Protocol of the Session on June 4, 2015

Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen!

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Hiermit eröffne ich die 90. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode. Dazu möchte ich alle Mitglieder des Hohen Hauses auf das Herzlichste begrüßen, ebenso Gäste auf der Besuchertribüne.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung: Mit Schreiben vom 27. Mai 2015 bat die Landesregierung, für die 44. Sitzungsperiode folgende Mitglieder zu entschuldigen. Herr Minister Bullerjahn und Herr Staatsminister Robra entschuldigen sich für Freitag ganztägig wegen der Teilnahme an der gemeinsamen Konferenz der Finanzministerinnen und Finanzminister und der Chefs der Staats- und Senatskanzleien der ostdeutschen Länder zur Positionierung der ostdeutschen Länder zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen in Potsdam.

Ihnen liegt die Tagesordnung für die 44. Sitzungsperiode vor. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat fristgemäß ein Thema für die Aktuelle Debatte eingereicht, das unter Tagesordnungspunkt 27 in die Tagesordnung aufgenommen wurde und gemäß einer Übereinkunft im Ältestenrat am Freitag als zweiter Tagesordnungspunkt behandelt werden soll. Hierzu schlagen die parlamentarischen Geschäftsführer die Rednerreihenfolge GRÜNE, SPD, DIE LINKE und CDU vor. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann wird das so abgearbeitet.

Mir wurde außerdem signalisiert, dass es eventuell noch eine Verschiebung von Tagesordnungspunkten geben soll. - Kollege Henke.

Herr Präsident, die Fraktionen haben sich verständigt, den Tagesordnungspunkt 24, die Ergebnisse der europäischen Hochschulreform - Bolognaprozess -, als letzten Tagesordnungspunkt des heutigen Tages aufzurufen.

Gut. Der Tagesordnungspunkt wird als letzter Punkt am heutigen Tag behandelt. Ich halte fest, die Fraktionen haben sich einvernehmlich darauf verständigt, den Tagesordnungspunkt 24, der auf der ausgedruckten Fassung des Sitzungsplans für morgen vorgesehen ist, bereits heute als letzten Tagesordnungspunkt abzuarbeiten. - Das haben

alle aufgenommen und, ich nehme an, auch so verstanden. Dann wird so verfahren.

Gibt es weitere Anmerkungen zur Tagesordnung? - Das ist nicht der Fall. Dann kann die Tagesordnung mit dieser einen Änderung die Grundlage der Sitzungsperiode sein.

Am heutigen Abend findet im Saal des Theaters „Grüne Zitadelle Magdeburg“ eine parlamentarische Begegnung statt mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen Sachsen-Anhalt e. V. Dazu sind alle Abgeordneten herzlich eingeladen, um zu der Thematik in vertiefte Gespräche einzutreten.

Morgen beginnt die Sitzung um 9 Uhr.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Beratung

Wahl einer Schriftführerin gemäß § 7 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Landtages (GO.LT)

Wahlvorschlag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 6/4086

Wir haben als Erstes über den Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu befinden, nach dem statt des Abgeordneten Herrn Herbst nunmehr Frau Abgeordnete Wicke-Scheil das Amt der Schriftführerin ausüben soll.

Entsprechend der bisherigen Übung gehe ich davon aus, dass die Wahl durch Handzeichen erfolgen kann. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann machen wir das so. Wer dem Wahlvorschlag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ich sehe keine. Stimmenthaltungen? - Auch nicht. Dann haben wir eine neue Schriftführerin gewählt. Frau Wicke-Scheil, willkommen in dem Amt!

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:

Erste Beratung

Integration von Flüchtlingen durch konkrete Maßnahmen verbessern

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 6/4090

Für die Einbringerin hat der Abgeordnete Herr Herbst das Wort. Zuvor dürfen wir schon Gäste im Haus begrüßen: Schülerinnen und Schüler des Schiller-Gymnasiums aus Calbe (Saale). Herzlich willkommen im Haus!

(Beifall im ganzen Hause)

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Im Jahr 2012, also vor nunmehr drei Jahren, kam ein junger Mann zu mir ins Wahlkreisbüro und erzählte mir seine Geschichte, eine Geschichte von Krieg und Flucht aus einer Krisenregion am äußersten Rand Europas, Dagestan, „das Bergland“ genannt, das im Strudel des Tschetschenienkrieges bis heute von bewaffneten Konflikten, Terroranschlägen und Entführungen erschüttert wird. Sicherheit gibt es in diesem Land nicht. Die muslimische Minderheit sieht sich unkalkulierbaren Verfolgungen ausgesetzt.

Aus diesem Chaos und vor der drohenden Zwangseinziehung durch lokale Warlords hatten sich Jahja und sein Vater nach Deutschland durchgeschlagen. Seitdem lebte Jahja in Zeitz in einem heruntergekommenen Flüchtlingsheim voller Kakerlaken und danach in Magdeburg.

Über einen ungewöhnlich langen Zeitraum war er hier im Kirchenasyl untergebracht. Er lernte dort selbst, ohne Deutschkurs, in schneller Zeit Deutsch und spricht heute besser Deutsch als manche seiner Altersgenossen aus Deutschland. Das wird doch immer gefordert, dachte sich Jahja, und außerdem wollte er verstehen und mitreden können.

Genutzt haben Jahja seine Deutschkenntnisse ganz sicher, doch nicht unbedingt im Kontakt mit den Behörden, weil sich dort niemand dafür interessierte. Im Jahr 2012 war er 21 Jahre alt und wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Hauptschulabschluss nachholen zu können. Wegen seines Alters war dies in Deutschland nur an einer Berufsschule möglich. Jahja stellte sich bei einer Berufsschule vor, hier in Magdeburg, und der Direktor sagte: „Den nehmen wir gern.“ Aber trotz Zusagen der zuständigen Ausländerbehörde und des Landesschulamts war es seit mehr als drei Jahren bis heute nicht möglich, den jungen Mann in den Schulbetrieb aufzunehmen.

Dabei gibt es keinen Rechtsgrund, der seine Aufnahme verwehrt; allein: Keine der zuständigen Behörden wollte eine verantwortliche Entscheidung treffen. Heute ist Jahja drei Jahre älter. Er ist verheiratet und erwartet mit seiner Frau ein Kind. Aber seinen Berufsschulabschluss durfte er immer noch nicht machen.

Meine Damen und Herren! „Verschwende deine Jugend“ heißt ein Roman aus der Jahrtausendwende über deutschen Punk und New Wave. Jahja hat nie eine Jugend gehabt, die er für etwas, das Spaß macht, hätte verschwenden können. Seine Jugend wurde verschwendet, erst durch Warlords und dann durch die deutsche Bürokratie. Das ist unverantwortlich, meine Damen und Herren!

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neulich war das Begegnungsfest der Polizei im Familienhaus in Magdeburg - wie Sie wissen, eine Reaktion der Polizei auf die Ereignisse im Jahr 1994, bei der Rechtsextreme stundenlang weitgehend ungehindert Jagd auf Schwarzafrikaner in der Magdeburger Innenstadt machen konnten.

Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass es dieses Begegnungsfest gibt. Dort traf ich Jahja und einen Kumpel, vor dem Gelände des Familienhauses herumstehend. Dann kam es zu einer denkwürdigen Begegnung, die fast etwas Komisches hatte, wenn ihr nicht so viel Tragik innewohnen würde. Ein leitender Polizeibeamter kam vom Begegnungsfest heraus aus dem Gelände auf mich zu, begrüßte mich, und als er Jahja neben mir stehen sah, von ihm Notiz nahm, sagte er zu ihm direkt - das stimmt wirklich; das ist eine wahre Begebenheit wie diese Biografie -: „Na, junger Mann, so was wie Sie können wir gut gebrauchen bei uns, bei der Polizei. Hätten Sie nicht Lust, Polizist im Land Sachsen-Anhalt zu werden.“ Jahja schaute etwas verdattert und sagte dann etwas kleinlaut: „Ja, na klar.“ Dann hat ihm der leitende Beamte aus der PD Nord seine Visitenkarte gegeben. - Eigentlich schön, möchte man meinen. Herzlich willkommen, würde man gern sagen, in der Landespolizei in Sachsen-Anhalt. Aber es geht eben nicht.

Diese Situation, meine Damen und Herren, und das ganze Leben Jahjas in Deutschland - deswegen erzähle ich es Ihnen in Kürze - zeigen exemplarisch, welcher krasse Widerspruch zwischen den offiziellen Zielen und Verlautbarungen der Integrationspolitik und deren praktischer Ausgestaltung in Deutschland und in Sachsen-Anhalt liegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Eigeninitiative wie die dieses jungen Mannes wird oft nicht anerkannt. Behörden geben sich oft gleichgültig, obwohl ihnen die Gesetze Spielraum geben, etwas für die Betroffenen zu tun. Der Staat will einerseits mehr Migrantinnen und Migranten einbinden und gibt sich integrationswillig, scheitert dann aber immer wieder an sich selbst. Das ist nicht nur eine Frage der Gesetze, sondern auch eine Einstellungsfrage.

Diese Entwicklung hat nichts mit der aktuell verdreifachten Zahl an Erstantragstellungen in

Deutschland und auch hier in Sachsen-Anhalt zu tun. Vielmehr handelt es sich um strukturelle, schon seit Langem bestehende Integrationshemmnisse, die unabhängig von der Zahl der Betroffenen auftreten und die seit Langem für Tausende gelten, auch für Tausende sogenannter Geduldeter hier bei uns im Land Sachsen-Anhalt. Es sind um die 10 000, die bei uns leben. Sie treten nur jetzt besonders drastisch zutage, weil es immer

mehr werden und sich Antragszahlen mittlerweile verdreifacht haben.

Sie, Herr Minister Stahlknecht, können sich dieses Falls gern annehmen. Gehen Sie auf Ihren Mitarbeiter zu, gehen Sie auf den jungen Mann zu und gewinnen Sie einen hoch motivierten, klugen jungen Mann mit Migrationshintergrund für unsere Landespolizei. Ich würde es mir sehr wünschen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In einem Interview am Dienstag sagten Sie, Herr Minister, einen sehr richtigen und wichtigen Satz: Für eine echte Willkommenskultur braucht es auch eine Ankommenskultur. Diesbezüglich haben Sie Recht, Herr Minister Stahlknecht. Damit sind wir hier ganz bei Ihnen, und damit übernehmen Sie sogar eine bündnisgrüne Forderung dieser Fraktion im Wortlaut; nur müssen Sie sich auch endlich an Taten messen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Relativieren Sie Ihre Worte nicht gleich wieder im nächsten Satz, wenn Sie sagen: Wir müssen zwischen Arbeitszuwanderung und Geflüchteten unterscheiden. Nein, dieses Beispiel, das ich Ihnen gerade aufgezeigt habe, zeigt doch, dass beides zusammengehört und wir es künftig in unserem Land zusammen behandeln müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Lassen Sie, Herr Minister, Ihren Worten bitte die richtigen Entscheidungen folgen. Die Fehler der Vergangenheit sind immer noch die Fehler der Gegenwart. Sie dürfen sich nicht wiederholen. Dreimal so viele Anträge sind eine Verpflichtung für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es nicht zu einer Verdreifachung der verschwendeten Jugenden in unserem Land kommt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit diesem Anliegen befasst sich auch unser vorliegender Antrag „Integration von Flüchtlingen durch konkrete Maßnahmen verbessern“ in fünf Punkten. Wir sprechen heute nicht über die Veränderung von Gesetzen, die wir in Zukunft neu ausgestalten müssen, um die Rahmenbedingungen für die Integration zu verbessern, sondern wir sprechen über fünf Punkte, die in der Praxis immer wieder Hemmschuhe für die Betroffenen darstellen, die der Integration im Wege stehen und die wir sofort durch entsprechende Maßnahmen verändern können, ohne neue Gesetzespakete schnüren zu müssen. Es sind fünf Maßnahmen, die nach Meinung unserer Fraktion für eine Ankommenskultur in Sachsen-Anhalt unerlässlich sind.

Zunächst wollen wir die Landesregierung bitten, bei der Erhebung von schulischen, beruflichen und