegen einen sehr intensiven Austausch und versuchen, gemeinsam herauszufinden, wie wir an bestimmte Themen am besten herangehen können.

Ich finde auch die Anbindung an den Landtag dem Thema angemessen. Unabhängigkeit bedeutet auch, dass ich eine Unabhängigkeit im Hinblick auf die strukturelle Anbindung gewährleisten sein muss.

In diesem Sinne möchte ich zusammenfassen: Wir brauchen nach wie vor die Aufarbeitung nicht nur der Stasi-Unterlagen, sondern wir brauchen eine umfassende Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Deshalb spreche auch ich mich an dieser Stelle für eine Landesbeauftragte mit einem erweiterten Beratungs- und Bildungsauftrag aus. Diesbezüglich ist es nur konsequent, wenn das auch in der Bezeichnung der Behörde seinen Ausdruck findet.

Ich freue mich auf konstruktive Diskussionen im Ausschuss und denke, dass wir eine gute Lösung für die weitere Aufarbeitung des DDR-Unrechts finden werden. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Danke schön, Frau Ministerin. - Wir können heute weitere Gäste im Haus willkommen heißen. Es sind Seniorinnen und Senioren der Feuerwehr aus Drübek/Darlingerode. Herzlich willkommen im Landtag von Sachsen-Anhalt!

(Beifall im ganzen Hause)

Als Nächste spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Abgeordnete Quade.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sich mit der Zukunft des Amtes der Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes auseinanderzusetzen, heißt, zwei grundlegende Fragen zu beantworten: zum einen die Frage, ob es 25 Jahre nach der Wiedervereinigung die historische und politische Aufarbeitung der DDR und die anlaufenden Beratungsstellen für Opfer und Betroffene noch braucht, und zum anderen die Frage, wie es sie braucht.

Bei der ersten Frage fällt es mir nicht schwer, diese mit einem klaren Ja zu beantworten. Bei der Frage des Wie wird es naturgemäß schwieriger und differenzierter. Wir begrüßen es ausdrücklich, sich der Aufarbeitung der DDR nicht nur mit Fokus auf die Rolle der Stasi und über die Stasi-Unterlagen zu nähern, sondern hier einen deutlich weiteren und umfassenderen Ansatz zu wählen.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn die DDR war weit mehr als die Stasi, und Aufarbeitung zu fördern und zu betreiben, heißt, die Rolle der Massenorganisation der DDR in den Fokus zu nehmen, allen voran die SED, heißt, in den Blick zu nehmen, welche Wirkungszusammenhänge es gab, heißt zu analysieren, heißt, gesellschaftliche Entwicklungen in der DDR zu untersuchen, um zu umfassenden Bildern zu kommen. Nur so kann man dem Ziel der politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung näherkommen. Das halte ich für eine wesentliche Voraussetzung, um Opfern tatsächlich umfassende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen;

(Beifall bei der LINKEN)

denn zu Gerechtigkeit gehört weit mehr als politische Rehabilitierung und gehört auch weit mehr als individuelle Entschädigung. Es gilt auch, Konsequenzen aus der Aufarbeitung der Vergangenheit zu ziehen, und zwar nicht nur in der Frage der Beurteilung der DDR, sondern auch für das Hier und Heute.